FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Reiseblatt DONNERSTAG, 20.FEBRUAR2020·NR.43·SEITE R3
G
eschwindigkeit und Effi-
zienz sind das Geheimnis
des Aufstiegs Asiens zum
prägenden Kontinent des
einundzwanzigstenJahrhun-
derts“, sagt UrsKessler ,Direktor der
Jungfraubahn Aktiengesellschaft. Er
habe dieses Prinzip schonvormehr als
dreißig Jahren bei seinen ersten Marke-
tingmissionen imFernen Ostenimmer
wiedergehörtund überlegt, wie man es
auf seinUnternehmen,das die Bergbah-
nen zwischen Lauterbrunnen, Grindel-
waldunddemJungfraujochbetreibt,über-
tragenkönne. Die Lösung, die erfand
und die er als „Generationenprojekt“ be-
zeichnet, will er am 11. Dezember 2020
mit der Eröffnung einer gigantischen,
mehr als sechs Kilometerlangen Dreiseil-
umlaufbahnvomGrindelwalder Ortsteil
Grund zum Eigergletscher vollenden.
Es is tein Projekt, das in seiner Dimen-
sion vielleicht nur hier im Berner Ober-
land einVorbild hat:Zusammen mit der
schon zu dieserWintersaison eröffneten
Zehnergondelbahn auf den zwischen
Grindelwald und Wengen aufragenden
Männlichen, die an derselbenTalstation
startet, bildetdie Bahn unter der Eiger-
nordwand einV. Die Gesamtkostender
V-Bahn betragen nichtweniger als 470
MillionenSchweizerFranken.Niemalszu-
vorhat jemand in den Alpen so viel Geld
füreinBergbahnprojekt aufgewendet. Ne-
benbei wirddie Bahn zum Eigergletscher
die längste in einer Sektiongeführte Um-
laufbahn desKontinents sein–wieder
ein Europarekordalso, und einen solchen
stellteauch1912 die Bahn zum Jungfrau-
jochmit ihrer Bahnsteighöhevon3454
Meternauf. Steinig warder Wegfür beide
Jahrhundertprojekte.
Für die Vision des Großindustriellen
Adolf Guyer-Zellergalt das nicht nur im
sprichwörtlichen Sinne: In sechzehn mü-
hevollen Jahren mussten die meistitalie-
nischen Arbeiter einen 7,3 Kilometerlan-
genTunnel in das harte Urgestein vonEi-
gerund Mönchtreiben. Guyer-Zellerwar
die Idee zum Bau der Bahn am 27.August
1893 während einer Wanderung vom
SchilthornnachMürrengekommen, als
er jenseits des Lauterbrunnentals die
Zügeder kurz zuvor eröffnetenBahn zur
Kleinen Scheideggfahren sah. In der
Nach tfertigt eerauf einem BlattPapier
eineSkizze an, die heuteinÜbergröße als
ReliefdenBodenine inerderBesucherga-
lerien am Jungfraujochziert.
Guyer-ZellersPlan sah eine Bahn bis
zum Gipfel der 4158 Meterhohen Jung-
frau vor. Die größteHerausforderung für
die Konzessionwarder Nach weis der Un-
bedenklichkeit desTransportsvonMen-
schen in sogroße Höhen. Daranwaren
schon drei Vorgängerprojektegeschei-
tert.Also ließ Guyer-Zeller siebenVer-
suchspersonenimAlter vonzehnbissieb-
zig JahrenvonTrägern auf das 3750 Me-
terhochgelegene Breithornplateau bei
Zermatt schaffen, und als die allegesund
und munter wiedervom Berghinunterka-
men, gabder Bundesratgrünes Licht für
den Bau.WegenGuyer-ZellersTod nur
dreiJahrenachBaubeginnundwiederhol-
tenfinanziellen Engpässen seiner den
Bau fortführenden Erben wurde die Bahn
nur bis zum Jungfraujochrealisiert.VonGenehmigungen, für die es nur ei-
nerBergexkursionbedarf,kannUrsKess-
ler nur träumen.Während die bereits zur
aktuellen Saison eröffnete Männlichen-
bahn lediglicheine alt eBahn aufgleicher
Trasse ersetzt hat,stellt der zweiteSchen-
keldes Veine Neuerschließung dar–und
damitfingendie Problemean.DerVorläu-
ferdes aktuellenVorhabens, das 2010
vonKessler vorgestellteY,das denBauei-
ner Verbindung zum Eigergletscher von
der Mittelstation der Männlichenbahnin
Holenstein vorsah, warnur ein Jahr spä-
terals nicht durchsetzbarvomTisch. Zu
starkwäreder Eingriff in dieLandschaft
gewesen.Natürlic hmischt esichindie Kri-
tik auchdie Frage, ob eine solchenorme
Investition in denWintersportangesichts
des Klimawandels nochzeitgemäßwäre.
Die Grindelwalder bekommen den
nämlichdrastisc her vorAugen geführtals
die meistenanderen Mitteleuropäer.Bis
1914 lebteman hier neben der Landwirt-
schaf tvom Eisexport. Die aus derZunge
des UnterenGrindelwaldgletschersher-
ausgeschlagenen Blöcke wurden bis nach
Paristransportiert, um dortdie Lebens-
mittelfeiner Herrschaftenzukühlen. Da-
mals flossder Gletscher bis an den Dorf-
rand, verladen wurde das Eis nahe dem
HotelGlacier,das seinenNamen dem
scheinbarewigen Eisverdankt, früher die
Fuhrleutebeherbergteund seitkurz em in
neuem Glanz als Boutique-Hoteler-
strahlt.Der Glanz des Gletschershinge-
genist in seinen Fluren nur nochauf al-
tenFotografien zu bewundern. Du rchdie
Fenstersieht man ihn nicht, denn seine
Stirnhat sic hmehr als sechs Kilometer
ins Gebirge zurückgezogen.Werwürde
angesichts solchdramatischer Verände-
rungen nicht skeptischwerd en?
Die Zeiten, in denen visionäre Groß-
projektebejubeltwurden,sindebenziem-
lich genau so langevorbei,wie Zahnrad-
bahnen auf das Jungfraujochverkehren.
Die Titanic und mit ihr der uneinge-
schränkteGlaube an dentechnischen
Fortschritt sank zweiundfünfzig Tage
nachdem Durchbruc hamJungfraujoch,
den die „Neue Zürcher Zeitung“ nochmitden Worten feierte:„Ein grossartiges
Werk,ein Triumph moderner Ingenieur-
kunst, erhielt mit dem 21.Februar 1912
seine Weihe. Um 5Uhr 35 Minuteninder
Morgenfrühe krachteder entscheidende
Schuss. Der Jubelruf ‚Durch‘widerhallte
an den mächtigen Wänden, und in tiefer
Ergriffenheit sanken dieKameraden sich
in die Arme.“
Kessler gelang der ersteentscheidende
Durchbruc ham21. Oktober 2015. Die
BergschaftWärgistal,einedersieben,seit
1538 bestehendenAlpgenossenschaften,
stimmtemit der benötigten Zweidrittel-mehrheitderStimmenund derKuhrechte
für das Projekt, nachdem sie es ein Jahr
zuvor nochabgelehnt hatte. Damit hatten
sämtliche Grundeigentümergrünes Licht
gegeben, und das Plangenehmigungsver-
fahren konntestarten. Dafür wurde es
auchhöchsteZeit,denndieBetriebsbewil-
ligungderMännlichenbahn,desHauptzu-
bringersaus Grindelwald in das Skigebiet
zu Füßen der Eigernordwand, lief im
Frühjahr 2018 aus.
DieNotwendigkeit,dieseBahnzuerset-
zen, wardaher unstrittig.Zudem warsie
mehr undmehr zum Ärgernis für die Gäs-te geworden. Ausihrer Förderleistung
vonstündlichlediglichneunhundertPer-
sonenresultiertenWartezeitenvon bis zu
zwei Stunden.Auch die dreißigminütige,
wenig komfor table Fahrtinengen Vierer-
kabinensorgtedafür,dasssichauf denPis-
tenrund um die legendäreAbfahrtsstre-
ckevom Lauberhorn, die ein Schweizer
Nationalheiligtum istund zumWeltcup-
rennenMitteJanuarregelmäßigZehntau-
sendeFans in ihren Bann schlägt, zuletzt
nur nochdreiViertelder Skifahrer tum-
melten, die dortnochvor zehn Jahren
Schwünge aufden SpurenderAbfahrtshe-
roen Sailer,Schranz, Klammer, Wasmei-
er,Miller oderFeuz in den Schnee zogen.W
er es einmal auf den
Bergschaffte, konnte
sichimmerhin am positi-
venNeben effekt dieser
Entwicklung erfreuen:
viel Platz auf den Pisten und eine dadurch
verminderteKollisionsgefahr für denFall,
dassdieAufmer ksamkeitderWintersport-
lervondergewaltigen WanddesEigersbe-
ansprucht wurde,vomSpaltengewirrder
vonden ViertausendernMönchund Jung-
frau hinabhängenden Gletscher,den ka-
thedralengleichaufstrebendenFelsbastio-
nen wie demWetterhornoder denmysti-
schenTiefen des Lauterbrunnentals, das
J. R. R.Tolkien zur literarischen Schaf-
fung Bruchtals inspirierte.Deutlichleerer
istesindesseitderFinanzkriseundderda-
mit verbundenenAufwertung desFran-
kenauchinbequemer zugänglichen, ei-
gentlich allen Schweizer Skigebietenge-
worden: Die Schweiz hat seither dreißig
Prozent ihrer Skifahrertage verloren, das
entspricht acht MillionenTageskarten.
Die Freude darüber,dasssein Skigebiet
jedem Gastdoppeltsoviel Pis tenfläche
bietet wiemanch populäres Arealimöstli-
chen Nach barland, istbei UrsKessler aus
nachvollziehbaren Gründengetrübt:„Im
Wintersportbetrieb machen wirVerlus-
te“, räumt der Manager freimütigein. Hat
es da überhauptSinn, dem schlechten
Geld gutes hinterherzuwerfen? Leistenkann sic hdie Jungfraubahn dieV-Bahn
nämlichnur,weil sie mit den mehr als
eine Millionvorwiegend asiatischenTou-
risten, die sie proJahr zumTopofEurope
fährt, schwindelerregend viel Geldver-
dient.Die Skifahrer tragen nur noch13,8
Prozent zumUmsatz bei, früherwarenes
einmal dreißig.
Kessler sprichtvoneiner Vorwärts stra-
tegie, davon, das snicht derWintersport,
sonderndas Skigebietrund um Männli-
chen und Kleine Scheideggnicht mehr
zeitgemäß sei, dassdas SnowBusiness
ein reiner Verdrängungsmarkt sei und
man dieses nur wirtschaftlichbetreiben
könne, wenn man zu den Bestengehöre–
waseben einfachnicht mehr derFall sei.
Mit derV-Bahn soll sichdas ändern.Für
ihnwar sie vonAnfang an Ergebnis eines
Blickesaus derVogelperspektive, aus ei-
ner Sichtweise, die dieRegion im Ganzen
zeigtundetwa sentstehenlässt,wovonsie
als Ganzes profitiert, „statt aus der
Froschperspektiveetwas zu machen,was
nur unseremUnternehmen nutzt“.Über
die Vogelperspektivekam ihm übrigens
die Idee mit demAdler als emotionalem
Element der Eröffnungszeremonie.
Ihm persönlichbrachte das Einstehen
für dieV-Bahn mehr Belastung alsNut-
zen. Kurz nachEröffnung des Genehmi-
gungsverfahrens hatten Gegner des Pro-
jekts siebzehn offizielle Einsprachenvor-
gebracht.Mehr als hundertAbendever-
brachteKessler in der zweiten Hälfte des
Jahres 2016 in Grindelwald, um dortbei
den EinwendernÜberzeugungsarbeit zu
leis ten. DerWiderstandgegendasVreich-
te über die üblichenVerfahrenswegeje-
dochweit hinaus. Die Anfeindungen gin-
genbis hin zu Morddrohungen gegen
Kessler,weshalb man heute nicht mehr
wie früher einfachdurch st etsoffene Tü-
reninsein BüroimVerwaltungsgebäude
in Interlakengelangenkann.
Sein offenes Wesen hat sichKessler,
der seit dreiunddreißig Jahren imUnter-
nehmen arbeitet und ihm seit 2008vor-
steht, trotzdem bewahrt, und so gibt er
Einblickindie wohl schwierigste Phase
seinerKarriere. Die Kritik,dasseine un-
terhalb der Eigernordwand entlangfüh-
rende Seilbahn das Bild einer Ikone des
Alpinismuswennnicht zerstören,so doch
mindestens beeinträchtigenkönnte, war
fürKessler nachvollziehbar.Erstelltedie-
semEinwandstetsdieBedeutungdesPro-
jekts für denFremdenverkehr und damit
für denWohlstand derRegion gegenüber,
denn neunvonzehn Grindelwaldernle-
ben direkt oder indirektvomTourismus.
Die Vorteile, die mit demVfür die Gäs-
te verbundenwären, würden sie dazu be-
wegen, häufiger zukommen und länger zu
bleiben:keine Wartezeiten mehr am Mor-
gen, da mit derV-Bahn vonGrindelwald
aus zweieinhalbmal so viele Skifahrer wie
bisher proStunde bergwärts liftenkön-
nen;eineAufwertung der wundervoll pro-
filiertenund enormlangen, aber bisher
kaum genutztenTalabfahrten; außerdem
dieverbesserteAnbindungandenöffentli-
chen Verkehr dank eines neuen,großzügi-
genTerminals im Ortsteil Grund. Hier
kann jetzt direktvomZug oder Skibus in
die Gondelbahnen umgestiegenwerden,
und es gibt allerlei Service für die Gäste
vomParkhaus bis zum Skidepot.Diegehetzt enGäste ausFerno stgewin-
nen mindestens eineStunde Aufenthalts-
zeit, da sie nicht diegesamteStrecke zum
Jungfraujochmit der Zahnradbahn zu-
rücklegen müssen, sonderndie Strecke
biszum Bahnhof Eigergletscher mit der
Gondelbahn abkürzenkönnen. Das gibt
ihnen die Chance, mehr Geld auszugeben
–zum Beispiel in den zahlreichen Ge-
schäf tendes flughafenähnlichenTermi-
nals, dessen Inneres Architekt Nilsvon
Allmen einer Gletscherspaltenachemp-
funden hat.Z
wischenzeitlichkonntedie
Betriebsbewilligungfür die
alter sschwa cheMännlichen-
bahn, für die eskeine Ersatz-
teile mehrgab, ein definitiv
letztes Mal bis zumFrühjahr 2019verlän-
gert werden. Trotzdem liefKessler lang-
sam dieZeit da von, seinVorstand wurde
nervös. Der Bau musste im Frühsommer
2018 starten, wollteman im Winter
2019/20 nicht ohne Männlichenbahnda-
stehen. Als schließlicham31. Mai die
Baubewilligungkam, wardie alles ent-
scheidendeFrage, ob dieUmweltverbän-
deauf eineKlagedagegen verzichtenwür-
den, wie im Gegenzug für zahlreicheAuf-
lagen beim Bau zugesichert. Am 8. Juni
waressoweit:Der letzteVerband unter-
zeichnete den Verzicht, dreiTage später
rollten die Bagger an.
Am 14. Dezember 2019beförde rten die
einhundertelf neuenZehnergondeln erst-
mals Gästezum Männlichen, in neunzehn
stattdreißigMinutenundübernurnoch33
statt 54Stützen. In den nochgeräumige-
ren, noc hschnelleren Gondeln der Bahn
zumEigergletscher werdendi eGäste kom-
mendenWinter auf beheizten Sitzen Platz
nehmenundinfünfzehnMinutendieBerg-
stationauf 2320Meter Höhe erreichen.
Passagier emit Skiern werd en hier in die
Bindungen springen und auf die so herr-
lichaussichtsreichenAbfahrtspistenaus-
schwärmen.Gäste ohneSkier werden auf
Rolltreppen hinunter zum Gleis derZahn-
radbahngleiten, um ihreBergfahrtbis
zum Jungfraujochfortzusetzen.
Derdortig eDurchbruc hmarkiertefür
Grindelwald eins tden Startschusszueiner
außer gewöhnlichentouristischen Erfolgs-
geschichte. Diedamaligen Baukostenvon
sechzehn MillionenFranken, in heutigen
Preisen ungefährdie halbeMilliar de,die
die V-Bahn verschlingen wird, hätte man
kaum besseranlegenkönnen. Derdauer-
hafteErfolgder V-Bahn wirdstark davon
abhängen,obdie Winter bleiben oder
nicht .Das Vist ambivalent: Der mitZeige-
undMittelfinger gezeigte Buchstabeist
WinstonChurchills Victory-Zei chen,wenn
die Handfläche nach außen zeigt.Zeigt der
Handrückennachaußen, heißt dasV„Geh
weg“. Nurwenn die SchweizerWinter der
nächsten zwei Dekaden dasbald auf den
GrindelwalderAlpenliegendeVnichtmi ss-
verstehen,wirdman Kessler vielleicht ein-
mal in einem Atemzug mit Guyer-Zeller
nennen.Zu gönnen wäre es ihm.Informationen: Tourismusbüroder Jungfrau-
region,Kammistraße 13,CH-3800 Interlaken,
Telefon: 00 41/33/5 21 43 43, http://www.jungfrauregi-
on.swiss.Sind wir die letzteGeneration, der ein solchesPanorama in den Alpenvergönnt ist?Noch zieht der Blickvom Jungfraujochüber den Großen Aletschgletscher Jahr für JahrAbertausendevonTouristen an. FotoChristoph SchraheWehe, der Winter
versteht die Zeichen
der Menschen falsch
Vwie Vorwärts: In Grindelwald im Berner Oberland entsteht
das größteBergbahnprojekt in der Geschichtedes alpinen
Tourismus–und eines der umstrittensten. VonChristoph Schrahe
GrindelwaldGrindelwald-
Wengen Grundzum SchilthornMürrenBERNER
OBERLANDSCHWEIZF.A.Z.-Karte lev.
3kmJungfrauLauter-
brunnen415 8 mMännlichen
2342 mLauberhorn
2472 mEiger
EigergletscherMännlichenEigergletscherMännlichenEigergletscherMännlichen3970 m
Mönch
4099 mProjektV-BahnSchwarzeLütschW
eißeLütschLüt
schBERNERAL
PE
NBernZürichZermattInterlaken
Grindelwald
Genfer See