Die Zeit - 27.02.2020

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8 POLITIK 27. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


Der Bluff des Jahrhunderts


Was halten die Siedler von Donald Trumps »Friedensplan«? Besuch im Jordantal, das bald zu Israel gehören soll VON RICHARD C. SCHNEIDER


Argaman/ Jordantal

V


on seiner Terrasse aus hat
Schaul Avital einen atem-
beraubenden Blick über
das Tal des Jordan. Hinter
dem Fluss, am Horizont,
ragen die Bergketten Jor-
daniens auf. Avitals Haus
steht auf einem Hügel am
Rande der Siedlung Arga-
man, die 1968 gegründet
wurde. Etwa 50 Familien leben heute hier. Avital
steht in der Küche und kocht Kaffee. Seit 1974 lebt
er in Argaman, er gehörte damals zu den Pionieren,
die in das Jordantal zogen. »Ideologie«, sagt er, »war
nicht dabei«, als er aus seiner Heimatstadt Bet
Schean im Kernland Israels hierherkam. »Die da-
malige Regierung der linken Arbeitspartei gab uns
allerlei finanzielle Anreize, nach Argaman zu zie-
hen. Und ich habe mich sofort in diese Landschaft
verliebt. Du siehst ja selbst, wie idyllisch es hier ist.«
Argaman liegt östlich der palästinensischen Stadt
Nablus, etwa eine halbe Stunde mit dem Auto ent-
fernt. Wenn es nach dem von US-Präsident Donald
Trump entwickelten »deal of the century« geht, soll
hier bald die Ostgrenze Israels verlaufen. Der Plan,
der vor wenigen Wochen im Beisein von Premier
Benjamin Netanjahu in Washington vorgestellt
wurde, sieht vor, dass Israel weite Teile des Westjor-
danlands, das es seit 1967 besetzt hält, offiziell an-
nektieren darf, insbesondere das Jordantal. Den Pa-
lästinensern verspricht der »Friedensplan« nur einen
winzigen Rumpfstaat, mitten im – dann – israeli-
schen Staatsgebiet.
Bei dem Plan geht es aber nicht nur um Land. Es
geht auch um die Macht in Israel. Wenn die Israelis

am kommenden Montag wählen, zum dritten Mal
innerhalb eines Jahres, hofft Netanjahu endlich auf
einen deutlichen Sieg. Der Premier, gegen den eine
Korruptionsanklage läuft, und sein Herausforderer,
der Ex-General Benny Gantz, versuchen seit Mona-
ten jeweils vergeblich, eine Regierung zu bilden. Die
beiden vorangegangenen Wahlen haben ein Patt
geschaffen, Israel steckt in der Krise. Nun soll der
nächste Wahlgang endlich den Durchbruch bringen
für Netanjahu. Und Donald Trumps »Deal« soll ihm
die Stimmen aller rechten Israelis sichern, auch jener
300.000, die das letzte Mal im September nicht zur
Wahl gegangen sind.
Wie aber denken die Siedler selbst über den
Annexionsplan von Trump und Netanjahu?
Nach Wochen voller Regen und Sturm ist es end-
lich warm geworden, das Jordantal erblüht in kräfti-
gem Grün, die Luft ist klar und frisch. Man hört
nichts außer Vogelgezwitscher. Völlige Ruhe. »Ist das
nicht wunderbar?«, freut sich Schaul. »Ich könnte
nicht in der Großstadt leben.« Die Großstadt – das
ist Tel Aviv. Das liberale Zentrum Israels ist nur eine
Stunde entfernt, aber mental ganz weit weg von den
besetzten Gebieten. Dabei sind es auch von Tel Aviv
aus nur rund 70 Kilometer bis zur jordanischen
Grenze. Alle Regierungen Israels haben daher stets
darauf bestanden, im Falle eines Friedens mit den
Palästinensern die Kontrolle über das Jordantal zu
behalten. Aus palästinensischer Sicht sind diese
Gebiete Teil eines zukünftigen unabhängigen Staates,
aus israelischer Sicht sind sie eine offene Flanke. Die
Israelis befürchten, dass unkontrolliert Waffen, Ra-
keten und Terroristen eingeschmuggelt werden
könnten. Darin sind sich rechte und linke Israelis
einig. Selbst als Barack Obamas Außenminister John
Kerry 2014 noch einmal versuchte, einen Frieden

auszuhandeln, erklärte er den Palästinensern, dass die
israelische Armee die Ostgrenze eines Palästinenser-
staates mitkontrollieren würde. Die Palästinenser
lehnten das damals wie heute brüsk ab.
In der Gegend von Argaman sind die meisten
Siedler keine religiösen Fanatiker, auch Schaul Avi-
tal nicht. Er lebt nicht hier, weil er glaubt, dass
Gott den Juden dieses Land gegeben hat. Er findet
es für die Sicherheit Israels wichtig, dass der Staat
am Jordantal festhält. »Ich weiß aber noch nicht
einmal, was Annexion genau bedeuten würde«,
sagt Schaul. »Wahrscheinlich nur eine Veränderung
im Verwaltungssystem. Aber ansonsten? Hier läuft
doch alles gut, es ist ruhig. Ich hoffe, dass der Plan
von Trump das nicht zerstört!«

S


eine Frau Jael, deren Familie ebenso wie
die von Schaul Avital ursprünglich aus
Marokko stammt, ist entschiedener. Sie
sei früher moderater gewesen, sagt sie.
»Aber nach dem Abzug aus Gaza war
das vorbei.« Nachdem sich die israelischen Trup-
pen 2005 aus dem besetzten Gazastreifen zurück-
gezogen hatten, wurde Israel von dort immer wie-
der mit Raketen beschossen, bis heute. »Wir müs-
sen jeden Zentimeter verteidigen«, sagt Jael. »Die
Araber um uns herum wollen uns ausrotten. Wir
müssen das alles hier behalten, wir können ja nir-
gends anders hingehen.« Darum vertraue sie nur
Netanjahu und werde ihn wieder wählen.
Und ihr Mann? Wen wird er wählen? Er weicht der
Frage aus. »Gehen wir doch zu den Datteln«, sagt er.
Schaul Avital besitzt eine Palmenplantage. Die
Datteln des Jordantals gehören zu den besten der
Welt. Avital produziert ausschließlich für den Ex-
port. Etwa 40 Quadratkilometer Land gehören
ihm. In dieser Jahreszeit ist er damit beschäftigt, die
Dornen der Dattelpalmen zu entfernen, um später
leichter an die Früchte zu gelangen.
Vielleicht nirgendwo sonst auf der Welt ist die
Frage nach dem Besitz von Land konfliktreicher als
in dieser Gegend. Um die Siedlung Argaman zu
bauen, haben die Israelis nach dem Sechstagekrieg
1967 Land von drei palästinensischen Dörfern
konfisziert. Nach dem Völkerrecht ist das in »be-
setzten Gebieten« nicht erlaubt. Doch die Siedler
halten den Begriff »besetzt« für falsch. Der Staat
Israel argumentiert, das Land sei vor 1967 gleich-
sam herrenlos gewesen. Jordanien hatte das soge-
nannte Westjordanland in den späten Vierziger-
jahren ebenfalls nur annektiert, doch außer Groß-
britannien und Pakistan erkannte kein Staat diese
Annexion an. Davor gehörte das Land zum Osma-
nischen Reich, das aber war nach dem Ersten Welt-
krieg untergegangen. Einen »rechtmäßigen« Besit-
zer habe es also nicht gegeben, das Land sei dem-
zufolge nicht »besetzt«. Auch säkulare Siedler wie
Schaul Avital sehen deshalb kein Unrecht darin,
das Land als ihr Eigentum zu betrachten.
Das ganze Jahr über steht ihm Ibrahim Zbeidat
zur Seite, der 42-Jährige ist Avitals Vorarbeiter. Der
Palästinenser stammt aus dem Nachbardorf Zbei-
dat, das keine fünfhundert Meter von Argaman
entfernt liegt und zum palästinensischen Autono-
miegebiet gehört.
Avital und Zbeidat unterhalten sich auf Ara-
bisch. »Ich habe die Sprache hier im Tal gelernt. Es
ist doch wichtig, mit seinen Nachbarn reden zu
können, oder nicht?«, sagt der Israeli. Seit zehn
Jahren arbeiten sie zusammen, Ibrahim hat sogar
eine offizielle Erlaubnis, sich direkt in der israeli-
schen Siedlung aufzuhalten, nicht nur auf der
Plantage. Einen solchen Passierschein erhalten nur
Palästinenser, die in keiner Akte israelischer Sicher-
heitskräfte oder -behörden auftauchen.
In der Erntezeit arbeiten bis zu 20 Palästinenser
auf Avitals Plantage. Alle kommen aus Zbeidat.
Ibrahim, Vater von sieben Kindern, ist mit dem Job
zufrieden, er garantiert ihm ein gutes Einkommen,
die Familie ist versorgt. Mehr will er nicht. Zum
Trump-Plan und zur geplanten Annexion will er sich
nicht äußern: »Ich kümmere mich nur um Datteln.
Von allem anderen verstehe ich nichts«, sagt er auf
Hebräisch. Die Fragen sind ihm vor seinem isra-
elischen Arbeitgeber sichtlich unangenehm. Über
Politik redet man hier lieber nicht.
An der Straße, die hinaufführt zur Siedlung
Argaman, befindet sich ein kleines Restaurant, in
dem einige Palästinenser als Kellner arbeiten. Sie
unterhalten sich mit einem ultraorthodoxen Juden,
der hier gerade Rast macht. Man kennt sich, scherzt
miteinander. Einer der Kellner, Fahdi, erzählt, dass
er in der Nähe von Nablus lebe und jeden Tag hier-
her ins Restaurant Zipora zur Arbeit komme. Was
hält Fahdi vom Jahrhundertplan? Der Annexion?
Ebenso wie Schaul Avital hofft er, dass alles so
bleibt wie bisher. Etwas abseits von den Israelis
aber wird er deutlicher: »Was wollen wir alle hier?
Ruhe, Frieden, ein gutes Einkommen, eine bessere
Zukunft für unsere Kinder!« Fahdi hofft, im Fall
einer Annexion zumindest den blauen israelischen
Ausweis zu bekommen. Mit dem hätte er Zugang
zum israelischen Sozialsystem, wäre abgesichert
und versorgt. Der Palästinenser Fahdi hätte also
nichts dagegen, unter israelischer Herrschaft zu
bleiben.
Ob ein Zusammenleben nach einer Annexion
denn funktionieren könne? »Bei uns schon«, nickt
er, »hier gibt es auf beiden Seiten nur wenige Fana-
tiker.« Natürlich ist er für einen Palästinenserstaat,
klar. Aber wichtiger sind ihm und vielen anderen
hier ganz andere Dinge: Ruhe. Überleben. Seine
Kinder in Frieden aufziehen.

Das Zusammenleben zwischen Palästinensern
und Israelis funktioniert in anderen Teilen des West-
jordanlands bei Weitem nicht so gut. Überall dort,
wo Extremismus und Hass blühen, dominiert Ge-
walt. Auf beiden Seiten. Und viele befürchten, sie
könnte im Falle der angekündigten Annexionen
wieder ausbrechen.
David Elhajani sieht das nicht. Er ist seit Jahren
Vorsitzender des Siedlerrates im Jordantal und seit
zwei Monaten Vorsitzender des einflussreichen Sied-
lerrates Jescha, der für die gesamten besetzten Gebiete
spricht. »Es wird zu keiner dritten Intifada kom-
men«, zu keinem neuen Aufstand der Palästinenser,
erklärt Elhajani trocken am Telefon. »Erstens geht
es den Palästinensern zu gut, die meisten haben
Arbeit und wollen das nicht riskieren. Und zwei-
tens wird sich hier absolut nichts verändern.
Nichts«, sagt er und meint die geplante Annexion
im »deal of the century«.
Das hebräische Wort sipuach, Annexion, lehnt
Elhajani ab. »Annektieren kann ich nur etwas, was
mir nicht gehört. Aber dieses Land gehört uns seit
Jahrtausenden.« Darum sprächen Siedler wie er
von ribonut, von Souveränität. Die Souveränität
Israels solle hier ausgedehnt werden. Mehr nicht.
»Aber soll ich Ihnen etwas sagen?«, fragt Elhajani:
»Es wird nicht geschehen. Der ganze Trump-Plan
ist ein einziger Bluff! Das ist nicht der ›deal of the
century‹, es ist der ›bluff of the century‹!«
Wie viele Siedler lehnt Elhajani den Trump-Plan
grundsätzlich ab. Nicht wegen der Annexionen.
Sondern wegen der Zugeständnisse, die aus Sicht der
Palästinenser minimal sind: »Wir akzeptieren keinen
palästinensischen Terrorstaat. Auf keinen Fall.« El-
hajani war zur Verkündung des Plans mit Premier-
minister Netanjahu nach Washington gereist. Er
kennt den Regierungschef seit vielen Jahren, sieht
ihn bei den wöchentlichen Treffen des Premierminis-
ters mit Wortführern des Siedlerrates in der Knesset.
So glücklich wie unmittelbar vor der Veröffent-
lichung des Friedensplans habe er Bibi, wie Netan-
jahu von allen genannt wird, noch nie gesehen: »Mit
glühendem Gesicht sagte er mir, dass dies ein histori-
scher Moment für Israel sei. Dass endlich ein Traum
wahr werde.« Bereits wenige Tage nach der Veröffent-
lichung des Plans wollte Netanjahu die »Ausweitung
der Souveränität« ins Kabinett bringen. Noch vor
den Wahlen. Doch dann ging etwas schief. Die Ame-
rikaner warnten Bibi plötzlich vor einem Alleingang.
Warum bremsten die Amerikaner Bibi aus? El-
hajani hat dazu eine Theorie: Trumps Schwieger-
sohn Jared Kushner, der »Vater« des Deals, der zur
Vorbereitung drei Jahre lang im Nahen Osten
herumgeflogen war, müsse kapiert haben, dass sich
die Israelis nur den einen Teil des Plans zu eigen
machen wollten, der die Annexionen erlaubte.
Den Palästinensern aber würden sie nichts geben
wollen. Kushner habe irgendwann verstanden,
dass viele israelische Abgeordnete und Minister
nicht einmal einen kleinen Palästinenserstaat ak-
zeptieren würden – der aber Teil des Plans ist.
Kushner habe befürchtet, dass seine Freunde in
den Palästen in Saudi-Arabien oder den Vereinig-
ten Arabischen Emiraten ihm Vorwürfe machen
würden, und deshalb die Notbremse gezogen.

D


er Plan sei einfach zum Scheitern
verurteilt, glaubt Elhajani. »Ich
sagte amerikanischen Kongressab-
geordneten, sie würden den Palästi-
nensern einen Mercedes mitsamt
Schlüssel geben – aber der Motor fehlte. Dass sie
Jerusalem nicht bekommen – dazu sagen die Paläs-
tinenser doch niemals Ja!« David Elhajani lacht.
»Die Amerikaner haben noch nie verstanden, wie
die Dinge hier laufen.«
Der »Plan des Jahrhunderts«, der Netanjahu im
Wahlkampf gut aussehen lassen sollte, bringt ihm
vorerst wenig. Bei Redaktionsschluss am Dienstag-
abend lag er laut Umfragen nur mit einem Mandat
vor Benny Gantz. Viele Israelis halten den Plan für
illusorisch, selbst wenn eine Mehrheit einer Annexion
zumindest des Jordantales sofort zustimmen würde.
Schaul Avital beschäftigt sich mit all diesen
Details nicht. Zwei seiner Kinder leben ebenfalls
in Argaman. Gerade für sie wünscht er sich Stabi-
lität und Ruhe. Wird er deswegen Bibi wählen?
Nun, da seine Frau nicht mehr dabei ist, redet er
offener. Bei der letzten Wahl im September gab er
seine Stimme Benny Gantz. Das werde er nun
nicht mehr tun. Gantz spreche mal wie ein Politi-
ker der Mitte, mal wie ein rechter. »Ich weiß nicht
mehr, wofür er steht.« Aber auch Netanjahu werde
er nicht wählen, sagt Avital. Vorsichtig deutet er
an, dass er sich noch weiter nach rechts orientieren
werde, da wüsste er, wofür sie stehen. Ausgerech-
net er, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein
friedliches Zusammenleben zwischen den Palästi-
nensern und Israelis hier in seiner Umgebung,
wählt womöglich rechts außen?
»Erinnern Sie sich nach den Wahlen daran, dass
alles nur ein großer Bluff ist«, sagt der Siedlerführer
David Elhajani zum Abschied. Aus dem Plan werde
nichts, die Amerikaner würden die Souveränität über
die Siedlungen im Westjordanland nicht zulassen.
Und die Siedler und Israel würden einen Palästinen-
serstaat nicht zulassen: »Denn nach dem Holocaust
können wir kein weiteres Risiko mehr eingehen. Nie
mehr!« Und es könnte so kommen. Wie die vergan-
genen 50 Jahre gezeigt haben, geschieht in der israe-
lischen Politik meistens das, was die Siedler wollen.

A http://www.zeit.de/audio

So sollen die Staaten Israel und Palästina
nach dem Plan des US-Präsidenten aussehen

Jahrhundert-Deal


Mittelmeer

Tel Aviv

LIBANON
Mittelmeer

Tel Aviv

Amman

ISR AEL
JOR DANIEN

ÄGY PTEN

Nablus

50 km

ZEITGrafik

Jerusalem Jordan

Jordantal

geplanter paläs-
tinensischer Staat

aktuelle Grenze
Westjordanland/
Gazastreifen

israelische
Enklaven

Totes MeerTotes Meer

Golan-
höhen

Golan-
höhen

SYRIEN

LIBANON

Argaman

Zbeidat

Der Siedler Schaul Avital (links) unterhält sich mit einem Nachbarn, einem palästinensischen Schäfer

Foto: Jonas Opperskalski für DIE ZEIT

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