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ünf Tage nach den Morden steht Ferhat Un
vars Mutter auf dem Hauptfriedhof von Ha
nau. Es ist ein kühler Nachmittag im Niesel
regen. Hunderte Menschen drängen sich zwi
schen den Mauern. Die Mutter umfasst ein
Mikrofon. Sie trägt einen schwarzen Schleier.
Vor ihr steht der Sarg ihres Sohnes.
Ihr Sohn, sagt sie auf Kurdisch, sei in Ha
nau geboren worden, er sei hier aufgewachsen
und zur Schule gegangen. Er habe sich in
Hanau zu Hause gefühlt. »Aber sein Zuhause
wurde ihm durch eine feige rechtsradikale Tat
genommen.« Ihre Stimme ist leise, aber klar.
Sie sagt: »Ich habe Angst.« Es müsse end
lich etwas getan werden gegen den Rassismus
in Deutschland.
Sie sagt: »Ich möchte nicht, dass andere
Mütter das erleiden, was ich gerade durch
machen muss.«
Ferhat Unvar ist das zweite Opfer des An
schlags, das am Montag dieser Woche zu
Grabe getragen wird. Wenige Stunden zuvor
haben sie im elf Kilometer entfernten Offen
bach die zweifache Mutter Mercedes Kierpacz
beerdigt. Ferhat, 23, und Mercedes, 35,
kannten sich, sie gehörten zum selben
Freundes kreis. Sie starben kurz hin ter ein an
der in der Arena Bar.
Claus Kaminsky, der Oberbürgermeister
von Hanau, war schon bei der Beerdigung
von Mercedes Kierpacz dabei, nun steht er
hier, auf dem Friedhof seiner Stadt. Auch er
spricht über Ferhat, er erzählt, dass der erst
letzte Woche seine Ausbildung zum Anlagen
mechaniker erfolgreich beendet hatte. Dass er
gern Techno und HipHop hörte. Dass er
unter den jungen Leuten der Stadt »bekannt
war wie ein bunter Hund«. Kaminsky sagt:
»Ferhat war wahrlich ein Hanauer Bub.«
Nach etwa einer Stunde stellen sich
Familien mitglieder um Ferhats Sarg, sie heben
ihn hoch und tragen ihn zum muslimischen
Teil des Friedhofs. Auf einem grünen Stück
Wiese halten sie an. Der Sarg wird in den
Boden hinabgelassen. Angehörige und Freunde
schaufeln Erde auf den Sarg. Und dann, schon
nach kurzer Zeit, bedeckt ein Meer aus Blu
men das Grab von Ferhat Unvar.
Man hätte diesen Artikel auch anders be
ginnen können. Statt von Ferhat Unvar und
Mercedes Kierpacz hätte man von Gökhan
Gültekin schreiben können, der 37 Jahre alt
war, als er starb, oder von Sedat Gürbüz, der
30 Jahre alt wurde, oder von einem weiteren
dieser neun Menschen, die eines gemeinsam
haben: dass sie am späten Abend des 19. Fe
bruar 2020 in Hanau einem rechtsextremen
Mörder zum Opfer fielen.
So wie Jana L. und Kevin S. vier Monate
zuvor, am 9. Oktober 2019 in Halle.
So wie der Kasseler Regierungspräsident
Walter Lübcke acht Monate zuvor, am 2. Juni
2019, in Wolfhagen.
Nach dem Mord an Lübcke sprach Bun
desinnenminister Horst Seehofer von einem
Alarmsignal. Nach dem Anschlag auf die
Synagoge in Halle benutzte die CDU
Vorsitzende Annegret KrampKarrenbauer
dasselbe Wort.
Ein Alarm ertönt, wenn ein Feuer aus
bricht. Und tatsächlich könnte man denken,
es habe in diesen vergangenen Monaten in der
Bundesrepublik zu brennen begonnen, der
Rechtsextremismus sei in seiner mörderischen
Form nach Deutschland zurückgekehrt. Aber
dieser Eindruck ist falsch.
In Wahrheit war er nie weg.
In vielen Geschichtsbüchern ist von der
RAF die Rede – nicht vom rechten Terror
Die Opfer von Hanau, Halle und Wolfhagen
sind Teil einer bedrückenden Statistik, in der
sie die Nummern 171 bis 182 tragen. 182 –
so viele Menschen haben in der Bundesrepu
blik Deutschland seit 1990 durch rechtsextre
me Gewalt ihr Leben verloren. Das haben
Recherchen von ZEIT ONLINE und dem
Berliner Tagesspiegel ergeben.
Zum Vergleich: Linksextremistischen Ge
walttaten sind in den vergangenen drei Jahr
zehnten drei Menschen zum Opfer gefallen.
Bei Anschlägen von islamistischen Terroristen
wurden 14 Menschen getötet.
Die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ist zweifellos die Geschichte ei
ner funktionierenden Demokratie. Dieser Ar
tikel aber wird argumentieren, dass es 75 Jahre
nach Kriegs ende höchste Zeit ist, sich einzu
gestehen, dass die Geschichte der Bun des
repu blik auch eine Geschichte der rechten
Gewalt ist.
Am 13. Februar, eine Woche vor den
Schüssen von Hanau, kommen in Potsdam
140 meist jüngere Historiker und Sozialwis
senschaftler im LeibnizZentrum für Zeit
historische Forschung zusammen. Sie hatten
für ihre Tagung mit weniger Teilnehmern ge
rechnet, aber der Andrang ist so groß, dass sie
in die Bibliothek ausgewichen sind. Sie haben
ein kleines Podium aufgebaut und bei einem
Veranstaltungszentrum in der Nähe Stühle
ausgeliehen, die nun in engen Reihen zwi
schen Stahlträgern stehen.
Das Thema des zweitägigen Treffens:
»Kontinuitäten rechter Gewalt«. Die Tagungs
teilnehmer sind sich einig: Da gibt es viel Ver
drängtes und Vergessenes ans Licht zu holen.
»Wenn man anfängt zu graben, läuft es einem
kalt den Rücken runter«, sagt Dominik Ri
goll, einer der Organisatoren. »Rechte und
rassistische Gewalt scheint ein integraler Be
standteil der politischen Kultur in der Bun
desrepublik zu sein.«
Es wollte nur lange kaum jemand wissen.
Liest man in dicken, von namhaften His
torikern der älteren Generation verfassten
Büchern über die Bundesrepublik Deutsch
land, lernt man ein Land kennen, das seit
1949 liberaler, friedfertiger und vielfältiger
geworden ist. Man kann sich in solchen Bü
chern umfangreich über Terrorismus infor
mieren, aber es geht dann immer um Terroris
mus von links, es geht um die Stadtguerilla
und den Deutschen Herbst, um Mogadischu
und die SchleyerEntführung, es geht um den
letztlich erfolgreichen Kampf gegen die RAF.
Über den Terror von rechts steht da so gut
wie nichts. Offenbar passt es nicht zur gro
ßen deutschen Wiewirwurdenwaswirsind
Erzählung, dass in diesem Land seit Jahr
zehnten rechtsextreme Attentäter morden,
bomben, einschüchtern.
April 1968: In der Bundesrepublik regiert
eine große Koa li tion aus Union und SPD, das
Land ist gespalten, die radikalen Ränder wer
den stark, und es wird unversöhnlich ge
stritten. Linke Studenten revoltieren gegen
das Schweigen ihrer Eltern über die NaziZeit.
Eine rechtsextreme Partei, die NPD, ist in
mehrere Landesparlamente eingezogen, ihre
Anhänger sehen die Bundesrepublik auf dem
Weg in den Sozialismus, auch wegen der Poli
tik der Aussöhnung mit dem Ostblock.
In Berlin fährt am 11. April 1968 der An
führer der Studenten auf dem Fahrrad durch
die Stadt. Ein vorbestrafter Hilfsarbeiter
spricht ihn an: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Als
Dutschke Ja sagt, zieht der Mann eine Pistole,
brüllt: »Du dreckiges Kommunistenschwein!«,
und schießt ihm in den Kopf. Rudi Dutschke
wird Jahre später an den Folgen dieses ersten
rechtsterroristischen Attentats der Bundes
republik sterben.
Zwei Jahre später, Mai 1970: Die NPD hat
knapp den Einzug in den Bundestag verpasst.
Die Partei verfügt über einen »Ordnungs
dienst«, der im Wahlkampf mit Saalschlach
ten und Prügeleien Gegner einschüchterte.
Einige seiner Mitglieder in NordrheinWest
falen sind es nun leid, den parlamentarischen
Erfolg zu suchen. Sie haben die erste rechte
Terrorgruppe gegründet.
Die »Europäische Befreiungsfront« verfügt
über Sprengstoff und Gewehre und einen »Mi
litärischen Aufbauplan«, sie will überall im Land
terroristische Zellen gründen. Als Erstes plant
sie einen Anschlag auf das Gipfeltreffen von
Bundeskanzler Willy Brandt mit Willi Stoph,
dem Ministerpräsidenten der DDR. Ob als
Einzeltäter oder in der Gruppe, die Rechtsterro
risten der ersten Generation richten ihre Gewalt
gegen Persönlichkeiten der Linken. Sie sehen
sich als Antikommunisten, die sich gegen den
politischen Feind zur Wehr setzen.
Einen Tag vor dem Gipfeltreffen nehmen
Polizisten die 14 wichtigsten Mitglieder der
Gruppe fest, der Anschlag wird vereitelt. Da
nach scheint es wieder ruhig zu werden um
den Rechtsterrorismus.
Tatsächlich, so wird sich zeigen, gehört
es zu den Wesenszügen rechten Terrors,
vorübergehend unsichtbar zu werden. In die
sen Phasen ist er aber nicht verschwunden. Er
ändert nur seine Gestalt, organisiert sich neu,
sucht sich neue Ziele. Es ist auch diese Wand
lungsfähigkeit, die es schwer macht, seine Di
mensionen zu überschauen.
September 1980: Ein Rechtsextremist de
poniert auf dem Münchner Oktoberfest in
einem Mülleimer eine Bombe. Zwölf Besu
cher sterben. Mehrere Wochen später klingelt
in Erlangen ein Mann bei dem Verleger und
Rabbiner Shlomo Lewin, er tötet Lewin und
dessen Lebensgefährtin mit einer Maschinen
pistole. Beide Täter, der von München und
der von Erlangen, stammen aus dem Umfeld
der paramilitärischen Vereinigung Wehrsport
gruppe Hoffmann.
Die späten Siebziger und frühen Achtzi
gerjahre sind die Zeit der Kriegsspieler und
MöchtegernHitlers. KarlHeinz Hoffmann
ist ein Porzellanmaler aus Nürnberg, der die
NaziZeit als Kind miterlebte und in seinem
Garten einen Schützenpanzer stehen hat. In
der bayerischen Provinz veranstaltet er Manö
ver, dort üben dann Hunderte junge Männer
- bis 1980 völlig legal – Nahkampf, Fuß
marsch, Überleben in der Wildnis. Mit alten
Militärfahrzeugen, Uniformen, SSToten
kopfzeichen. Mit echten Waffen und falschen
Orden. Und natürlich mit Führerprinzip.
HeppKexelGruppe. Deutsche Aktions
gruppen. Werwolfgruppe. Lauter Terrororga
nisationen jener Jahre, die heute keiner mehr
kennt. Waffendepots. Raubüberfälle. Angrif
fe gegen Polizisten. Sprengstoffanschläge auf
USSoldaten. Morde an Asylbewerbern. Die
Mittel des Terrors und seine Ziele variieren,
aber immer sind es damals klar von ein an der
abgegrenzte Einheiten, nach dem Modell der
Wehrsportgruppe Hoffmann streng hierar
chisch organisiert. Die gesamte Szene der
Neo nazis umfasst in den Achtzigerjahren we
nige Tausend Menschen. Es scheint undenk
bar, dass sich ein größerer Teil der Bevölke
rung mit den Gewalttätern von rechts iden
tifizieren könnte.
Das ändert sich nach der Wiedervereini
gung.
Mai 1993: In Solingen sterben fünf Frauen
und Mädchen der Familie Genç bei einem
Brandanschlag. Das jüngste Opfer ist vier
Jahre alt. Die Mörder sind Neo nazis aus der
Umgebung, sie haben erst kurz vorher ange
trunken den Entschluss zur Tat gefasst.
Es ist weniger Terrorismus mit klaren
Strukturen als eine spontane Gewalt der Stra
ße gegen Asylbewerber und »Zecken«, die in
den Neunzigerjahren das Land erfasst. An
manchen Orten im Osten gibt es jetzt eine
rechtsextreme Jugendbewegung, sie erhält re
gionalen Rückhalt und profitiert davon, dass
Polizisten, Richter und Lokalpolitiker noch
unsicher sind, was eine Gesellschaft tolerieren
darf – und was nicht. Als aufgepeitschte Neo
nazis in RostockLichtenhagen ein Wohn
heim von Viet na me sen mit Brandsätzen atta
ckieren, applaudieren manche Anwohner,
und eine Hundertschaft der Polizei steht re
gungslos daneben.
Wieder vollzieht sich ein Wandel. Aus dem
NaziMilieu der Neunziger erwächst in den
Nullerjahren neuer Terror, der sich an Kon
zepten wie dem des »führerlosen Wider
stands« orien tiert. Gruppen wie das Freikorps
Havelland in Brandenburg planen Angriffe
auf anscheinend zufällig ausgewählte Angehö
rige von Minderheiten, in diesem Fall Brand
anschläge auf Imbissstände von Migranten.
Jeder Nichtdeutsche, so der Gedanke, soll
Angst haben, dass es ihn als Nächsten trifft.
Mit zehn Morden zwischen 2000 und 2007
perfektioniert der Nationalsozialistische Un
tergrund (NSU) diese Methode.
Der Terrorismusexperte Daniel Köhler hat
alle Informationen zum rechtsextremen Ter
ror der vergangenen fünf Jahrzehnte zusam
mengetragen, die er finden konnte. Seine Bi
lanz: 110 terroristische Gruppen und Einzel
personen. 2459 Brand anschlä ge. 348 Morde
und Mordversuche. 238 Raubüberfälle. 19
Entführungen.
Manche Terroristen sehen sich als
Nachfolger von Himmlers »Werwölfen«
Fragt man, woran es liegt, dass rechtsextreme
Gewalt in all den Jahren so wenig Beachtung
gefunden hat, heißt es häufig, meist von linker
Seite, die Bundesrepublik, die Politik, die Polizei,
die Justiz seien auf dem rechten Auge blind.
Eine abwegige These?
Nachdem Josef Bachmann den Studenten
führer Rudi Dutschke auf dem Berliner Kur
fürstendamm niedergeschossen hatte, fanden
die Ermittler heraus: Bachmann hatte in sei
nem alten Kinderzimmer ein selbst gemaltes
HitlerPorträt aufgehängt, im Regal stand
Mein Kampf. Die Ermittler gaben sich mit
dem Bild des Einzelgängers zufrieden, der mit
seinem Leben nicht klarkommt und sich da
rüber selbst radikalisiert hat. Anderen Spuren
gingen sie nicht nach. »Der Mann ist ein ar
mes Würstchen«, sagte ein Sprecher der Justiz.
Erst Jahrzehnte später wurde bekannt: Bach
mann hatte sich regelmäßig mit Neo nazis ge
troffen, gemeinsam ballerten sie mit Schuss
waffen herum.
Nachdem 1980 die Wehrsportgruppe
Hoffmann verboten worden war, machte sich
der damalige bayerische Ministerpräsident
Franz Josef Strauß über diese Maßnahme lus
tig: »Mein Gott, wenn ein Mann sich vergnü
gen will, indem er am Sonntag auf dem Land
mit einem Rucksack und mit einem mit Kop
pel geschlossenen ›Battle Dress‹ spazieren
geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen.« Ein
halbes Jahr später explodierte die Bombe auf
dem Oktoberfest. Der Täter, so viel weiß man
heute, wollte kurz vor den Bundestagswahlen
offenbar linken Terror vortäuschen, um rech
ten Parteien zu helfen. Die Wehrsportgruppe
Hoffmann hatte ihn als »aktiven Anhänger«
registriert – ihre genaue Rolle bei diesem bis
heute blutigsten Anschlag in der Geschichte
der Bundesrepublik ist noch immer ungeklärt.
Nachdem 1993 die fünf Frauen und
Mädchen der Familie Genç in Solingen ge
storben waren, reiste der damalige Bundes
kanzler Helmut Kohl nicht zur Trauerfeier.
Sein Regierungssprecher sagte, der Kanzler
habe »weiß Gott andere wichtige Termine«,
man wolle nicht »in Beileidstourismus aus
brechen«.
Nachdem der NSU begonnen hatte zu
morden, gründeten Beamte die »Besondere
Auf bau orga ni sa tion Bosporus«, in den Zei
tungen war von »DönerMorden« zu lesen. 13
Jahre lang konnte die Terrortruppe im Ver
borgenen bleiben, weil die Beamten glaubten,
die Mordopfer selbst seien in organisierte
Kriminalität verstrickt gewesen. Verschiedene
parlamentarische Untersuchungsausschüsse
konnten bis heute nicht eindeutig klären, wie
es zu dem eklatanten Behördenversagen kam.
Man sah nichts, weil man nichts sehen
wollte. Und weil man abgelenkt war.
Die rechtsextremen Täter bewegten sich
über viele Jahre gewissermaßen im toten Win
kel der Aufmerksamkeit. Das Bild, das Politi
ker, Öffentlichkeit und Ermittler von Terro
risten hatten, war geprägt von der Roten Ar
mee Frak tion. »Es gab beim Terrorismus eine
RAFFixierung«, sagt der Extremismus und
Terrorismusforscher Armin Pfahl Traugh ber:
Ein Terrorist, das war demnach per Definiti
on ein Systemgegner, der seine Verbrechen in
kruden, intellektuell anmutenden Bekenner
schreiben überhöht. Eine terroristische Verei
nigung, das war eine Verbindung von mehr
als zwei Personen, die zusammenarbeiten, um
terroristische Straftaten zu verüben und die
Bevölkerung zu verängstigen.
Die Terroristen von rechts aber waren
nicht selten Einzeltäter, die nur lose in Struk
turen eingebunden waren. Manche sahen sich
selbst als Nachfolger der »Werwölfe«, jener
Kämpfer, die der SSFührer Heinrich Himm
ler in den letzten Kriegsmonaten in bereits
verlorene Gebiete entsandt hatte, um dort, oft
auf sich allein gestellt, Anschläge zu verüben.
Die rechten Terroristen verzichteten auch
meist darauf, sich öffentlich zu ihren Taten zu
bekennen – manchmal fiel gar nicht auf, dass
es sich überhaupt um Anschläge handelte.
Zumal sie sich zunehmend kleinere, wenig ge
schützte Ziele suchten.
Die RAF ermordete den Generalbundes
anwalt Siegfried Buback, den Chef der
Dresdner Bank Jürgen Ponto, den Ar beit
geber prä si den ten Hanns Martin Schleyer, den
Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen
und den Präsidenten der Treuhandanstalt
Detlev Rohwedder. Menschen mit Macht,
Menschen mit Gesichtern, die jeden Tag im
Fernsehen waren. Als sie starben, hielt ganz
Deutschland inne.
Die Rechtsterroristen töteten den Arbeits
losen Nguyen Van Tu, den Asylbewerber Ko
long Jamba, den Zimmermann Nuno Lou
renço, den Obst und Gemüsehändler Süley
man Taşköprü, den Schüler Thomas K., die
Apothekerin Marwa elSherbini. Menschen,
die nicht jeder in Deutschland kannte. Dass
sie zu Opfern wurden, weil sie auf eine andere
Art ebenfalls Repräsentanten dieses Landes
waren – Vertreter einer offenen Gesellschaft –,
wurde erst im Nachhinein auf schmerzhafte
Weise klar.
Im Laufe der Neunzigerjahre trocknete die
RAF zunehmend aus. Ihre Mitglieder saßen
im Gefängnis, waren tot, hatten sich vom
Terror losgesagt oder waren verschwunden. Es
wäre für die deutsche Politik, für die Ermittler
und Behörden eine Gelegenheit gewesen, sich
neu zu orien tie ren, endlich den Blick freizube
kommen für die Gefahr von rechts. Und viel
leicht, man kann nur spekulieren, wäre dies
auch geschehen.
Wären nicht, am 11. September 2001,
zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade
Center in New York geflogen. Die Anschläge
einer bis dahin wenig bekannten Terrorgrup
pe names AlKaida änderten vieles. Für die
Sicherheitsbehörden änderten sie alles.
Der Bundesnachrichtendienst, der Ver
fassungsschutz und die Polizei richteten sich
neu aus. Sie gründeten eigene Abteilungen,
die sich mit Islamismus befassten, stellten
Arabisten und Islamwissenschaftler ein und
schulten altgediente Staatsschützer zu Al
KaidaExperten um. Die Bundesregierung
zog die besten Leute von Verfassungsschutz,
Bundeskriminalamt und Bundesnachrich
tendienst in Berlin zusammen. Im Gemein
samen Terrorismusabwehrzentrum koordi
nierten die Experten die Jagd auf die deut
schen Anhänger des AlKaidaAnführers
Osama bin Laden.
Die für den Rechtsextremismus zuständi
gen Ermittler des Verfassungsschutzes dage
gen blieben in der Dienststelle in KölnChor
weiler. Sie standen am Rand – also dort, wo
sie schon all die Jahre gewesen waren.
Ähnlich wie zuvor den Linksextremen galt
die Aufmerksamkeit nun den Islamisten.
Währenddessen konnten die rechten Gewalt
täter weiter ihre Verbrechen begehen.
Erst seit zwei, drei Jahren haben sich die
Gewichte wieder verschoben, hat in den Be
hörden ein erneutes Umdenken eingesetzt.
Sowohl der Verfassungsschutz als auch das
Bundeskriminalamt haben Hunderte neuer
Mitarbeiter eingestellt, die sich mit dem
Rechtsextremismus befassen. Schon seit
Langem versucht das BKA, mit einem Früh
warnsystem militante Islamisten auf den
Schirm zu bekommen, um sie dann über
wachen zu können. Auf diese Weise wurden
688 in Deutschland lebende islamistische
»Gefährder« identifiziert, also Extremisten,
denen die Behörden jederzeit zutrauen, einen
Anschlag zu verüben.
Ein ähnliches System wird nun für rechte
Gefährder eingeführt. Von ihnen haben die
Ermittler bundesweit bisher nur rund 60 re
gistriert, die tatsächliche Zahl liegt vermut
lich weit höher.
Nach den Morden von Hanau trat in Ber
lin Bundesinnenminister Horst Seehofer vor
die Presse. Vom Rechtsextremismus gehe
»derzeit die höchste Bedrohung für die Sicher
heit in unserem Lande« aus, sagte er.
Diese Erkenntnis kommt spät, vielleicht
zu spät. Denn wie erst jetzt, nach den Ereig
nissen der vergangenen Monate, deutlich
wird, hat sich der rechte Terror in der Zeit des
Des inte res ses und der Ignoranz, in den Jahren
des Wegsehens und Übersehens wieder ver
ändert. Er hat neue, bisher unbekannte For
men angenommen, die viel schwerer zu be
kämpfen sind als zuvor.
Tobias R., der Mörder von Hanau, war 43
Jahre alt, gelernter Bankkaufmann und di
plomierter Betriebswirt. Nach Jahren der
Berufstätigkeit bei einem Finanzdienstleister
in Trier und einer Internetfirma in München
war er in seine Heimatstadt Hanau zurück
gekehrt, hatte wieder bei seinen Eltern ge
lebt, in deren bescheidenem Häuschen im
Hanauer Westen, zwei Stockwerke, flacher
Giebel, schmaler Garten. Tobias R. war ar
beitslos, bezog Hartz IV, im Jobcenter tauch
te er mehrfach gemeinsam mit seinem Vater
auf, um sich zu beschweren.
Zu den offenen Fragen, denen die Er
mittler derzeit mit Hochdruck nachgehen,
zählt eine zehntägige Reise in die USA Ende
- Am 4. November 2018 flog Tobias R.
nach Denver, bei der Einreise gab er als Rei
seziel »Grand Encampment« ein, ein kleines
Örtchen im Süden Wyomings mit 2000
Einwohnern. USErmittler sowie das BKA
prüfen, ob R. dort Kontakt zu einer sekten
ähnlichen Vereinigung selbst ernannter
Tempelritter aufnahm oder zu Mitgliedern
einer örtlichen Miliz.
Tobias R. hatte einen zutiefst rassistischen
Blick auf die Menschheit, die er in produktive
und destruktive Völker unterteilte, in Völker mit
Lebensberechtigung und solche, die es zu eli
minieren gelte. Er war vermutlich psychisch
krank, litt unter Wahnvorstellungen, machte
sich wirre Verschwörungstheorien zu eigen,
war sozial isoliert. Tobias R., so sieht es derzeit
aus, war nicht nur als Täter allein, sondern
auch als Mensch.
Rassist, psychisch krank, Einzeltäter – die
se Charakterisierung passt auch auf frühere
rechts extre me Attentäter. Das eigentlich Ge
fährliche an Tobias R. war etwas anderes.
Frühere rechtsextreme Einzeltäter hatten
fast immer irgendwann vor ihrer Tat Kontakt
zu anderen Rechtsextremen. Sie radikalisier
ten sich in den Hinterzimmern von Dorfgast
stätten, in Gesprächen mit Gleichgesinnten.
Sie waren, auch wenn sie am Ende oft allein
und auf sich selbst gestellt losschlugen, Mit
glied in Wehrsportgruppen und Kamerad
schaften.
Anders gesagt: Man hätte sie, zumindest
theoretisch, entdecken können, durch das Ab
hören von Telefonen, das Überwachen von
Komplizen, das Befragen von Zeugen. Durch
all die Methoden, die Ermittler bei der Ver
hinderung von Terroranschlägen zur Verfü
gung haben.
Tobias R. aber saß in keinen Hinterzim
mern, und wenn doch, dann hat er dort nach
allem, was man bisher weiß, keine Gesin
nungsgenossen getroffen. Mitglied war er nur
im Schützenverein. Selbst wenn die deutschen
Sicherheitsbehörden zehnmal so viele Leute
16 DOSSIER
Freunde und Angehörige von Ferhat Unvar
bei seiner Beerdigung
Ferhat Unvar, einer der Menschen, die der
Attentäter von Hanau ermordet hat
Fotos (S. 16 u. S. 17): Thomas Pirot für DIE ZEIT
- FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10