Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
Kauffmann zeigte gern das Androgyne, hier „Ganymed, den Adler des Jupiters tränkend“, 1793. Im Katalog heißt es dazu: „Die
Entpolarisierung des Geschlechterdualismus setzte sich jedoch nicht dauerhaft durch.“ FOTO: M.TRETTER/VORARLBERG MUSEUM, BREGENZ

Eyal Weizman, Gründer der Londoner For-
schergruppe „Forensic Architecture“, die
mit forensischen Methoden staatliches
Unrecht, Menschenrechtsverletzungen
und Gewalt aufdeckt, darf nach eigenen
Angaben vorläufig nicht in die USA einrei-
sen. Zwei Tage bevor er nach Miami fliegen
wollte, wo im Museum of Art and Design ei-
ne Retrospektive von Forensic Architectu-
re eröffnet wurde, teilte ihm die Londoner
US-Botschaft mit, man habe ihm die Er-
laubnis, im Rahmen des Esta-Programms
ohne Visum einzureisen, entzogen. Als
Weizman dann bei der Botschaft ein Visum
beantragen wollte, wurde ihm mitgeteilt,
„der Algorithmus“ habe ihn als gefährlich
eingestuft. Ein Grund, so hieß es, könnten
Personen sein, die er getroffen, oder Orte,
die er besucht habe. Der Beamte fragte ihn,
ob er in Syrien, Iran, Irak, Yemen oder So-
malia gewesen sei. Er teilte ihm mit, sein
Fall würde schneller bearbeitet, wenn
Weizman der Botschaft Namen potenziell
verdächtigter Personen, mit denen er Kon-
takt hatte, nennen und eine Aufstellung sei-
ner Reisen der letzten 15 Jahre geben kön-
ne. Weizman lehnte das ab. Seine Ehefrau
Ines Weizman, Professorin an der Weima-
rer Bauhaus-Universität, war einen Tag zu-
vor in die USA eingereist. Sie wurde am
Flughafen in New York zweieinhalb Stun-
den befragt. In einem Statement erklärte
Weizman, Forensic Architecture plane par-
allel zur Ausstellung eine Untersuchung zu
Menschenrechtsverletzungen in einem
Flüchtlingslager in Florida, wo Kinder un-
ter „unmenschlichen Bedingungen“ inter-
niert würden. In der Ausstellung sei unter
anderem ein Projekt zu einem Drohnenan-
griff der CIA in Pakistan zu sehen. jhl


von johan schloemann

E


ine junge Frau steht am Scheideweg.
Aber nicht wie die meisten ihrer Zeit-
genossinnen damals zwischen Jung-
fernschaft und Ehe. Sondern zwischen ei-
ner Karriere als Sopranistin oder als Male-
rin. Es ist das Jahr 1757, ihre Mutter ist gera-
de gestorben. Angelika Kauffmann ist sech-
zehn Jahre alt. Sie entscheidet sich mutig
für die Malerei, eine professionelle Musik-
laufbahn hakt sie ab. Sie hat bisher in Grau-
bünden, am Comer See und in Vorarlberg
gewohnt, jetzt macht sie sich mit ihrem Va-
ter, einem unbedeutenden Maler, nach Ita-
lien und dann nach London auf – und wird
die berühmteste Porträtmalerin ihrer Epo-
che. Und zwar auch im Vergleich zu den
männlichen Kollegen, das muss in einer
Zeit der Relativierung weiblicher Leistun-
gen dazugesagt werden.
35 Jahre später – Angelika Kauffmann
residiert schon länger in einem Palazzo an
der Spanischen Treppe in Rom, wo sie ar-
beitet und Salon hält – erinnert sie sich an

ihre Lebensentscheidung und malt ihr
„Selbstbildnis am Scheideweg zwischen
Musik und Malerei“, das jetzt in einer
sehenswerten Ausstellung über sie im Düs-
seldorfer Kunstpalast hängt. Beide Künste
sind dort als Frauenfiguren personifiziert,
Kauffmann steht dazwischen, auf dem
Weg zum Ruhm – von ferne könnte man
meinen, hier würden ganz manierlich drei
Grazien oder Tugenden gezeigt, aber dann
erkennt man, dass die Künstlerin sich
selbst unerhörterweise an die Stelle des
Herkules gesetzt hat, der sonst am Scheide-
weg zwischen Tugend und Laster steht.
Also des männlichen Helden schlechthin.
Der Untertitel der Ausstellung, der sagt,
es handele sich hier um eine „Powerfrau“
und „Influencerin“, ist natürlich unglaub-
lich albern. Angelika Kaufmann hat keine
Youtube-Videos gedreht und kein Aerobic-
Studio geleitet. Sie war eine Meisterin der
Empfindsamkeit und des Klassizismus,
dessen Propheten Johann Joachim Win-
ckelmann sie 1764 in Rom so feinsinnig
porträtierte, dass es sie in ganz Europa
bekannt machte. Auch muss Angelika
Kauffmann, die mit Goethe und dem Bild-
hauer Canova befreundet war, nicht neu
entdeckt werden, wie jetzt manche ausru-
fen. Vor 22 Jahren gab es schon einmal eine
große Ausstellung in Düsseldorf, zehn Jah-
re später, zum 200. Todestag, eine in Bre-
genz und Schwarzenberg.
Dennoch hat diese neue Schau besonde-
re Vorzüge. Das liegt an der unermüdli-
chen Arbeit der Kauffmann-Expertin Betti-
na Baumgärtel, die auch die Düsseldorfer
Gemäldesammlung leitet. Erstmals aus
London verliehen sind Kauffmanns
allegorische Deckengemälde von 1780 für
die Royal Academy of Arts, wohin die Aus-
stellung in angepasster Form im Sommer
wandern wird. Als diese Kunstakademie
1768 von Joshua Reynolds gegründet wur-
de, war Kauffmann neben einer weiteren
Kollegin das einzige Gründungsmitglied.
Kunst studieren durften damals gar keine
Frauen, und auch als Mitglieder sollten die
nächsten Frauen erst im 20. Jahrhundert
hinzukommen. Von Aktzeichnungen nach
männlichen Modellen blieb Kauffmann
ausgeschlossen, echte Nacktheit gab’s nur
für Männer. Ein Selbstporträt mit Zeichen-
griffel aus der Zeit der Aufnahme in die Aca-

demy, zum ersten Mal aus Privatbesitz auf-
gespürt, drückt die Sensibilität und das
Selbstbewusstsein der Künstlerin aus.
Den „Influencer“-Untertitel kann man
wohlwollender gelten lassen als Hinweis
darauf, dass Angelika Kauffmann als gebil-
dete Kommunikatorin und Geschäftsfrau
auch auf ihre Vermarktung bedacht war.
So waren ihr die historischen und mytholo-
gischen Themen eigentlich am wichtigs-
ten, das erhabenste (und „männlichste“)
Genre der Malerei. Aber mit den Porträts
europäischer Adliger und Königinnen ver-
diente sie mehr Geld, und sie erkannte
Shakespeare- und Mittelalter-Motive
sowie empfindsame Heldinnen von Penelo-
pe bis Aggrippina als Marktlücken.

In dieser Spannung zwischen den Gen-
res, mit denen sie als Malerin geschickt
spielte, führt die Düsseldorfer Ausstellung
ebenso geschickt durch ihre Kapitel, mit
vielen wertvollen Leihgaben. Kauffmann
ließ Porträtierte in aufrichtiger Maskerade
in literarische Rollen schlüpfen, setzte
Modetrends und schaute italienischen
Stegreif-Dichterinnen bei der Perfor-
mance zu. Sie befeuerte als Kosmopolitin
die Antikenbegeisterung und beeinflusste
mittels massenhafter Reproduktionen ih-
rer Motive auf Tassen und Tapeten die
Wohnkultur, das Kunsthandwerk und die
eigene Prominenz. Sie malte die Skandal-
Lady Hamilton als Muse und zeigte gerne
das Androgyne und Männer mit Gefühlen.

Zu solchen Kult-Phänomenen der Aufklä-
rungszeit schreibt die Kuratorin im Kata-
log trocken: „Die Entpolarisierung des
Geschlechterdualismus setzte sich jedoch
nicht dauerhaft durch.“
Ach so, und spät heiratete Angelika
Kauffmann dann doch noch: mit 39 Jahren


  • nachdem sie vorher einem Heirats-
    schwindler zum Opfer gefallen war – den
    italienischen Maler Antonio Zucchi. Er
    durfte ihr Auftragsbuch führen.


Angelika Kauffmann.Künstlerin, Powerfrau, Influ-
encerin. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, bis


  1. Mai. Katalog (Hirmer Verlag) 45 Euro, im Muse-
    um 39,80 Euro. Info: http://www.kunstpalast.de


Die SängerinLana Del Reyhat ihre
Europatournee abgesagt. „Ich habe
meineGesangsstimme komplett verlo-
renund die Ärzte haben mir vorerst
vier Wochen Ruhe verordnet“, erklärte
sie am Donnerstag. dpa


Die Europäische Filmakademie, das
Internationale Dokumentarfilmfestival
Amsterdam und das Internationale
Filmfestival Rotterdam fordern die
Freilassungdes chinesischen Regis-
seursDeng Chuanbin(auch bekannt
als Huang Huang). Huang wurde am 17.
Mai 2019 verhaftet, nachdem er ein
politisches Meme getwittert hatte. sz


Es gibt da eine Phrase, die im englischen
Sprachraum gerade unvermeidlich zu sein
scheint. Wann immer jemand, ob Promi-
nenter oder Serienfigur aus einer Lebens-
krise zurückkehrt, verspricht er, von nun
an die „best version of himself“ sein zu wol-
len. Geboren wurde diese Aussage vermut-
lich aus einer Mischung von radikalem In-
dividualismus und dem im Silicon Valley
entstandenen Gedanken, dass Menschen
auch nur aus Software und Hardware beste-
hen, dass sie sich also optimieren lassen.
Auch Justin Bieber will das, genauer ge-
sagt, eine eigens von „Bieber Time Films“
produzierte Doku-Serie namens „Sea-
sons“ will es vermitteln.
Den Spannungsbogen mussten sich die
Macher dafür nicht lange ausdenken: Bi-
eber brach 2017 kurz vor Schluss seine
Welttournee ab, nachdem er 150 Konzerte
in 40 Ländern gespielt hatte. Offiziell fehl-
te es an Kraft, erst später folgten Geständ-
nisse über Pillen, Hustensäfte und Joints,
sowie ein offener Brief über Angstzustän-
de und Depressionen. Im Prinzip war Bi-
eber, mit 13 auf die Bühnen dieser Welt ge-
stoßen, nun sehr wahrscheinlich dort, wo
von der Industrie ausgesaugte junge Men-
schen oft landen: am Limit, kurz vor den
Untiefen, in denen sich viele seiner Vorgän-
ger entweder den Kopf kahlrasierten, ihr
Auto gegen einen Baum setzten oder den
goldenen Schuss in den Arm.
Die Mechanismen, die diesen Nieder-
gang in einer Superstar-Biografie auslö-
sen, hat zuletzt die BBC-Dokumentation
„Avicii: True Stories“ behandelt. Sie beglei-
tete den Produzenten und DJ Avicii auf
Tour und im Studio. Der Film zeigt einen ei-
gentlich sehr zarten Menschen, der zigfach
um die Welt gehetzt wird, oft nicht auftre-
ten will, sich dann aber doch breitschlagen
lässt. Der Zuschauer sah sein Hadern, die
Süchte und den Druck, den die Menschen
um ihn herum ausübten, die Manager, die
Promoter. Im Nachhinein dürften auch sie
sich alle gefragt haben, ob diese Dokumen-
tation nicht auch ihre Mitverantwortung
für die Umstände festhielt, die schließlich
zu Aviciis Selbstmord 2018 beitrugen.
Das Problem an „Seasons“ ist nun fol-
gendes: Die Dokumentation gibt zwar vor,
einen ähnlich detaillierten Einblick in die
komplexe Phoenix-aus-der-Asche-Phase
des Justin Bieber zu geben, ist dabei aber
kein Blick von außen, sondern ein Auftrags-
werk seines eigenen Managements. Ein do-
kumentarisch angestrichener Album-Tea-
ser. Von seinem Songwriter, Managerin
eins und Manager zwei und sonstiger Bi-
eber-Entourage sowie ihm selbst sieht und
hört man eigentlich fast nur Lobeshymnen
und Motivations-Sprüche.
Die erste Folge immerhin zeigt noch ei-
nen Besuch Biebers in seinem alten Apart-
ment-Block in Stratford, verbunden mit
ein paar naheliegenden Gedanken dar-
über, dass das Aufwachsen im Rampen-
licht nicht einfach ist. Ab Folge zwei ist

aber alles nur noch: amazing, incredible,
super-talented und awesome.
Bieber, so soll es der Zuschauer verste-
hen, hat den Weg aus dem Höllental gefun-
den, nimmt keine Drogen mehr, achtet auf
seine mentale Gesundheit und – genau –
versucht von nun an die beste Version sei-
ner selbst zu sein.
Noch dazu hat er relativ überstürzt ge-
heiratet und natürlich fällt seiner Frau Hai-
ley Baldwin hier auch die Rolle der Rette-
rin, der großen Rückenfreihalterin zu, die
Bieber überall unterstützt und alles erträg-
lich macht. Man will gar nicht wissen, was
für ein so Shitstorm über sie hereinbricht,
sollte diese Ehe je in die Brüche gehen.

So weit ist es allerdings noch nicht, des-
wegen ist Biebers neues Album „Changes“
in weiten Teilen auch genau ihr gewidmet.
Die ersten Zeilen („not sure what I was do-
ing before you“) zeugen von einer nicht ge-
rade ausbalancierten Verteilung der emoti-
onalen Zuständigkeiten: Mir ging es sehr
schlecht, aber jetzt hab ich ja dich und jetzt
ist irgendwie alles gut.
„Intentions“ enthält mit „heart full of
equity / you’re an asset“ die wohl eigenar-
tigste Liebe-trifft-Finanzmarkt-Metapher
des Jahres, funktioniert ansonsten aber ta-
dellos, genau wie „Yummy“, worin es natür-
lich nicht um Essen geht. Allen Songs hört

man deutlich an, dass hier kein einsames
Genie, sondern eine ganze Batterie einge-
spielter Menschen mitgearbeitet hat, wes-
wegen alles zwar recht stimmig klingt und
einigermaßen solide, aber leider auch
ziemlich mittelmäßig, wie ein Kompro-
miss: Hier ein bisschen Singer-Songwriter-
Gitarren, da ein paar Trap-Elemente.
Zumindest hier liefern die Vorab-Film-
chen einen ehrlichen Einblick, etwa in die
Arbeit von seines Songwriters Poo Bear,
der sich seit Jahren mit Bieber Songs aus
dem Ärmel schüttelt, stets textlich pas-
send zur aktuellen Lebenslage an der Ober-
fläche surfend. Oder die seines gutmüti-
gen Standard-Produzenten, der ihm bei
den Aufnahmen zu einem spanischen
Song, der es zum Glück nicht aufs Album
geschafft hat, darauf hinweist, dass es „no-
che“ und eben nicht „nochey“ heißt.
Was auf dem neuen Album abseits die-
ser langjährigen Vertrauten Biebers aber
hörbar fehlt, sind die Namen, die auf dem
Vorgänger „Purpose“ für die Hits gesorgt
haben, weil sie dem eingespielten Bieber-
Team neue Facetten abtrotzten: Ed Shee-
ran etwa, der „Love Yourself“ schrieb, des-
sen Producer Benny Blanco sowie Univer-
salgenie Bloodpop fehlen auf „Changes“,
das abgesehen vom dödeligen Ohrwurm-
Refrain in „Yummy“ nur wenig Auffälliges
bereithält. Und auch wenn die Aufma-
chung der Doku-Serie den Eindruck ver-
mittelt, dass Bieber seine Kräfte wiederge-
funden hat und stärker denn je zurückkeh-
ren will, ist die Mittelmäßigkeit des neuen
Werks vielleicht auch die Konsequenz ei-
nes zu frühen Comebacks.
In einer Folge der Serie, die wenigstens
im Ansatz über Lobpreisung und Happy
End der Heldenreise hinausgeht, spricht Bi-
eber über seine fortwährende Medikation,
seine Suche nach einer Stabilität, die er nie
hatte, seine Erkrankung an Borreliose und
die professionelle Hilfe von Psychologen
und Ärzten, die er sich gesucht hat. Teilwei-
se vergräbt er dabei das Gesicht zwischen
den Händen. Diese Szenen wollen so gar
nicht zum befremdlichen Durchhalte-Man-
tra passen, das sich sowohl durch die Film-
chen als auch das Album zieht und das die
Ursachen aller Probleme des Justin Bieber
eben stets in ihm selbst sucht.
Die Lehre: So lang man nur versucht,
mit allen Mitteln die beste Version seiner
selbst zu sein, können einem äußere Um-
stände wie etwa der gigantische Druck ei-
nes Comebacks nichts anhaben. In der Se-
rie sieht man Bieber mehrfach in einer ko-
misch anmutenden, aber sicher unfassbar
teuren aufblasbaren High-Tech-Sauer-
stoff-Kammer, die er sowohl im Studio, als
auch daheim regelmäßig verwendet. Auf
dessen Wirkung angesprochen, erklärt er,
sie „reduziere“ seine Angststörung. Auf
dem Titelsong von „Changes“ singt er: „I
just try to be the best of me / even though
sometimes I forget to breathe“.
quentin lichtblau

Einreiseverbot


Eyal Weizman von Forensic
Architecture darf nicht in die USA

Gattung und


Geschlecht


In Düsseldorf ist Angelika Kauffmann zu erleben,


die berühmteste Malerin des Klassizismus


KURZ GEMELDET


Im Sauerstoffzelt


Pop-Superstar Justin Bieber singt das Hohelied der Selbstverbesserung


„Intentions“ enthält
ohne Zweifel die eigenartigste
Liebesmetapher des Jahres

(^12) FEUILLETON Freitag, 21. Februar 2020, Nr. 43 DEFGH
Wieder auf der Suche nach der besten Ver-
sion seiner selbst: Justin Bieber, im Jahre



  1. FOTO: JOE TERMINI/DEF JAM/UNIVERSAL


Angelika Kauffmann in London, 27 Jahre
alt: „Selbstbildnis mit Zeichengriffel“,
um 1768. FOTO: J. PIPERGER/PRIVATSAMMLUNG

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