Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

»Vor allem egoistisch«


Sind Sie Teil eines politischen Problems? Könnten Sie jemanden küssen,
der falsch wählt? Diese Woche stellen wir unsere Fragen Franziska Giffey

1 Welches Tier ist das politischste?
Der Löwe. Er steht für Macht, Stärke,
Mut – und dafür, die Dinge im Griff zu
haben. Als König der Tiere muss er na-
türlich auch für die Gemeinschaft sorgen.


2 Welcher politische Moment hat
Sie geprägt – außer dem
Kniefall von Willy Brandt?
Als Hans-Dietrich Genscher in der Prager
Botschaft seinen berühmten Halbsatz
sprach: »Wir sind gekommen, um Ihnen
mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...«.
Ich war elf Jahre alt und habe nicht alles
verstanden, was da passierte. Aber als die
Menschen in Jubel und Tränen ausbra-
chen, habe ich gespürt, wie besonders
dieser Augenblick war. Jedes Mal, wenn
ich das im Fernsehen wieder sehe, berührt
es mich aufs Neue.


3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Die erste ist wohl der Republikgeburts-
tag der DDR am 7. Oktober. Oder der



  1. Mai. Als Kita-Kinder sind wir da
    DDR-Fähnchen schwenkend durch un-
    seren Ort in Brandenburg gezogen. Und
    ich erinnere mich noch daran, als ich in
    die Schule kam, dass in jedem Klassen-
    raum über der Tafel das gleiche Bild
    hing, das von Erich Honecker, dem
    Staatsratsvorsitzenden der DDR.


4 Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Geweint? Wegen der Politik selbst eigent-
lich nie. Aber wegen der Reaktionen,
die politische Entscheidungen auslösen,
schon – auch im Angesicht der gesell-
schaftlichen Spaltung, die wir 30 Jahre
später im Land haben. Von Prag habe ich
ja eben schon erzählt. Bei den letzten
beiden Feiern zum Tag der Deutschen
Einheit, 2018 in Berlin und 2019 in
Kiel, wurden noch mal Bilder von der
Nacht des Mauerfalls gezeigt. Diese Be-
geisterung in den Gesichtern der Men-
schen, das Glücksgefühl, der Freudentau-
mel – da hatte ich Tränen in den Augen.


5 Haben Sie eine Überzeugung,
die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
Wenn Menschen jenseits des politischen
Betriebes auf einen Minister oder eine
Ministerin treffen, erwarten sie oft Stren-
ge und Distanz – wohl wegen der Würde
des Amtes. Ich will aber weder Strenge
noch Distanz, die Würde des Amtes wird
nicht beschädigt, wenn man Nähe und
Lockerheit zulässt. Eine Ministerin muss
nicht immer staatstragend sein. Und des-
halb gehen mir diese »abgeketteten Be-
reiche«, in die Normalbürger gar nicht
hindürfen, auch total gegen den Strich.
Ich will doch zu den Leuten – ins direkte
Gespräch.


6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Etwas verändern zu können, das ist für
mich Macht. Als Neuköllner Bezirks-
stadträtin für Bildung konnte ich mitent-
scheiden, ob, wo und wie eine Schule ge-
baut wird. Ich habe da erstmals gemerkt,
dass ich etwas bewirken kann. Und des-
halb bin ich ja auch in die Politik gegan-
gen: um einen Unterschied zu machen.
Und weil das in Neukölln so gut geklappt
hat, möchten Sie das jetzt auf ganz Berlin
ausweiten?
Für meine Stadt, für die Stadt, die ich
liebe und in der ich gerne lebe, etwas be-
wirken zu können ist eine echte Mo ti va-
tion. Und dafür zu sorgen, dass die Berli-
ner So zial demo kra tie wieder stärker wird,
auch. Bisher haben die Aufgaben mich
immer irgendwie gefunden. Vielleicht ist
das auch diesmal wieder so.


7 Und wann haben Sie sich
besonders ohnmächtig gefühlt?
Als ich zum ersten Mal in Berlin-Halen-
see im Archiv des Fonds Sexueller Miss-
brauch war, den ich als Bundesfamilien-
ministerin verantworte. Einer der Räu-
me ist vollgestellt mit Aktenschränken,
11.000 Registerakten sind dort abgelegt.
11.000 Fälle von Missbrauch an Kin-
dern und Jugendlichen – und jeder ein-
zelne Fall ein furchtbares Schicksal. Das
ist wahnsinnig beklemmend. Weil man
weiß, dass trotz aller Prävention, Opfer-
entschädigung und Bestrafung der Täter
Missbrauch nie ganz verhindert werden
kann.


8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Jeden einzelnen Tag zu genießen. Ich
halte viel von dem Motto der Hos piz-
bewe gung: »Man kann dem Leben nicht
mehr Tage geben, aber den Tagen mehr
Leben.« Jeden Tag füllen mit Leben, also


mit frohem Mut, mit Freundlichkeit, mit
En gagement – das ist nicht nur eine rich-
tige Haltung, wenn die Welt in einem
Jahr untergeht. Sie passt auch, wenn das
erst in Millionen Jahren passiert.

9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür. Es gibt zwei Sorten von Menschen:
die Bedenkenträger und die Möglichma-
cher. Ich arbeite gerne mit den Möglich-
machern zusammen.

10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Als junge Frau war ich gegen die Quote.
Ich dachte: Gute Frauen kommen über-
allhin – selbst in die Vorstände von Un-
ternehmen. Aber ganz ohne Vorgaben
funktioniert das leider doch nicht.

11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Kommt drauf an, wie falsch. Den Be-
schluss der großen Koa li tion, jegliche
Kooperation mit der AfD auszuschließen,
beziehe ich jedenfalls auch aufs Küssen.

12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren?
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Nein. Aber die Politik raubt mir oft die
Zeit für meine Freunde.

13 Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Ich bin mal zu schnell Auto gefahren.

14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was
haben Sie daraus politisch gelernt?
Ich war eine ziemlich gute Schülerin –
und einige haben mich da als Streber ab-
gestempelt. Dabei war ich nur neugierig,
ich wollte was lernen und was wissen. Als
ich mich in einer höheren Klasse ent-

scheiden sollte, ob ich Musik oder Kunst
abwähle, habe ich dafür gekämpft, bei-
des behalten zu dürfen, das klappte dann
auch. Gelernt habe ich daraus, sich nicht
von anderen be irren zu lassen, wenn
man etwas für richtig hält, sondern sein
Ding zu machen und dazu zu stehen.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Keine. Meine Eltern haben mir bei-
gebracht, dass man jeden Menschen
achtet, dass einer nicht mehr wert ist,
nur weil er einen höheren Posten hat.
Die Mutter meines Vaters war Putzfrau.
Durch den Krieg konnte sie keine Aus-
bildung machen, und dann hat sie später
die Schule geputzt. Es gab Menschen,
die sie dort wie Luft behandelt haben –
meinen Vater hat das sehr geprägt. Mir
hat er mit auf den Weg gegeben, nie-
manden so zu behandeln. Und das tue
ich auch nicht.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Das ist nicht so mein Stil. Ich verschwen-
de meine Energie nicht damit, jemanden
schlechtzumachen. Ich arbeite lieber da-
für, dass Dinge gelingen können.

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Andrea Nahles. Auch sie konnte austeilen,
aber das Maß an Illoyalität ihr gegenüber
aus den eigenen Reihen, das fand ich nicht
in Ordnung. Wer will noch aufsteigen,
wenn wir unser Führungspersonal, kaum
ist es im Amt, schon wieder demontieren?
Und das gilt nicht nur für die SPD.

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Niemand, ist schon okay so.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Es gibt jemanden, der noch mehr Gehör
verdient hätte: Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier. In seinen wunderbaren
Reden analysiert er die komplizierte und
polarisierte Lage des Landes so klug wie
kaum ein anderer. Hörte man da noch
genauer hin, könnte das mehr zur inneren
Befriedung beitragen.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
»Wir müssen ...« und »Man müsste
mal ...«. Ja, dann macht doch! Oder auch,
was wir alles tun »für die Menschen in
unserem Land«. Na, für wen denn sonst?

21 Finden Sie es richtig, politische
Entscheidungen zu treffen,
auch wenn Sie wissen, dass die
Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Die Politik trifft ja keine Entscheidungen,
um die Leute zu ärgern, sondern um et-
was Gutes zu erreichen. Wenn die Leute
nicht verstehen, dass es gut ist, muss man
seine Entscheidung besser erklären oder
noch mal überdenken, ob sie auch wirk-
lich gut war. Das Erste gelingt nicht im-
mer – und das Zweite passiert zu selten.

22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Ein bisschen mehr Eigenverantwortung.
Ups, das klingt jetzt eher nach FDP- Libe-
ra lis mus als nach SPD-Zukunft.
Wieso? Wir brauchen einen So zial staat,
der Menschen nicht nur versorgt, son-
dern auch dazu befähigt, ihre schwierige
Lage zu überwinden und selbst für sich
aufzukommen. Und ganz generell: Wenn
jede und jeder der knapp 83 Millionen
Deutschen auch selbst einen kleinen Bei-
trag dazu leistet, unser Land besser zu
machen, kann sehr vieles besser gelingen.

23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Dass der Mensch ist, wie er ist, vor allem
egoistisch.

24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Wenn ich mich so sehen würde, könnte
ich gleich einpacken und gehen.

25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
»Erzählt mir doch nich, dasset nich jeht!«


  • Erinnerungen an Regine Hildebrandt.
    Da wurden viele großartige Zitate von
    Regine Hildebrandt zusammengetragen.
    Ist gut zum Aufheitern zwischendurch –
    für Zuversicht und Mut zum Anpacken.


26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Ich selbst halte mich für ziemlich normal.
Verrückt im Sinne von nicht normal bin
ich daher kaum – also maximal drei. Und
die Welt? Wenn ich sie daran messe, was
meine Großmutter von der Kriegs- und
Nachkriegszeit erzählt hat, von der Not,
dem Hunger, der Kälte, der Hoffnungs-
losigkeit, dem ganzen Nichtnormalen,
dann ist sie heute zumindest in Deutsch-
land nicht besonders verrückt – vielleicht
fünf. Wenn man in andere Teile der Welt
blickt, sieht es ganz anders aus.

27 Der beste politische Witz?
Ich bin nicht so der Witze-Erzähler. Ich
finde Witze oft lustig, vergesse sie aber.

28 Was sagt Ihnen dieses Bild
(siehe Foto links)?
Sahra Wagenknecht mit offenen Haaren


  • Revolution.
    Wann ist es bei Ihnen so weit?
    Nur im Urlaub und privat. Im Job aber
    nie. Das hat zum einen praktische Grün-
    de: Die Haare stören nicht im Gesicht, ich
    muss an nichts rumfummeln und kann
    mich auf meine Arbeit konzentrieren.
    Und zum anderen: Eine klare Frisur ver-
    mittelt Ernsthaftigkeit und Seriosität. Für
    eine Ministerin, die gern lacht, ist das
    nicht schlecht.


29 Wovor haben Sie
Angst – außer dem Tod?
Vielleicht nicht Angst, aber schon Sorge
davor, dass die Feinde der Demokratie er-
starken, dass Menschen angefeindet und
angegriffen werden von denen, die ein
weltoffenes, tolerantes Land verachten.

30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass Rolf Zuckowski mit seinem Kinder-
lied recht haben könnte: »Immer wieder
kommt ein neuer Frühling, immer wie-
der kommt ein neuer März, immer wie-
der bringt er neue Blumen, immer wieder
Licht in unser Herz.«

Die Fragen stellte Peter Dausend

Jede Woche stellen wir in
wechselnden Ressorts
Politikern und Prominenten die
stets selben 30 Fragen, um zu
erfahren, was sie als politische
Menschen ausmacht – und wie sie
dazu wurden. Wo sich neue
Fragen ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv

Franziska Giffey, 41, wurde in Frankfurt/Oder geboren. Eigentlich wollte sie Lehrerin werden.
Heute ist sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN


Sahra Wagenknecht 2012 auf
einer Feier der Saarbrücker
Karnevalsgesellschaft

Illustration: David de las Heras für DIE ZEIT; kl. Foto: dpa


  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10 POLITIK 9

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