Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

F


ünf Tage nach den Morden steht Ferhat Un­
vars Mutter auf dem Hauptfriedhof von Ha­
nau. Es ist ein kühler Nachmittag im Niesel­
regen. Hunderte Menschen drängen sich zwi­
schen den Mauern. Die Mutter umfasst ein
Mikrofon. Sie trägt einen schwarzen Schleier.
Vor ihr steht der Sarg ihres Sohnes.
Ihr Sohn, sagt sie auf Kurdisch, sei in Ha­
nau geboren worden, er sei hier aufgewachsen
und zur Schule gegangen. Er habe sich in
Hanau zu Hause gefühlt. »Aber sein Zuhause
wurde ihm durch eine feige rechtsradikale Tat
genommen.« Ihre Stimme ist leise, aber klar.
Sie sagt: »Ich habe Angst.« Es müsse end­
lich etwas getan werden gegen den Rassismus
in Deutschland.
Sie sagt: »Ich möchte nicht, dass andere
Mütter das erleiden, was ich gerade durch­
machen muss.«
Ferhat Unvar ist das zweite Opfer des An­
schlags, das am Montag dieser Woche zu
Grabe getragen wird. Wenige Stunden zuvor
haben sie im elf Kilometer entfernten Offen­
bach die zweifache Mutter Mercedes Kierpacz
beerdigt. Ferhat, 23, und Mercedes, 35,
kannten sich, sie gehörten zum selben
Freundes kreis. Sie starben kurz hin ter ein an­
der in der Arena Bar.
Claus Kaminsky, der Oberbürgermeister
von Hanau, war schon bei der Beerdigung
von Mercedes Kierpacz dabei, nun steht er
hier, auf dem Friedhof seiner Stadt. Auch er
spricht über Ferhat, er erzählt, dass der erst
letzte Woche seine Ausbildung zum Anlagen­
mechaniker erfolgreich beendet hatte. Dass er
gern Techno und Hip­Hop hörte. Dass er
unter den jungen Leuten der Stadt »bekannt
war wie ein bunter Hund«. Kaminsky sagt:
»Ferhat war wahrlich ein Hanauer Bub.«
Nach etwa einer Stunde stellen sich
Familien mitglieder um Ferhats Sarg, sie heben
ihn hoch und tragen ihn zum muslimischen
Teil des Friedhofs. Auf einem grünen Stück
Wiese halten sie an. Der Sarg wird in den
Boden hinabgelassen. Angehörige und Freunde
schaufeln Erde auf den Sarg. Und dann, schon
nach kurzer Zeit, bedeckt ein Meer aus Blu­
men das Grab von Ferhat Unvar.
Man hätte diesen Artikel auch anders be­
ginnen können. Statt von Ferhat Unvar und
Mercedes Kierpacz hätte man von Gökhan
Gültekin schreiben können, der 37 Jahre alt
war, als er starb, oder von Sedat Gürbüz, der
30 Jahre alt wurde, oder von einem weiteren
dieser neun Menschen, die eines gemeinsam
haben: dass sie am späten Abend des 19. Fe­
bruar 2020 in Hanau einem rechtsextremen
Mörder zum Opfer fielen.
So wie Jana L. und Kevin S. vier Monate
zuvor, am 9. Oktober 2019 in Halle.
So wie der Kasseler Regierungspräsident
Walter Lübcke acht Monate zuvor, am 2. Juni
2019, in Wolfhagen.
Nach dem Mord an Lübcke sprach Bun­
desinnenminister Horst Seehofer von einem
Alarmsignal. Nach dem Anschlag auf die
Synagoge in Halle benutzte die CDU­
Vorsitzende Annegret Kramp­Karrenbauer
dasselbe Wort.
Ein Alarm ertönt, wenn ein Feuer aus­
bricht. Und tatsächlich könnte man denken,
es habe in diesen vergangenen Monaten in der
Bundesrepublik zu brennen begonnen, der
Rechtsextremismus sei in seiner mörderischen
Form nach Deutschland zurückgekehrt. Aber
dieser Eindruck ist falsch.
In Wahrheit war er nie weg.

In vielen Geschichtsbüchern ist von der
RAF die Rede – nicht vom rechten Terror

Die Opfer von Hanau, Halle und Wolfhagen
sind Teil einer bedrückenden Statistik, in der
sie die Nummern 171 bis 182 tragen. 182 –
so viele Menschen haben in der Bundesrepu­
blik Deutschland seit 1990 durch rechtsextre­
me Gewalt ihr Leben verloren. Das haben
Recherchen von ZEIT ONLINE und dem
Berliner Tagesspiegel ergeben.
Zum Vergleich: Linksextremistischen Ge­
walttaten sind in den vergangenen drei Jahr­
zehnten drei Menschen zum Opfer gefallen.
Bei Anschlägen von islamistischen Terroristen
wurden 14 Menschen getötet.
Die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ist zweifellos die Geschichte ei­
ner funktionierenden Demokratie. Dieser Ar­
tikel aber wird argumentieren, dass es 75 Jahre
nach Kriegs ende höchste Zeit ist, sich einzu­
gestehen, dass die Geschichte der Bun des­
repu blik auch eine Geschichte der rechten
Gewalt ist.

Am 13. Februar, eine Woche vor den
Schüssen von Hanau, kommen in Potsdam
140 meist jüngere Historiker und Sozialwis­
senschaftler im Leibniz­Zentrum für Zeit­
historische Forschung zusammen. Sie hatten
für ihre Tagung mit weniger Teilnehmern ge­
rechnet, aber der Andrang ist so groß, dass sie
in die Bibliothek ausgewichen sind. Sie haben
ein kleines Podium aufgebaut und bei einem
Veranstaltungszentrum in der Nähe Stühle
ausgeliehen, die nun in engen Reihen zwi­
schen Stahlträgern stehen.
Das Thema des zweitägigen Treffens:
»Kontinuitäten rechter Gewalt«. Die Tagungs­
teilnehmer sind sich einig: Da gibt es viel Ver­
drängtes und Vergessenes ans Licht zu holen.
»Wenn man anfängt zu graben, läuft es einem
kalt den Rücken runter«, sagt Dominik Ri­
goll, einer der Organisatoren. »Rechte und
rassistische Gewalt scheint ein integraler Be­
standteil der politischen Kultur in der Bun­
desrepublik zu sein.«
Es wollte nur lange kaum jemand wissen.
Liest man in dicken, von namhaften His­
torikern der älteren Generation verfassten
Büchern über die Bundesrepublik Deutsch­
land, lernt man ein Land kennen, das seit
1949 liberaler, friedfertiger und vielfältiger
geworden ist. Man kann sich in solchen Bü­
chern umfangreich über Terrorismus infor­

mieren, aber es geht dann immer um Terroris­
mus von links, es geht um die Stadtguerilla
und den Deutschen Herbst, um Mogadischu
und die Schleyer­Entführung, es geht um den
letztlich erfolgreichen Kampf gegen die RAF.
Über den Terror von rechts steht da so gut
wie nichts. Offenbar passt es nicht zur gro­
ßen deutschen Wie­wir­wurden­was­wir­sind­
Erzählung, dass in diesem Land seit Jahr­
zehnten rechtsextreme Attentäter morden,
bomben, einschüchtern.
April 1968: In der Bundesrepublik regiert
eine große Koa li tion aus Union und SPD, das
Land ist gespalten, die radikalen Ränder wer­
den stark, und es wird unversöhnlich ge­
stritten. Linke Studenten revoltieren gegen
das Schweigen ihrer Eltern über die Nazi­Zeit.
Eine rechtsextreme Partei, die NPD, ist in
mehrere Landesparlamente eingezogen, ihre
Anhänger sehen die Bundesrepublik auf dem
Weg in den Sozialismus, auch wegen der Poli­
tik der Aussöhnung mit dem Ostblock.
In Berlin fährt am 11. April 1968 der An­
führer der Studenten auf dem Fahrrad durch
die Stadt. Ein vorbestrafter Hilfsarbeiter
spricht ihn an: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Als
Dutschke Ja sagt, zieht der Mann eine Pistole,
brüllt: »Du dreckiges Kommunistenschwein!«,
und schießt ihm in den Kopf. Rudi Dutschke
wird Jahre später an den Folgen dieses ersten
rechtsterroristischen Attentats der Bundes­
republik sterben.
Zwei Jahre später, Mai 1970: Die NPD hat
knapp den Einzug in den Bundestag verpasst.
Die Partei verfügt über einen »Ordnungs­
dienst«, der im Wahlkampf mit Saalschlach­
ten und Prügeleien Gegner einschüchterte.
Einige seiner Mitglieder in Nordrhein­West­
falen sind es nun leid, den parlamentarischen
Erfolg zu suchen. Sie haben die erste rechte
Terrorgruppe gegründet.
Die »Europäische Befreiungsfront« verfügt
über Sprengstoff und Gewehre und einen »Mi­
litärischen Aufbauplan«, sie will überall im Land
terroristische Zellen gründen. Als Erstes plant
sie einen Anschlag auf das Gipfeltreffen von
Bundeskanzler Willy Brandt mit Willi Stoph,
dem Ministerpräsidenten der DDR. Ob als
Einzeltäter oder in der Gruppe, die Rechtsterro­
risten der ersten Generation richten ihre Gewalt
gegen Persönlichkeiten der Linken. Sie sehen
sich als Antikommunisten, die sich gegen den
politischen Feind zur Wehr setzen.
Einen Tag vor dem Gipfeltreffen nehmen
Polizisten die 14 wichtigsten Mitglieder der
Gruppe fest, der Anschlag wird vereitelt. Da­
nach scheint es wieder ruhig zu werden um
den Rechtsterrorismus.
Tatsächlich, so wird sich zeigen, gehört
es zu den Wesenszügen rechten Terrors,
vorübergehend unsichtbar zu werden. In die­
sen Phasen ist er aber nicht verschwunden. Er
ändert nur seine Gestalt, organisiert sich neu,
sucht sich neue Ziele. Es ist auch diese Wand­

lungsfähigkeit, die es schwer macht, seine Di­
mensionen zu überschauen.
September 1980: Ein Rechtsextremist de­
poniert auf dem Münchner Oktoberfest in
einem Mülleimer eine Bombe. Zwölf Besu­
cher sterben. Mehrere Wochen später klingelt
in Erlangen ein Mann bei dem Verleger und
Rabbiner Shlomo Lewin, er tötet Lewin und
dessen Lebensgefährtin mit einer Maschinen­
pistole. Beide Täter, der von München und
der von Erlangen, stammen aus dem Umfeld
der paramilitärischen Vereinigung Wehrsport­
gruppe Hoffmann.
Die späten Siebziger­ und frühen Achtzi­
gerjahre sind die Zeit der Kriegsspieler und
Möchtegern­Hitlers. Karl­Heinz Hoffmann
ist ein Porzellanmaler aus Nürnberg, der die
Nazi­Zeit als Kind miterlebte und in seinem
Garten einen Schützenpanzer stehen hat. In
der bayerischen Provinz veranstaltet er Manö­
ver, dort üben dann Hunderte junge Männer


  • bis 1980 völlig legal – Nahkampf, Fuß­
    marsch, Überleben in der Wildnis. Mit alten
    Militärfahrzeugen, Uniformen, SS­Toten­
    kopfzeichen. Mit echten Waffen und falschen
    Orden. Und natürlich mit Führerprinzip.
    Hepp­Kexel­Gruppe. Deutsche Aktions­
    gruppen. Werwolfgruppe. Lauter Terrororga­
    nisationen jener Jahre, die heute keiner mehr
    kennt. Waffendepots. Raubüberfälle. Angrif­
    fe gegen Polizisten. Sprengstoffanschläge auf
    US­Soldaten. Morde an Asylbewerbern. Die
    Mittel des Terrors und seine Ziele variieren,
    aber immer sind es damals klar von ein an der
    abgegrenzte Einheiten, nach dem Modell der
    Wehrsportgruppe Hoffmann streng hierar­
    chisch organisiert. Die gesamte Szene der
    Neo nazis umfasst in den Achtzigerjahren we­
    nige Tausend Menschen. Es scheint undenk­
    bar, dass sich ein größerer Teil der Bevölke­
    rung mit den Gewalttätern von rechts iden­
    tifizieren könnte.
    Das ändert sich nach der Wiedervereini­
    gung.
    Mai 1993: In Solingen sterben fünf Frauen
    und Mädchen der Familie Genç bei einem
    Brandanschlag. Das jüngste Opfer ist vier
    Jahre alt. Die Mörder sind Neo nazis aus der
    Umgebung, sie haben erst kurz vorher ange­
    trunken den Entschluss zur Tat gefasst.
    Es ist weniger Terrorismus mit klaren
    Strukturen als eine spontane Gewalt der Stra­
    ße gegen Asylbewerber und »Zecken«, die in
    den Neunzigerjahren das Land erfasst. An
    manchen Orten im Osten gibt es jetzt eine
    rechtsextreme Jugendbewegung, sie erhält re­
    gionalen Rückhalt und profitiert davon, dass
    Polizisten, Richter und Lokalpolitiker noch
    unsicher sind, was eine Gesellschaft tolerieren
    darf – und was nicht. Als aufgepeitschte Neo­
    nazis in Rostock­Lichtenhagen ein Wohn­
    heim von Viet na me sen mit Brandsätzen atta­
    ckieren, applaudieren manche Anwohner,
    und eine Hundertschaft der Polizei steht re­
    gungslos daneben.
    Wieder vollzieht sich ein Wandel. Aus dem
    Nazi­Milieu der Neunziger erwächst in den
    Nullerjahren neuer Terror, der sich an Kon­
    zepten wie dem des »führerlosen Wider­
    stands« orien tiert. Gruppen wie das Freikorps
    Havelland in Brandenburg planen Angriffe
    auf anscheinend zufällig ausgewählte Angehö­
    rige von Minderheiten, in diesem Fall Brand­
    anschläge auf Imbissstände von Migranten.
    Jeder Nichtdeutsche, so der Gedanke, soll
    Angst haben, dass es ihn als Nächsten trifft.
    Mit zehn Morden zwischen 2000 und 2007
    perfektioniert der Nationalsozialistische Un­
    tergrund (NSU) diese Methode.
    Der Terrorismusexperte Daniel Köhler hat
    alle Informationen zum rechtsextremen Ter­
    ror der vergangenen fünf Jahrzehnte zusam­
    mengetragen, die er finden konnte. Seine Bi­
    lanz: 110 terroristische Gruppen und Einzel­
    personen. 2459 Brand anschlä ge. 348 Morde
    und Mordversuche. 238 Raubüberfälle. 19
    Entführungen.


Manche Terroristen sehen sich als
Nachfolger von Himmlers »Werwölfen«

Fragt man, woran es liegt, dass rechtsextreme
Gewalt in all den Jahren so wenig Beachtung
gefunden hat, heißt es häufig, meist von linker
Seite, die Bundesrepublik, die Politik, die Polizei,
die Justiz seien auf dem rechten Auge blind.
Eine abwegige These?
Nachdem Josef Bachmann den Studenten­
führer Rudi Dutschke auf dem Berliner Kur­
fürstendamm niedergeschossen hatte, fanden
die Ermittler heraus: Bachmann hatte in sei­
nem alten Kinderzimmer ein selbst gemaltes
Hitler­Porträt aufgehängt, im Regal stand
Mein Kampf. Die Ermittler gaben sich mit
dem Bild des Einzelgängers zufrieden, der mit
seinem Leben nicht klarkommt und sich da­
rüber selbst radikalisiert hat. Anderen Spuren
gingen sie nicht nach. »Der Mann ist ein ar­
mes Würstchen«, sagte ein Sprecher der Justiz.
Erst Jahrzehnte später wurde bekannt: Bach­
mann hatte sich regelmäßig mit Neo nazis ge­
troffen, gemeinsam ballerten sie mit Schuss­
waffen herum.
Nachdem 1980 die Wehrsportgruppe
Hoffmann verboten worden war, machte sich
der damalige bayerische Ministerpräsident
Franz Josef Strauß über diese Maßnahme lus­
tig: »Mein Gott, wenn ein Mann sich vergnü­
gen will, indem er am Sonntag auf dem Land
mit einem Rucksack und mit einem mit Kop­
pel geschlossenen ›Battle Dress‹ spazieren
geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen.« Ein

halbes Jahr später explodierte die Bombe auf
dem Oktoberfest. Der Täter, so viel weiß man
heute, wollte kurz vor den Bundestagswahlen
offenbar linken Terror vortäuschen, um rech­
ten Parteien zu helfen. Die Wehrsportgruppe
Hoffmann hatte ihn als »aktiven Anhänger«
registriert – ihre genaue Rolle bei diesem bis
heute blutigsten Anschlag in der Geschichte
der Bundesrepublik ist noch immer ungeklärt.
Nachdem 1993 die fünf Frauen und
Mädchen der Familie Genç in Solingen ge­
storben waren, reiste der damalige Bundes­
kanzler Helmut Kohl nicht zur Trauerfeier.
Sein Regierungssprecher sagte, der Kanzler
habe »weiß Gott andere wichtige Termine«,
man wolle nicht »in Beileidstourismus aus­
brechen«.
Nachdem der NSU begonnen hatte zu
morden, gründeten Beamte die »Besondere
Auf bau orga ni sa tion Bosporus«, in den Zei­
tungen war von »Döner­Morden« zu lesen. 13
Jahre lang konnte die Terrortruppe im Ver­
borgenen bleiben, weil die Beamten glaubten,
die Mordopfer selbst seien in organisierte
Kriminalität verstrickt gewesen. Verschiedene
parlamentarische Untersuchungsausschüsse
konnten bis heute nicht eindeutig klären, wie
es zu dem eklatanten Behördenversagen kam.
Man sah nichts, weil man nichts sehen
wollte. Und weil man abgelenkt war.
Die rechtsextremen Täter bewegten sich
über viele Jahre gewissermaßen im toten Win­
kel der Aufmerksamkeit. Das Bild, das Politi­
ker, Öffentlichkeit und Ermittler von Terro­
risten hatten, war geprägt von der Roten Ar­
mee Frak tion. »Es gab beim Terrorismus eine
RAF­Fixierung«, sagt der Extremismus­ und
Terrorismusforscher Armin Pfahl­ Traugh ber:
Ein Terrorist, das war demnach per Definiti­
on ein Systemgegner, der seine Verbrechen in
kruden, intellektuell anmutenden Bekenner­
schreiben überhöht. Eine terroristische Verei­
nigung, das war eine Verbindung von mehr
als zwei Personen, die zusammenarbeiten, um
terroristische Straftaten zu verüben und die
Bevölkerung zu verängstigen.
Die Terroristen von rechts aber waren
nicht selten Einzeltäter, die nur lose in Struk­
turen eingebunden waren. Manche sahen sich
selbst als Nachfolger der »Werwölfe«, jener
Kämpfer, die der SS­Führer Heinrich Himm­
ler in den letzten Kriegsmonaten in bereits
verlorene Gebiete entsandt hatte, um dort, oft
auf sich allein gestellt, Anschläge zu verüben.
Die rechten Terroristen verzichteten auch
meist darauf, sich öffentlich zu ihren Taten zu

bekennen – manchmal fiel gar nicht auf, dass
es sich überhaupt um Anschläge handelte.
Zumal sie sich zunehmend kleinere, wenig ge­
schützte Ziele suchten.
Die RAF ermordete den Generalbundes­
anwalt Siegfried Buback, den Chef der
Dresdner Bank Jürgen Ponto, den Ar beit­
geber prä si den ten Hanns Martin Schleyer, den
Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen
und den Präsidenten der Treuhandanstalt
Detlev Rohwedder. Menschen mit Macht,
Menschen mit Gesichtern, die jeden Tag im
Fernsehen waren. Als sie starben, hielt ganz
Deutschland inne.
Die Rechtsterroristen töteten den Arbeits­
losen Nguyen Van Tu, den Asylbewerber Ko­
long Jamba, den Zimmermann Nuno Lou­
renço, den Obst­ und Gemüsehändler Süley­
man Taşköprü, den Schüler Thomas K., die
Apothekerin Marwa el­Sherbini. Menschen,
die nicht jeder in Deutschland kannte. Dass
sie zu Opfern wurden, weil sie auf eine andere
Art ebenfalls Repräsentanten dieses Landes
waren – Vertreter einer offenen Gesellschaft –,
wurde erst im Nachhinein auf schmerzhafte
Weise klar.
Im Laufe der Neunzigerjahre trocknete die
RAF zunehmend aus. Ihre Mitglieder saßen
im Gefängnis, waren tot, hatten sich vom
Terror losgesagt oder waren verschwunden. Es
wäre für die deutsche Politik, für die Ermittler
und Behörden eine Gelegenheit gewesen, sich
neu zu orien tie ren, endlich den Blick freizube­
kommen für die Gefahr von rechts. Und viel­
leicht, man kann nur spekulieren, wäre dies
auch geschehen.
Wären nicht, am 11. September 2001,
zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade

Center in New York geflogen. Die Anschläge
einer bis dahin wenig bekannten Terrorgrup­
pe names Al­Kaida änderten vieles. Für die
Sicherheitsbehörden änderten sie alles.
Der Bundesnachrichtendienst, der Ver­
fassungsschutz und die Polizei richteten sich
neu aus. Sie gründeten eigene Abteilungen,
die sich mit Islamismus befassten, stellten
Arabisten und Islamwissenschaftler ein und
schulten altgediente Staatsschützer zu Al­
Kaida­Experten um. Die Bundesregierung
zog die besten Leute von Verfassungsschutz,
Bundeskriminalamt und Bundesnachrich­
tendienst in Berlin zusammen. Im Gemein­
samen Terrorismusabwehrzentrum koordi­
nierten die Experten die Jagd auf die deut­
schen Anhänger des Al­Kaida­Anführers
Osama bin Laden.
Die für den Rechtsextremismus zuständi­
gen Ermittler des Verfassungsschutzes dage­
gen blieben in der Dienststelle in Köln­Chor­
weiler. Sie standen am Rand – also dort, wo
sie schon all die Jahre gewesen waren.
Ähnlich wie zuvor den Linksextremen galt
die Aufmerksamkeit nun den Islamisten.
Währenddessen konnten die rechten Gewalt­
täter weiter ihre Verbrechen begehen.
Erst seit zwei, drei Jahren haben sich die
Gewichte wieder verschoben, hat in den Be­
hörden ein erneutes Umdenken eingesetzt.
Sowohl der Verfassungsschutz als auch das
Bundeskriminalamt haben Hunderte neuer
Mitarbeiter eingestellt, die sich mit dem
Rechtsextremismus befassen. Schon seit
Langem versucht das BKA, mit einem Früh­
warnsystem militante Islamisten auf den
Schirm zu bekommen, um sie dann über­
wachen zu können. Auf diese Weise wurden
688 in Deutschland lebende islamistische
»Gefährder« identifiziert, also Extremisten,
denen die Behörden jederzeit zutrauen, einen
Anschlag zu verüben.
Ein ähnliches System wird nun für rechte
Gefährder eingeführt. Von ihnen haben die
Ermittler bundesweit bisher nur rund 60 re­
gistriert, die tatsächliche Zahl liegt vermut­
lich weit höher.
Nach den Morden von Hanau trat in Ber­
lin Bundesinnenminister Horst Seehofer vor
die Presse. Vom Rechtsextremismus gehe
»derzeit die höchste Bedrohung für die Sicher­
heit in unserem Lande« aus, sagte er.
Diese Erkenntnis kommt spät, vielleicht
zu spät. Denn wie erst jetzt, nach den Ereig­
nissen der vergangenen Monate, deutlich
wird, hat sich der rechte Terror in der Zeit des
Des inte res ses und der Ignoranz, in den Jahren
des Wegsehens und Übersehens wieder ver­
ändert. Er hat neue, bisher unbekannte For­
men angenommen, die viel schwerer zu be­
kämpfen sind als zuvor.
Tobias R., der Mörder von Hanau, war 43
Jahre alt, gelernter Bankkaufmann und di­
plomierter Betriebswirt. Nach Jahren der
Berufstätigkeit bei einem Finanzdienstleister
in Trier und einer Internetfirma in München
war er in seine Heimatstadt Hanau zurück­
gekehrt, hatte wieder bei seinen Eltern ge­
lebt, in deren bescheidenem Häuschen im
Hanauer Westen, zwei Stockwerke, flacher
Giebel, schmaler Garten. Tobias R. war ar­
beitslos, bezog Hartz IV, im Jobcenter tauch­
te er mehrfach gemeinsam mit seinem Vater
auf, um sich zu beschweren.
Zu den offenen Fragen, denen die Er­
mittler derzeit mit Hochdruck nachgehen,
zählt eine zehntägige Reise in die USA Ende


  1. Am 4. November 2018 flog Tobias R.
    nach Denver, bei der Einreise gab er als Rei­
    seziel »Grand Encampment« ein, ein kleines
    Örtchen im Süden Wyomings mit 2000
    Einwohnern. US­Ermittler sowie das BKA
    prüfen, ob R. dort Kontakt zu einer sekten­
    ähnlichen Vereinigung selbst ernannter
    Tempelritter aufnahm oder zu Mitgliedern
    einer örtlichen Miliz.
    Tobias R. hatte einen zutiefst rassistischen
    Blick auf die Menschheit, die er in produktive
    und destruktive Völker unterteilte, in Völker mit
    Lebensberechtigung und solche, die es zu eli­
    minieren gelte. Er war vermutlich psychisch
    krank, litt unter Wahnvorstellungen, machte
    sich wirre Verschwörungstheorien zu eigen,
    war sozial isoliert. Tobias R., so sieht es derzeit
    aus, war nicht nur als Täter allein, sondern
    auch als Mensch.
    Rassist, psychisch krank, Einzeltäter – die­
    se Charakterisierung passt auch auf frühere
    rechts extre me Attentäter. Das eigentlich Ge­
    fährliche an Tobias R. war etwas anderes.
    Frühere rechtsextreme Einzeltäter hatten
    fast immer irgendwann vor ihrer Tat Kontakt
    zu anderen Rechtsextremen. Sie radikalisier­
    ten sich in den Hinterzimmern von Dorfgast­
    stätten, in Gesprächen mit Gleichgesinnten.
    Sie waren, auch wenn sie am Ende oft allein
    und auf sich selbst gestellt losschlugen, Mit­
    glied in Wehrsportgruppen und Kamerad­
    schaften.
    Anders gesagt: Man hätte sie, zumindest
    theoretisch, entdecken können, durch das Ab­
    hören von Telefonen, das Überwachen von
    Komplizen, das Befragen von Zeugen. Durch
    all die Methoden, die Ermittler bei der Ver­
    hinderung von Terroranschlägen zur Verfü­
    gung haben.
    Tobias R. aber saß in keinen Hinterzim­
    mern, und wenn doch, dann hat er dort nach
    allem, was man bisher weiß, keine Gesin­
    nungsgenossen getroffen. Mitglied war er nur
    im Schützenverein. Selbst wenn die deutschen
    Sicherheitsbehörden zehnmal so viele Leute


16 DOSSIER


Freunde und Angehörige von Ferhat Unvar
bei seiner Beerdigung

Ferhat Unvar, einer der Menschen, die der
Attentäter von Hanau ermordet hat

Fotos (S. 16 u. S. 17): Thomas Pirot für DIE ZEIT


  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10

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