Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

DIE ZEIT


WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


WIKILEAKS RECHTSEXTREMISTISCHE GEWALT

Assange darf nicht an die USA
ausgeliefert werden VON HOLGER STARK

Terror beginnt schon da, wo gehetzt, bedroht und verächtlich gemacht wird. Das Hanauer Attentat muss bei Politik,
Ermittlungsbehörden und Gesellschaft eine fundamentale Wende bewirken VON GIOVANNI DI LORENZO

Lebendig


begraben Bevor wieder Schüsse fallen


J


ulian Assange, einst verehrter Held des
digitalen Zeitalters, führt derzeit seinen
wichtigsten Kampf: dagegen, lebendig
begraben zu werden. Zuletzt hatte As sange
viele Sympathien verspielt. Seiner beißen-
den Kritik an den USA stand eine allzu anschmieg-
same Haltung zu Russland gegenüber. Seine
Vendetta mit Hillary Clinton wurde von einer
schummrigen Nähe zu Donald Trumps Umfeld
flankiert. Im US-Wahlkampf 2016 gab er seine
publizistische Unabhängigkeit auf, als er Trump
vorschlug, die australische Regierung solle ihn zum
neuen Botschafter in Washington ernennen. Und
seine Verachtung für traditionellen Journalismus
hat er kaum je kaschiert.
All das ist allerdings ganz und gar unerheb-
lich, wenn nun im Londoner Ma gis trate Court
über seine Auslieferung an die USA verhandelt
wird, als sei er ein Schwerverbrecher. Die US-
Staats anwäl te werfen dem Wiki Leaks- Grün der
Verschwörung und Spionage vor, weil er 2010
rund eine Dreiviertelmillion vertrauliche Doku-
mente der US-Regierung veröffentlicht hat (zu-
sammen mit diversen Journalisten, darunter der
Verfasser dieser Zeilen). Die Ankläger haben
dafür ein Anti- Spio nage- Ge setz hervorgekramt,
das im Ersten Weltkrieg erlassen wurde, um
feindliche Agenten jagen zu können. Schon der
Versuch, ihn als Spion abzustempeln, zeigt, wie
politisch vergiftet dieser Prozess ist.
Julian Assange hat einst die Machtfrage
gestellt. Die mächtigste Nation der Welt schlägt
nun, mit zehn Jahren Verzögerung, zurück. Ihre
Anklage enthält eine Botschaft von Rache und
Abschreckung: Rache an As sange, Abschreckung
von potenziellen Whistleblowern. Sie ist der
Versuch, im Zeitalter digitaler Groß leaks ein
Exempel zu statuieren.
Umso mehr muss die demokratische Öffent-
lichkeit As sange jetzt gegen die drohende Auslie-
ferung verteidigen. Denn wenn ein Publizist für
die Veröffentlichung von Regierungsdokumen-
ten, die dramatisches Fehlverhalten enthüllen, als
Spion verfolgt und mit 175 Jahren Haft bedroht
wird, dann ist nicht nur dessen Leben in Gefahr,
sondern auch die Architektur der amerikanischen
Demokratie. Vertrauliche Dokumente entgegen-
zunehmen, auszuwerten und zu publizieren zählt
zu den ureigensten Aufgaben von Me dien, die in
den USA ebenso wie in Deutschland als Korrek-
tiv der Mächtigen gedacht sind. Das mag unbe-
quem sein. Aber ein Verbrechen ist es nicht.

B


ei Redaktionsschluss stand noch nicht
fest, ob der Mann, der seinen Wagen in
eine Menschenmenge in Volkmarsen fuhr
und dabei offenbar einen besonderen
Vorsatz zeigte, Kinder zu treffen, ein
politisch motivierter Verbrecher ist. Klar ist, dass
sich in unserem Land Schleusen des Terrors geöffnet
haben. 182 Todesopfer rechtsextremistischer Gewalt
gab es allein zwischen 1990 und 2020 (Dossier S. 15).
Aber selten hat es eine solch geballte Abfolge von
Attentaten gegeben: Die Ermordung des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019
wurde dazu buchstäblich als Startschuss begriffen.
Es folgten die Anschläge in Halle und Hanau.
Die letzten Tage haben gezeigt: Die meisten
Menschen haben für den Nazi-Terror nur Abscheu
und Ekel übrig. Aber woher kommt er? Wo fängt
er an? Und was hilft dagegen? Entweder finden
Ermittlungsbehörden, Politik und Gesellschaft
jetzt darauf gemeinsame Antworten – oder der
Terror wird uns noch lange als Geisel halten.
Es ist allerdings zu leicht, unter Terror nur
diese rassistisch und anti semi tisch motivierten
Angriffe zu verstehen oder die schwer bewaffnete
und zum Bürgerkrieg bereite Neonazigruppe S.,
die jüngst ausgehoben wurde. Die Wahrheit ist,
dass wir seit Jahren mit einem ständig anschwel-
lenden Alltagsterror leben: Für die Betroffenen ist
es eine dauernde, oft ohnmächtig machende Pein.
Es fängt bei unfassbaren Beleidigungen in Mails
und sozialen Medien an. Es setzt sich fort in
Bedrohungen. Und es endet mit lebensgefährli-
chen Angriffen auf Kommunalpolitiker wie jenen
auf die parteilose Bürgermeisterin von Köln, Hen-
riette Reker, oder auf den CDU-Bürgermeister
von Altena, Andreas Hollstein. Jeder, der sich
heute auch nur im weitesten Sinne politisch so
exponiert, dass es Menschen mit rechtsradikaler
Gesinnung nicht gefällt, muss damit rechnen, zur
Zielscheibe zu werden. Es kann einen Feuerwehr-
mann treffen, Journalisten, die im Milieu recher-
chieren, Spitzenmanager oder Musiker. Es gibt
inzwischen unter prominenten Richtern und
sogar unter Klimaschützern Einzelne, die unter
Personenschutz stehen und dies auch noch geheim
halten müssen, um sich nicht zusätzlich zu gefähr-
den. All das ist Ausdruck von nacktem Terror.
Und bis vor Kurzem schien es so, als finde man
sich damit ab. Nun hat die Bundesregierung einen
Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Hasskriminali-
tät verabschiedet, endlich! Lange galten auch im
linken Milieu Beleidigungen aller Art eher als Aus-

druck von robuster Meinungsfreude, die man nur
im Ausnahmefall einschränken dürfe – ganz zu
schweigen von den Plattformen, die ihnen eine
Bühne bieten.
Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz
haben reichlich spät jeweils eine Personalauf-
stockung für den Kampf gegen Rechtsterrorismus
angekündigt. Aber zunächst einmal sind es Richter
und Staatsanwälte, die Verstärkung brauchen. Sie
sind zu wenige und bei der Bekämpfung von Hass-
kriminalität eher ungeübt. Ihre Kompetenz wird
jedoch dringend gebraucht, denn für die rechten
Hetzer und Gewaltbereiten ist nichts so abschre-
ckend wie eine entschlossene Verurteilung. Öster-
reich, das an Rechten und Rechtsradikalen wahr-
lich keinen Mangel hat, wird vom rechten Terro-
rismus weniger getroffen als Deutschland. Hier
hilft offenbar das 1992 aktualisierte sogenannte
Verbotsgesetz, das drakonisch hohe Haftstrafen bei
neonazistischen Umtrieben vorsieht. Wer sich zum
Beispiel der Brandlegung im »nationalsozialisti-
schen Sinn« schuldig macht, muss mit einer Haft-
strafe von bis zu 20 Jahren rechnen. Ob solches
Vorgehen auch Einstellungen verändert, ist zwei-
felhaft, aber Strafverfolgung ist immer noch besser
als die Freiheit zur Straftat.

Die Analogie zu Weimar ist oft falsch –
und doch gibt es eine berechtigte Warnung

Eine direkte Verbindung von einer am rechten
Rand agierenden Partei zum Terrorakt zu ziehen ist
dagegen schwer. Aus guten Gründen sollte man in
Demokratien damit auch vorsichtig sein. Dennoch
ist es richtig, wenn man die Waffe der Ächtung
wieder schärft. Wer Mi gran ten, Juden, Andersden-
kende, sexuelle Minderheiten herabsetzt oder
bedroht, stellt sich ins gesellschaftliche Abseits. In
diesem Sinne kann auch jeder Einzelne äußerst
wirksam tätig werden. Diese Form der Abwehr ver-
hindert das Entstehen einer entfesselten »Hetzmas-
se«, wie sie der Schriftsteller und Nobelpreisträger
Elias Canetti in seinem Werk Masse und Macht
beschrieb; sie erst entwickelt eine »Zerstörungs-
sucht«, die jedes zivile Zusammenleben vernichtet.
Erst recht muss die Ächtung gegenüber jenen
gelten, die sich als Politiker eines nationalsozialisti-
schen Vokabulars befleißigen. Wenn Thüringens
AfD-Chef Björn Höcke schreibt, Deutschland wer-
de zu seiner Erhaltung »nicht um eine Politik der
›wohltemperierten Grausamkeit‹ herumkommen«,
es werde »Volksteile« verlieren, »die zu schwach oder

nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrika-
nisierung, Orien ta li sie rung oder Islamisierung zu
widersetzen«, dann kann eine solche Dik tion einen
vermeintlichen Einzeltäter dazu animieren, sich als
kämpfende Avant garde des angeblich bedrohten
Volkes zu fühlen. Und wer wie die AfD zu schwach
oder nicht willens ist, sich von solchen Politikern
und ihrer fanatischen Gefolgschaft zu trennen, mit
dem darf es auch auf keiner politischen Ebene eine
Zusammenarbeit geben.
Oft ist in den letzten Monaten die Analogie zu
Weimar gezogen worden. Meistens war sie falsch.
Und doch gibt es eine Warnung, die berechtigt ist,
und zwar die vor dem Eindringen Rechtsradikaler
in Polizei, Bundeswehr und Justiz. Ausgerechnet
ein Polizist wurde zuletzt als Mitglied der Terror-
gruppe S. enttarnt. Hier darf es nicht die geringste
Toleranz geben. Gleichzeitig müsste die Arbeit der
Ordnungskräfte gegen Extremisten aller Art stär-
ker gewürdigt werden.
Besonders schwer zu beantworten ist die Fra-
ge, was dazu führt, dass es zu bestimmten Zeiten
mal linksextremistische, mal islamistische, mal
rechtsextremistische Terrorwellen gibt. Ob sie
Ausdruck eines subversiven Zeitgeistes sind oder
gerade das Gegenteil – die brutalstmögliche Pro-
vo ka tion wider den Zeitgeist. Und wahrscheinlich
findet sich da keine überzeugende Antwort. Neu
allerdings ist, dass jedem noch so verirrten Täter
eine perverse Form von Ruhm zuteilwird, durch
die er wiederum Vorbild für weitere Terroristen
sein kann – auch dank neuer und alter Medien.
Was also hilft?
Im Sommer 2005 starben in London 56 Men-
schen durch islamistische Bombenattentate. Die
Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit untersuchte, was danach
geschah: Zunächst kam es zu einer neuen Welle
von Hassverbrechen, dieses Mal gegen Muslime
und Einwanderer. Nachdem aber Spitzenpolitiker
wie Premier Tony Blair und die Re li gions füh rer
gemeinsam aufs Schärfste Po si tion bezogen hatten,
ging die Zahl der Vorfälle wieder zurück. Auch
dieses Beispiel lehrt, was jetzt in Deutschland so
wichtig wäre: dass der Kampf gegen den Terror als
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen wird,
zu der übrigens auch die Solidarität mit den Opfern
und die Aus ein an der set zung mit den Hinterbliebe-
nen gehören. Es ist Zeit für eine Wende.
Wann, wenn nicht jetzt?

A http://www.zeit.deeaudio

Titelfoto: Caimi & Piccinni für DIE ZEIT (Passantin in Rom, 25.

2.)

CDU


D a s Te a m


bin ich!


Zwei wollen alle


integrieren, einer will


vor allem führen, und


einer will der kopflosen


Partei endlich wieder


Orientierung geben:


Laschet, Spahn, Merz


und Röttgen treten an –


und ein bisschen nach
Politik, Seite 2 und 3

Frida, Silas, Maja und Jon, vier
Freunde in Bonn, hatten vor sieben
Jahren eine Flaschenpost in den
Rhein geworfen. Jetzt kam die Ant-
wort aus Auckland. Während die
Post in die Nordsee schwamm, in
den Atlantik und dann ums Kap
Hoorn herum bis nach Neuseeland
(oder gondelte sie durch den Pana-
makanal?), sind aus den Kindern
längst Teenager geworden. Gut
Ding will Weile haben. GRN.

G ute Wei le


PROMINENT IGNORIERT

Kl. Bilder: dpa; imago (o. v. l.); DAVIDS;
Shutterstock (u. v. l.); Shutterstock (u.)

Vorsicht – aber


keine Panik!


Weltweit lässt sich die Krankheit


kaum noch aufhalten, doch sie kann


eingedämmt werden. Dazu muss


jedes Land etwas beitragen – und


auch jeder Einzelne


WIRTSCHAFT UND WISSEN

CORONAVIRUS


PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00eFIN 8,00eE 6,80e
CAN 7,30eF 6,80eNL 6,00e
A 5,70eCH 7.90eI 6,80eGR 7,30e
B 6,00eP 7,10eL 6,00eH 2560,

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 e 32 80 - 0; E-Mail:
[email protected], [email protected]
ZEIT ONLINE GmbH: http://www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: http://www.jobs.zeit.de

ABONNENTENSERVICE:
Tel. 040 e 42 23 70 70 ,
Fax 040 e 42 23 70 90,
E-Mail: [email protected]


  1. JAHRGANG C 7451 C


N


o


10


4 190745 105507

10

PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 27. FEBRUAR 2020 No 10

Das neue Heft.
Jetzt gratis testen!
Weitere Informationen unter
http://www.zeit.de/leo

108120_ANZ_10812000021186_25937186_X4_ONP26 120.02.20 17:31 108120_ANZ_10812000021186_25937186_X4_ONP26 220.02.20 17:

Free download pdf