Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

IRGENDWAS IST JA IMMER


Das Alter habe zwei große Vorteile, spöttelte einst
der ebenfalls große irische Dramatiker und Satiriker
George Bernard Shaw: »Die Zähne tun nicht mehr
weh, und man hört nicht mehr all das dumme Zeug,
das ringsum gesagt wird.«
Zu dem dummen Zeug, das rings um Bernie San­
ders, Joe Biden und Michael Bloomberg gesagt wird,
gehört, dass man auf ihren Geburtstagstorten mittler­
weile Fackelzüge veranstalten müsste, damit jedem
Lebensjahr ein Lichtlein brenne. Biden ist 77, Bloom­
berg 78 und Sanders bis zur Wahl 79. Nun könnte
man, in leichter Abwandlung eines legendären Zitats

von Anthony Quinn, behaupten: Auch mit 80 kann
man noch 50 sein – aber nur noch eine halbe Stunde
am Tag. Doch dies würde den drei streitlustigen Alten
nicht gerecht, die sich gerade darum balgen, wer von
ihnen für die Demokraten bei der US­Präsidentschafts­
wahl im November den Jüngling Donald Trump –
gerade mal 73 – aus dem Amt pusten darf. Denn alle
drei sind nicht wirklich gealtert, sondern nur gereift.
Bloomberg zum Beispiel glaubte als Kind, Geld sei
das Wichtigste im Leben. Jetzt, da er längst Mil liar där
geworden ist und sich nun daranmacht, für etliche
seiner Millionen eine Präsidentschaft zu kaufen, weiß

er: Es stimmt. Biden, der als Barack Obamas Vize noch
so aussah, als halte er Kosmetik für ein geeignetes Mit­
tel, sein Geburtsjahr aufzuhübschen, orien tiert sich
mittlerweile an der Lebensklugheit eines Jack Nichol­
son: »Älter werden heißt auch besser werden.« Und
Bernie Sanders, der Weißhaar­Che­Guevara aus dem
grünen Vermont, strahlt in diesen Vorwahltagen ein
Selbstbewusstsein aus, als könne er die Intellektualität
eines der Gründerväter der Vereinigten Staaten, des
Schriftstellers, Verlegers und Staatsmanns Benjamin
Franklin, mit einem Schuss Chuzpe aufpimpen. Be­
reits Mitte des 18. Jahrhunderts wusste Franklin:

LIEBE


Gereift, nicht gealtert: Warum es ein Segen ist, dass gleich drei Senioren US­Präsident werden wollen VON PETER DAUSEND


Peter Dausend
ist Politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

Das ging aber daneben! Unser
Kolumnist Ulf Poschardt über
einen Twitter­Tiefpunkt der Woche

Terror, nicht nur widerwärtiger und scheuß­
licher Terror wie jener in Hanau, nötigt
Menschen, darauf zu reagieren. Die huma­
nistische Geste der Trauer und des Inne­
haltens hat es zunehmend schwer, weil
soziale Medien einen oft genug perversen
Wettlauf um die schnellste Instrumentalisie­
rung geschaffen haben. Das ist nicht nur zu
verurteilen, schließlich hilft es Menschen,
mit Katastrophen fertigzuwerden. Aber es ist
eine Gratwanderung. Man muss schon
Angst haben, dass im schlimmsten Fall aus
Terroropfern Argumente für die eigene
Weltanschauung werden – oder noch per­
verser: Munition zur Einschüchterung An­
dersdenkender.
Der Tweet des sympathischen, elegan­
ten Publizisten und Verlegers Jakob Aug­
stein benennt nicht nur vermeintlich
Schuldige, sondern er empfiehlt mit der
Formulierung »haben Namen und Adres­
se« seinen Freunden von der Antifa gerade­
zu einen Hausbesuch. Das ist ganz beson­
ders bizarr, wenn im selben Tweet über die
toxische Aufwiegelungskraft der »Worte«
räsoniert wird – und darüber, wie daraus
Taten werden.
Die innere Widersprüchlichkeit des
Tweets, das eher zynische Ausschlachten der
Morde von Hanau, ist das eine; sein Auslas­
sen des Linksterrorismus die nächste bemer­
kenswerte Nuancierung. Aber wahrschein­
lich ist Augstein als Salondenker so erfolg­
reich, weil ständige Konsistenz und Re fle­
xions fein heit seine Sache nicht sind. Zudem
verkörpert der Medienunternehmer Roland
Tichy auf rechter Seite das, was Jakob Aug­
stein links verkörpert: Beide interessieren
sich nur sporadisch für die politische Mitte
des Landes. Doch das hält eine Demokratie
aus. Ebenso einen Thilo Sarrazin oder eine
Sahra Wagenknecht. Noch. Aber der Schmelz
des liberaldemokratischen Mit ein an ders wird
dünner.
Zum Schluss ein heikles Thema. Dass
Augstein wie andere Vordenker des Juste­
milieu mit Henryk M. Broder einen jü­
dischen Autor derart prominent in die
Mitverantwortung für Rechtsterrorismus
zwingt, wirft viele Fragen auf. Besonders
viele bei einem Publizisten, der in seiner
»Israelkritik« häufig am Rande des »Das
werden wir Deutschen ja mal sagen dür­
fen« operiert. Aber ich bin nicht objektiv.
Henryk M. Broder ist mein wunderbarer,
streitbarer, polemischer Autor. Als jemand,
der weiß, wie sehr die Gewalt gegen Jour­
nalisten zunimmt, schreibe ich diese Ko­
lumne auch in tiefer Sorge: dass sich das
Land in eine Richtung bewegt, die in der
unseligsten Tradition der Deutschen steht.

VERTWITTERT

Kleingeister im Größenwahn


Der Aufbruch der EU scheitert in Brüssel gerade am Geld. Ein Wutausbruch VON ULRICH LADURNER


Erst angezählt, dann verzählt: Am Abend der Hamburg­Wahl hieß es noch, die FDP habe es knapp
in die Bürgerschaft geschafft. Ein Fehler! In einem Wahllokal waren Stimmen der Grünen und der
FDP verwechselt worden. Dass 22,4 Prozent für die Liberalen etwas viel waren, fiel letztlich doch auf

Foto: Daniel Reinhardt/dpa

@Augstein

Die Wegbereiter der Gewalt haben Namen
und Adresse: Sarrazin, Broder, Tichy und
andere, die die Verrohung des Diskurses
vorangetrieben haben. Zuerst kommen die
Worte, dann die Taten. Das ist bei den
Rechtsterroristen so wie bei den Islamisten.

getwittert am 20. Feb. 2020 um 17.24 Uhr

60
ZEILEN
...

R


Ulf Poschardt ist
Chefredakteur
der Welt­ Gruppe.
An dieser Stelle
schreibt er im
Wechsel mit
Anja Reschke, der
Moderatorin der
ARD­ Sendung
»Panorama«

Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit

»Mit 20 regiert der Wille, mit 30 der Verstand, mit 40
das Urteilsvermögen.« – »Und mit 80 ich«, mag Sanders
heute ahnen.
Die drei alten weißen Männer aus dem amerika­
nischen Osten geben jenen die Würde zurück, die zu­
letzt oft Zielscheibe von Hohn und Spott waren: den
alten weißen Männern überall auf der Welt. Dass am
Ende einer von ihnen und nicht der Jung spund Pete
Buttigieg, Jahrgang 1982, das Rennen machen wird,
hat einen simplen Grund: Jung ist man in aller Regel
in einem Alter, in dem man für das Jungsein einfach
zu wenig Erfahrung hat.

ettet Europa! Können Sie sich an
diesen Aufruf erinnern? Er ist nicht
mal ein Jahr alt – in einem schönen,
wenngleich allzu heißen Mai war es.
Die Wahlen zum Europaparlament
standen an.
Vor den Toren Brüssels lagerten
die Barbarinnen und Barbaren und
freuten sich, weil sie glaubten, nun
endlich die verhasste EU­Haupt­
stadt erobern und schleifen zu können. In den Au­
gen Matteo Salvinis, Ma rine Le Pens, Jörg Meu thens
und wie sie alle heißen, flackerte die Zerstörungslust.
Dem musste entschlossen begegnet werden. Vol­
ler Pathos und Entschiedenheit riefen viele Regie­
rungen die Bürger Europas auf, sich hinter dem
blauen Sternenbanner zu versammeln. Wo war nun
auch nur eine Spur dieses Pathos, als sich vergangene
Woche die Staats­ und Regierungschefs getroffen
haben, um den EU­Haushalt neu zu verhandeln? Bei
ihrem Gipfel am 20. und 21. Februar zeigten sie sich
einig nur in einem: Mutlosigkeit.
Damals hingegen, im Mai, schien die Kraft noch
vorhanden. Da hörten die Völker der EU die Sig­
nale. In Scharen gingen sie wählen, plus acht Pro­
zent Wahlbeteiligung. Wahnsinn! Wenn es darauf
ankomme, sei auf die Europäer Verlass, freuten sich
die Politiker. Und wurden nicht müde, ihre Wähler
zu loben.

Nun, da das Schlimmste überstanden, Europa
vorerst gerettet ist, könnte man erwarten, dass die
Europäische Union endlich die wichtigen Dinge an­
packt: den Klimawandel, die Digitalisierung, die
Platzsuche in einer Welt, in der Amerika außen­
politisch irrlichtert und China auftrumpft. »Europa
muss auch die Sprache der Macht lernen«, sagte die
frisch gewählte und überglückliche EU­Kommissi­
onspräsidentin Ursula von der Leyen, was zum Bei­
spiel bedeute: »eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns
lange auf andere stützen konnten«.
Also, Russland, China und Donald Trump, auf­
gepasst. Soft power, das können wir, aber jetzt proben
wir auch hard ball. Die Europäer durften sich bei­
nahe schon ertüchtigt fühlen von so vielen kernigen
Worten aus der Spitze der EU. Das war neu, das war
unerhört, das war sensationell.
Schön war die große Ambition irgendwie auch,
solange sie dauerte – nur dauerte sie nicht lange.
Der Traum von einer Europäischen Union, die
endlich begriffen hat, welche historische Stunde
ihr geschlagen hat, zerplatzte nun in einer langen
Verhandlungsnacht. Die 27 Staats­ und Regie­
rungschefs der Union trafen sich in Brüssel, um
den, wie es unattraktiv heißt, mehrjährigen Finanz­
rahmen der EU festzulegen. Sie verhandelten also
über die Summe des Geldes, über das die EU in
den nächsten sieben Jahren verfügen solle. Nach
dem Ausstieg Großbritanniens, eines Nettozahlers

in die Brüsseler Kasse, müssen die entsprechenden
Verluste kompensiert werden. Es geht dabei um
einen Beitrag der Mitgliedsstaaten von 1,00 bis
maximal 1,074 Prozent ihrer jährlichen nationalen
Wirtschaftsleistung. Noch mal langsam: Es geht
um die zweite Nachkommastelle eines Betrags,
der, umgelegt auf jeden deutschen Bürger, derzeit
bei unter 200 Euro pro Jahr liegt. Um diese Mi­
niatur stritten die 27 Staats­ und Regierungschefs
36 Stunden lang, um schließlich ergebnislos aus­
einanderzugehen.
Dieser Gipfel war eigentlich kein Gipfel, es war
eine unerhörte Versammlung von Krämerseelen,
Kleingeistern und Jammerbarden. Keiner stand auf
und verteidigte die Europäische Union mit offen­
siven Worten und, konsequenterweise, mit gezück­
ter Brieftasche.
Hier ist Geld, damit wir die Sprache der Macht auch
sprechen können! Hier ist Geld, damit Europa seine
Freiheit und Unabhängigkeit vor autoritären Wirt­
schaftsriesen bewahren kann. Das ist uns die Sache wert!
Keiner der Regierungschefs sagte so etwas. Stattdessen
zeigten sich die wichtigsten Nettozahlerstaaten – unter
ihnen auch Deutschland – knauserig.
Die Rettung Europas? Daran glaubten doch nur
die EU­Bürger, naiv, wie sie sind. Nur, sollte die EU
wirklich einmal untergehen, dann wird sie nicht an
den Naivlingen scheitern, sondern an den regieren­
den Zynikern. kl. Fotos: Martin U. K. Lengemann/WELT; Urban Zintel für DZ (u.)

12 STREIT 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10

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