Die Zeit - 27.02.2020

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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10 POLITIK 5


S


ehr verkürzt könnte man sagen:
Der Gesetzgeber hat es sich zu
einfach gemacht mit dem Le-
bensende. Menschen, die ster-
ben wollen, faktisch jede Chan-
ce auf Hilfe bei der Selbsttötung
zu nehmen und die sogenannte
geschäftsmäßige Förderung der Sterbehilfe bei
Strafe zu verbieten – das ist ein allzu grobes In-
strument, um den unendlich heiklen und inti-
men Fragen nach Leben und Tod zu begegnen,
mit denen viele Schwerstkranke, ihre Angehöri-
gen und Ärzte konfrontiert sind. Jeder, der sich
mit dem Thema beschäftigt, findet sich umstellt
von Dilemmata. Es gibt keine einfachen Ant-
worten, keine klaren Lösungen, kein evident
richtig und offenkundig falsch.
Gleichwohl trat Ende 2015 das Verbot »ge-
schäftsmäßiger« Sterbehilfe in Kraft. Vorausgegan-
gen waren heftige Debatten und eine Abstim-
mung im Bundestag, für die der Fraktionszwang
aufgehoben worden war. Der Gesetzgeber wollte
damals vor allem die Tätigkeit von Sterbehilfe-
Vereinen unterbinden, die anmaßend und will-
kürlich festlegen, wem sie beim Suizid assistieren
und wem nicht.
Der neu geschaffene Paragraf 217 des Strafge-
setzbuchs stellte die geschäftsmäßige Beihilfe zum
Suizid unter Strafe. Geschäftsmäßig heißt dabei
verwirrenderweise nicht notwendig kommerziell.
Eine Geschäftsmäßigkeit wird schon angenom-
men, wenn wiederholt Sterbehilfe geleistet wird;
auf ökonomische Interessen oder gar Profitmaxi-
mierung kommt es nicht an.
Diese Norm hat das Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe am Mittwoch kurzerhand für ver-
fassungswidrig und, was nicht häufig vorkommt,
auch gleich für »nichtig« erklärt, also für ungül-
tig von Anfang an. Dabei war die praktische
Bedeutung der Vorschrift gering: Soweit ersicht-
lich, wurde von 2015 bis heute kein einziges
Strafverfahren aufgrund des Paragrafen 217 er-
öffnet. Der symbolische Rang der Entscheidung
hingegen ist enorm.
Mit dem Urteil endet, vorerst jedenfalls, ein
erbittert und hochemotional geführter Streit über
die Legalisierung der Sterbehilfe. Gegen den
Paragrafen 217 StGB hatten Sterbewillige, Ärzte
sowie Vereine Verfassungsbeschwerde erhoben,
die in Deutschland und der Schweiz Suizidhilfe
anbieten. Zu den Klägern gehört auch der Verein
Sterbehilfe Deutschland e. V., den gemeinsam mit
anderen der ehemalige Hamburger Justizsenator

Roger Kusch gegründet hatte. Sie alle können nun
erst einmal jubeln – nur die schwerkranken Kläger
nicht mehr, die bereits vor dem lang erwarteten
Urteil gestorben sind.
Die Karlsruher Richter haben nicht nur aus-
drücklich ein »Recht auf selbstbestimmtes Ster-
ben« anerkannt, sie haben auch explizit hinzu-
gefügt, dass dieses Recht die Freiheit einschlie-
ße, »sich das Leben zu nehmen und hierbei auf
die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen«,
und zwar unabhängig vom Alter, vom Gesund-
heitszustand, von besonderen Motiven oder ir-
gendwelchen moralischen oder religiösen Er-
wägungen. »Die selbstbestimmte Verfügung
über das eigene Leben«, so formuliert das Ge-
richt nicht ohne Pathos, sei ein, »wenngleich
letzter, Ausdruck von Würde«. Und die Würde
des Menschen, das steht ganz am Anfang des
Grundgesetzes, ist unantastbar.
Das Urteil vom Mittwoch ist ein Hochamt
der Autonomie, Ausdruck einer Gesellschaft,
die ganz auf das Individuum abstellt. Die
Mehrheit der Bevölkerung ist entschieden für
die Zulässigkeit der Sterbehilfe; das Gericht hat
sich einmal mehr auch als Medium der Zeit-
strömungen erwiesen.
Faktisch laufe das Recht auf autonome Ent-
scheidung über das eigene Ende wegen des Ver-
bots in Paragraf 217 leer, befand das Gericht.
»Verbleibende Optionen« böten »nur eine theo-
retische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf
Selbstbestimmung«. Von der Strafvorschrift abge-
schreckt wurden nämlich nicht nur Sterbehilfe-
vereine, die das Gericht durchaus kritisch sieht.
Auch viele Ärzte hatten aus Sorge vor Anzeige und
Anklage die Begleitung von Sterbewilligen ein-
gestellt; nicht wenige Mediziner hatten früher
immer wieder in einer Grauzone zwischen Straf-
recht und Barmherzigkeit agiert, die sich juristisch
wohl nie restlos ausmessen lässt. Auch die Grenzen
zulässiger Palliativmedizin seien unklarer gewor-
den, stellten Ärzte fest, weshalb einige ebenfalls
Verfassungsbeschwerde erhoben hatten.
Insgesamt sei auf diese Weise eine »autono-
miefeindliche« Situation entstanden, schreibt
das Gericht, in der dem Einzelnen »keine ver-
lässlichen realen Möglichkeiten verbleiben, einen
Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen«. Die
staatliche Gemeinschaft dürfe die Bürger aber
auch nicht »auf die Möglichkeit verweisen, im
Ausland Angebote der Suizidhilfe in Anspruch
zu nehmen«. Ein Notausgang in die Schweiz,
das ist zu wenig.

Freie Bahn also für die Roger Kuschs und
andere Sterbehelfer? Keineswegs. Die Debatten
um die Möglichkeiten und Grenzen der
Sterbe hilfe sind längst nicht zu Ende; sie wer-
den mit einiger Gewissheit neu beginnen.
Denn das Bundesverfassungsgericht sagt aus-
drücklich auch, aus seinem Urteil folge nicht
etwa, »dass der Gesetzgeber die Suizidhilfe
nicht regulieren darf«.
Die Richter sehen durchaus die Gefahren,
die eine Freigabe der Suizidhilfe mit sich bringt.
Es sei ein legitimes Anliegen des Staates, schrei-
ben sie, zu verhindern, »dass sich der assistierte
Suizid in der Gesellschaft als normale Form
der Lebensbeendigung durchsetzt«. Es könnten
»soziale Pressionen« entstehen, sich aus ökono-
mischen oder anderen »Nützlichkeitserwägun-
gen« das Leben zu nehmen. Erwähnt wird
auch, dass in Ländern mit liberalen Sterbehilfe-
regeln ein »stetiger Anstieg assistierter Selbst-
tötungen« verzeichnet werde.
Neue Regeln darf es also geben. Sie müssen
nur filigraner, geschmeidiger, weniger plump
sein als der Paragraf 217.
Anders als in früheren Entscheidungen deu-
ten die Richterinnen und Richter in Karlsruhe
aber nur an, was denkbar wäre, sie schreiben
dem Parlament nicht detailliert vor, wie ein
künftiges Sterbehilfegesetz aussehen sollte. Er-
wähnt werden etwa »Aufklärungs- und Warte-
pflichten«, die verbindlich eingehalten werden
müssten, ehe jemand Hilfe zum Sterben in An-
spruch nehmen dürfe; in der mündlichen Ver-
handlung vor dem Gericht im April 2019 wur-
den gelegentlich Parallelen zu den Pflichtbera-
tungen vor einem Schwangerschaftsabbruch
diskutiert. Denkbar wäre auch, Angebote von
Sterbehilfevereinen strenger zu kontrollieren
und die Anbieter strikt zu prüfen. Und die
Richter regen an, die berufsständischen Regeln
für Ärzte und Apotheker zu reformieren, um
ihnen die Hilfe für Sterbewillige zu erleichtern.
Jeder darf sich das Leben nehmen, das steht
in Deutschland außer Frage, aber mit den tech-
nischen Details der Selbsttötung und den Qua-
len, die den Wunsch nach Suizid auslösen kön-
nen, möchte die Gesellschaft möglichst nicht
behelligt werden.
Das war bis Mittwoch der stillschweigende
Konsens. Damit ist nun Schluss.

Lesen Sie auch das Interview mit einem
der Kläger auf Seite 60

Recht auf


To d


Machtwort aus Karlsruhe: Der Sterbehilfe-Paragraf im


Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT Strafgesetzbuch ist nichtig VON HEINRICH WEFING


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