Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
Seoul– In Ostasien wächst die Furcht vor
dem Coronavirus. Südkoreas Regierung
korrigierte am Donnerstag die Gesamtzahl
der Infektionen um 53 auf 104 Fälle. Und
sie meldete den ersten Toten, einen 63-jäh-
rigen Mann. Die meisten der neuen Fälle
kommen aus Daegu. Der Bürgermeister
der Millionenstadt empfahl den Bürgern,
zu Hause zu bleiben. In Japan sind zwei Pas-
sagiere des QuarantäneschiffesDiamond
Princessgestorben.sz  Wissen

Washington – Der US-Botschafter in
Deutschland Richard Grenell wird zum
kommissarischen Direktor der nationalen
Nachrichtendienste ernannt. Der Geheim-
dienstkoordinator ist Chef der 17 US-Ge-
heimdienste. Die oppositionellen Demo-
kraten kritisierten die Besetzung mit Ver-
weis auf Grenells mangelnde Erfahrung
auf dem Gebiet. sz  Seite 4

Meinung


Donald Trump arbeitet an der


Abschaffung der Gewaltenteilung –


und niemand hält ihn auf 4


Politik


Österreichische Ermittler


verdächtigen FPÖ-nahe Vereine


des Spendenbetrugs 8


Feuilleton


Die Berlinale eröffnet mit


einem sentimentalen Film über


zeitlose Emotionen 11


Wirtschaft


Der IWF erklärt


Argentinien de facto


für zahlungsunfähig 17


Medien


Zum ersten Mal seit 2009


soll der Rundfunkbeitrag


wieder steigen 31


TV-/Radioprogramm 32
Forum & Leserbriefe 15
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 31
Traueranzeigen 20


von constanze von bullion
und joachim käppner

Berlin/Hanau– Ein „schwarzer Tag“, ein
„furchtbarer Einschnitt“ – nach dem Ter-
roranschlag mit elf Toten in Hanau hatten
Politiker aller Parteien am Donnerstag
Mühe, ihr Entsetzen in passende Worte zu
kleiden. Bundeskanzlerin Angela Merkel
äußerte sich in Berlin bestürzt über eine
neuerliche Gewalttat mit rechtsextremisti-
schem Motiv in Deutschland – nach den
Morden des NSU, der Erschießung des
CDU-Politikers Walter Lübcke und dem An-
schlag auf die Synagoge in Halle. „Rassis-
mus ist ein Gift. Der Hass ist ein Gift“, sagte
Merkel. „Wir stellen uns denen, die versu-
chen, in Deutschland zu spalten, mit aller
Kraft und Entschlossenheit entgegen.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmei-
er sagte am Donnerstagabend bei einer
Mahnwache in Hanau: „Heute ist die Stun-
de, in der wir zeigen müssen: Wir stehen
als Gesellschaft zusammen, wir lassen uns
nicht einschüchtern, wir laufen nicht aus-
einander.“ Auch in Berlin und anderen
Städten versammelten sich Tausende Men-
schen, um der Opfer zu gedenken.
Im hessischen Hanau waren in der
Nacht zum Donnerstag elf Menschen getö-
tet worden. Der Tatverdächtige, ein 43-jäh-
riger Deutscher, soll am späten Mittwoch-
abend zunächst vier Menschen in einer Shi-
sha-Bar und in einem Café erschossen ha-
ben, bevor er in einen anderen Stadtteil
fuhr und weitere fünf Menschen tötete,
einen von ihnen im Auto. Alle Toten hatten
einen Migrationshintergrund. Stunden
nach den Taten entdeckte die Polizei die
Leiche des mutmaßlichen Attentäters in ei-
nem Reihenhaus im Stadtteil Kesselstadt,
wo er offenbar wohnte. Auch seine 72-jähri-
ge Mutter wurde dort tot aufgefunden.
Bei dem mutmaßlichen Täter handele
es sich um Tobias R., einen Sportschützen
aus einem Frankfurter Schützenverein,
der legal eine Waffe besaß. Das teilte Hes-
sens Innenminister Peter Beuth (CDU) am
Donnerstag mit. Der Mann sei weder als
rechtsextrem bekannt gewesen, noch zu-

vor polizeilich in Erscheinung getreten. Bis
2018 soll er auch im südbayerischen Raum
gelebt haben. Aber auch dort besaß die Poli-
zei keinerlei Erkenntnisse über ihn.
Generalbundesanwalt Peter Frank attes-
tierte dem mutmaßlichen Hanauer Todes-
schützen eine „zutiefst rassistische Gesin-
nung“. Dies habe die Auswertung von Vi-
deobotschaften und einer Art Manifest auf
seiner Homepage ergeben. In dem Video
trägt R. wirre Verschwörungstheorien vor
und fabuliert, in den USA existierten unter-
irdische Militäreinrichtungen, in denen
man Kinder töte. Hinweise auf eine geplan-
te Gewalttat liefert das Video nicht. In
einem weiteren Manifest stellte Tobias R.
Überlegungen an, wie viele Deutsche „rein-
rassig“ seien und nannte zwei Dutzend Völ-
ker, die „komplett vernichtet werden“
müssten.
Die Morde von Hanau reihen sich offen-
kundig ein in eine Serie rechtsextremis-
tisch motivierter Schwerverbrechen. 2019
waren der CDU-Politiker Walter Lübcke er-
mordet worden und zwei weitere Men-
schen beim Angriff auf eine Synagoge in

Halle. Erst vergangene Woche hatte die
Bundesanwaltschaft Haftbefehl gegen
zwölf Männer erwirkt, die eine rechte Ter-
rorzelle gebildet haben sollen. Die Gruppe
soll Anschläge auf Politiker, Asylsuchende
und Muslime geplant haben.
Nun also Hanau, wo am Tag danach
auch Ratlosigkeit zu spüren war. Politiker
aller demokratischen Parteien versicher-
ten den Familien und Freunden der Opfer
ihre Solidarität – und äußerten die Hoff-
nung, dass neben körperlichen auch seeli-
sche Verletzungen heilen mögen. Nur, wie
sorgt ein Staat für innere Sicherheit nach
einer solchen Tat, auch bei Millionen Musli-
men in Deutschland? Am Donnerstag ver-
suchte eine ganze Reihe von Bundespoliti-
kern, Antworten zu geben.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karren-
bauer forderte, die „Brandmauer“ gegen
die AfD hochzuhalten. Innenminister
Horst Seehofer (CSU), der am Donnerstag
in Hanau die Tatorte besuchte, wollte am
Abend mit den Innenministern der Länder
darüber beraten, „wie wir die Sicherheitsla-
ge noch besser gewährleisten können“.

Neben großer Anteilnahme aber war am
Donnerstag auch wachsende Wut zu spü-
ren. Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zen-
tralrats der Muslime in Deutschland, for-
derte die Länder auf, „unsere Gotteshäu-
ser sichtbar und qualitativ zu schützen“.
Polizei und Justiz schienen „häufig auf
dem rechten Auge eine Sehschwäche zu ha-
ben“, sagte der Präsident des Zentralrats
der Juden in Deutschland, Josef Schuster.
Ähnliche Töne kamen aus der SPD. „Es ist
in der Tat so, dass Sicherheitsbehörden zu
lange ignoriert haben, was sich am rechten
Rand tut“, sagte SPD-Generalsekretär Lars
Klingbeil. FDP-Chef Christian Lindner for-
derte „eine Generalinventur, gegebenen-
falls aber auch eine Generalrevision unse-
rer Maßnahmen gegen Rechtsterror“.
Noch schärfer reagierte Jan Korte, Parla-
mentarischer Geschäftsführer der Links-
partei. „Es muss Schluss sein mit der Rela-
tivierung rechten Terrors und rechter Het-
ze“, sagte er. Mehr als 200 Menschen seien
seit 1990 in Deutschland von Rechtsextre-
misten ermordet worden. Muslime, Jüdin-
nen und Juden, aber auch Menschen, die
gegen Rassisten aufstünden, müssten um
ihr Leben fürchten. Nötig sei „ein umfang-
reiches Programm zu Entwaffnung der
Nazi-Strukturen“. Grünen-Chef Robert Ha-
beck sprach von einem „Tag des Zorns
über die Gewalt, die sich in die Gesellschaft
reinfrisst“. Der AfD-Vorsitzende Jörg Meut-
hen wies die Einordnung der Tötungen als
rechten Terror zurück. Es handle sich um
die „wahnhafte Tat eines Irren“.

Berlin– Unionsfraktionschef Ralph Brink-
haus fordert ein Mitspracherecht seiner
Fraktion bei der Auswahl des nächsten
CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandida-
ten. Brinkhaus sagte derSüddeutschen Zei-
tung, er beteilige sich zwar nicht an der öf-
fentlichen Debatte, was für welchen Kandi-
daten spreche. Eines sei aber klar: „Die
Fraktion wird bei diesen Machtfragen mit-
reden.“ Es könne „nicht sein, dass außer-
halb des Bundestages festgelegt wird, wie
der Rest der Legislaturperiode auszusehen
hat“. Das werde er „als Fraktionsvorsitzen-
der sicherlich nicht mitmachen“. Spekulati-
onen, er erwäge, selbst für den CDU-Vor-
sitz zu kandidieren, wies Brinkhaus zu-
rück. Auf die Frage, ob er sich um die Nach-
folge Kramp-Karrenbauers bewerben wer-
de, sagte er: „Nein.“ sz  Seite 7

Brüssel –Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat am Donnerstag die Erwartungen ge-
dämpft, dass sich die EU-Staats- und Re-
gierungschefs beim Sondergipfel in Brüs-
sel auf einen neuen Haushaltsrahmen für
die Union einigen. Vor Beginn der Verhand-
lungen, die bei Redaktionsschluss dieser
Ausgabe noch andauerten, sagte sie, dies
sei eine „komplizierte Aufgabe“, es gebe
„große Differenzen“. Die Gespräche über
den siebenjährigen Finanzrahmen sind
noch schwieriger als sonst, weil mit Groß-
britannien ein wichtiger Beitragszahler
wegfällt. EU-Ratspräsident Charles Michel
schlägt vor, dass die EU von 2021 bis 2027
insgesamt Finanzzusagen von fast 1,1 Billi-
onen Euro treffen kann.
Der frühere belgische Premier sagte am
Donnerstag, die Teilnehmer hätten viele

„legitime“ Bedenken: „Aber ich bin über-
zeugt, dass es möglich ist, in den nächsten
Stunden, den nächsten Tagen Fortschritte
zu erzielen.“ Auch Merkel sagte, sie hoffe,
dass man zumindest ein Stück weiterkom-
me. Endet die Zusammenkunft ohne Eini-
gung, doch mit Fortschritten, könnten sich
die Politiker vielleicht schon im März zu ei-
nem zweiten Sondergipfel treffen.
Umstritten ist vor allem das Gesamtvo-
lumen des Finanzrahmens. Michels Ent-
wurf sieht vor, dass die EU bis zu 1,074 Pro-
zent der Wirtschaftsleistung ihrer Mitglie-
der ausgeben kann. Im aktuellen Haus-
haltsrahmen, der 2020 ausläuft, sind es
1,03 Prozent – allerdings von einem größe-
ren Kuchen, weil noch die Wirtschaftskraft
Großbritanniens einberechnet wird. Die
EU-Kommission schlug für den neuen Rah-

men 1,14 Prozent vor, das EU-Parlament
fordert sogar 1,3 Prozent.
Staaten, die stark von Fördergeld für är-
mere Regionen profitieren, unterstützen
den Kommissionsvorschlag. Doch
Deutschland und die sogenanntenfrugal
four– die sparsamen vier – starten mit der
Verhandlungsposition, dass der Deckel bei
einem Prozent bleibt. Dieses sparsame
Quartett besteht aus den Niederlanden,
Schweden, Dänemark und Österreich, die
ein abgestimmtes Vorgehen ankündigten.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian
Kurz nannte als Ziel, „dass unser Beitrag
nicht ins Unermessliche steigt“. Wichtig ist
diesen Staaten genau wie Deutschland, er-
neut einen Beitragsrabatt zu erhalten. Oh-
ne Nachlass würde die Nettobelastung
Deutschlands von durchschnittlich 13 Mil-

liarden Euro im Jahr auf mehr als 22 Milli-
arden Euro jährlich steigen, wenn Michels
Vorschlag für den neuen Finanzrahmen an-
genommen wird. Merkel sagte, die Balan-
ce sei „noch nicht richtig ausgearbeitet“.
David Sassoli, der Präsident des Europa-
parlaments, warnte zu Beginn des Gipfel-
treffens, dass das Parlament „nicht jede be-
liebige Einigung akzeptieren wird“. Der
Haushalt kann ohne Zustimmung des Par-
laments nicht in Kraft treten. Alle Mitglied-
staaten stellen sich auf lange Verhandlun-
gen ein, die bis ins Wochenende gehen
könnten. Die Brüsseler Verkehrsbetriebe
haben die U-Bahn- und Bus-Stationen
rund um den Veranstaltungsort, das Rats-
gebäude, vorsichtshalber bis zum Samstag
gesperrt. karoline meta beisel,
björn finke, matthias kolb

Coronavirus breitet sich


in Südkorea aus


Einzeltäter, nicht allein:Rechte Terroris-
ten fühlen sich oft unterstützt  Seite 2
Wahn und Gewalt:Über eine mörderische
Nacht in Deutschland  Seite 3
Angriff auf ein freies Land:Kommentar
zu den Anschlägen in Hanau  Seite 4
Schießen als Hobby:Warum es so leicht
ist, an Waffen zu gelangen  Seite 6

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Die SZ gibt es als App
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Alpen Schnee und Regen. Sonst ist es
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Schauer, an den Küsten und im Bergland
stürmische Böen. Temperaturen vier bis
zwölf Grad.  Seite 15 und Bayern

Verhärtete Fronten beim EU-Gipfel


Nach dem Brexit sind die Verhandlungen über den Haushalt so kompliziert wie nie


US-Botschafter wird


Geheimdienstkoordinator


„Der Hass ist ein Gift“


Schüsse in einer Shisha-Bar, elf Tote und ein Land im Schock:


Alles deutet in Hanau auf einen rassistischen Anschlag hin. Die Kanzlerin


sagt dem Rechtsextremismus den Kampf an


Brinkhaus fordert


Mitspracherecht


Die Fraktion soll Einfluss auf die
Auswahl des CDU-Chefs haben

Außerdem in


dieser Ausgabe



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Steinheim

Hanau

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Kesselstadt

Main

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SZ-Karte: Mainka/Maps4News

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Hessen

19.2., ca. 22 Uhr:
Täter erschießt am Heumarkt
vier Menschen in und vor
der Shisha-Bar »Midnight«
Zweiter Tatort: und der Café-Bar »La Votre«.
Am Kurt-Schumacher-Platz tötet
Tobias R. in der Café-Bar »Arena«
fünf weitere Menschen.

20.2., 3 Uhr:
SEK stürmt Wohnung und findet zwei Tote,
den mutmaßlichen Täter und dessen Mutter

Dax▼ Dow▼ Euro▼


Goldraub: Milde Urteile im Fall der 100-Kilo-Münze Panorama


(SZ) Die Muttersprache ist die erste Fremd-
sprache, die der Mensch zu erlernen hat.
Wir erinnern uns dunkel: Im Uterus haben
wir eher weniger gesprochen, vielleicht
dann und wann ein paar Lippenbewegun-
gen gemacht, ansonsten haben wir milieu-
gerecht vor uns hingeblubbert. Später,
kurz nach dem Eintritt in die gedeutete
Welt, stand zwar die erste richtige Bekannt-
schaft mit der Mutter an; ihre Sprache er-
schien dem Neugeborenen einerseits ver-
traut, andererseits unverständlich. Aber
der Ehrgeiz, welcher dem Menschen ange-
boren zu sein scheint, trieb uns alle dazu
an, die Sprache der Mutter zunächst zu ver-
stehen und dann selbst aktiv anzuwenden.
Denn die Verständigung mit der Mutter ist
die erste Voraussetzung dafür, in den Ge-
nuss einer Vielzahl von materiellen Zuwen-
dungen zu kommen. Der Vatersprache da-
gegen wird ein nicht allzu hoher Stellen-
wert eingeräumt. Das liegt auch daran,
dass sie sich inhaltlich insofern mit der
Muttersprache deckt, als Anweisungen an
das Kind aus erzieherischen Gründen kei-
ne Widersprüche aufweisen dürfen. Aber
Achtung! Moderne Pädagogik greift hier
schon korrigierend ein.
Es gibt nämlich durchaus Gründe, auch
der Vatersprache einen kleinen Sockel in
der Wandelhalle des Spracherwerbs aufzu-
stellen. Weil Väter heutzutage in Elternzeit
gehen – schöner Ausdruck: in eine Zeit ge-
hen! –, stammen die ersten Worte, die der
Säugling hört, oft aus dem Mund von Vä-
tern. Wenn das Kind Glück und verschie-
densprachige Eltern hat, wächst es zwei-
sprachig auf und entscheidet vielleicht
schon nach frühen ästhetischen Maßstä-
ben, welche Sprache für ihn den schöneren
Wohllaut besitzt. Der Poet Max von Schen-
kendorf, von dessen Ruhm nur noch die Le-
gende weiß, dachte sich um 1811 ein Ge-
dicht aus, das er „Muttersprache“ über-
schrieb und mit folgenden Versen ausstat-
tete: „Ach, wie trüb ist meinem Sinn,
/Wenn ich in der Fremde bin,/Wenn ich
fremde Zungen üben, /Fremde Worte brau-
chen muss.“ Und hier muss man gleich Ein-
halt gebieten, denn solcherart Söhne kann
die Muttersprache überhaupt nicht gebrau-
chen. Sie will ja, im Gegenteil, dass wir
sprachgewandt und -sicher in die Welt hin-
ausziehen und dort neue Freunde finden,
deren Muttersprachen wir uns mit Freu-
den aneignen wollen, mit dem Ehrgeiz, sie
dereinst beinahe so gut zu sprechen wie
die eigene. Übrigens wurde dieses Lied im
preußischen Schulunterricht besonders
empfohlen.
Aber damals wusste man ja auch noch
nicht, was die Bildungsforscherin Nele
McElvany heute weiß, nämlich, dass man
„die Sprachen auf keinen Fall gegeneinan-
der ausspielen darf“. Das wird auch gar
nicht gehen, denn die Sprachen, Mutter-
sprache und Vatersprache, gehören ja zum
Weltkind, so wie der Tag der Mutterspra-
che – wir feiern ihn an diesem Freitag – zu
den Welttagen dieser Welt gehört.


DAS WETTER



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