Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1

Einer okkulten Tradition zufolge merken
die Gestorbenen lang nicht, dass sie tot
und in die Geisterwelt eingegangen sind.
Erst nach einiger Zeit, schreibt zum Bei-
spiel Emanuel Swedenborg über das Nach-
leben seines theologischen Widersachers
Melanchthon, der nach seinem Tod noch
immer am Schreibtisch sitzt, als sei nichts
passiert, „fingen die Einrichtungsgegen-
stände an, bis zur Geisterhaftigkeit un-
sichtbar zu werden, ausgenommen der
Schreibsessel, der Tisch, die Blätter Pa-
piers und das Tintenfass. Außerdem wur-
den die Wände des Gemachs kalkfleckig
und der Boden wie gelber Firnis. Sogar die
Wäsche, die er trug, war viel gewöhnlicher.
Desungeachtet fuhr er mit dem Schreiben
fort, aber da er auf der Leugnung der Liebe
beharrte, verbrachten sie ihn in eine unter-
irdische Werkstatt, wo es andere Theolo-
gen gleich ihm gab.“ Und so weiter. „Die
letzten Nachrichten von Melanchton be-
sagen, dass der Magier und einer der Män-
ner ohne Gesicht ihn in die Dünen hinaus-
führten, und dass er heute eine Art Knecht
der Dämonen ist.“


Am 10. Dezember 1943 befahl Karl Hans
Maximilian von Le Suire, General der Ge-
birgstruppe der deutschen Wehrmacht,
der ihm unterstellten 117. Jäger-Division
die vollständige Zerstörung der durch ihre
Rolle in der Griechischen Revolution des
neunzehnten Jahrhunderts hochberühm-
ten peloponnesischen Kleinstadt Kalavry-
ta und die Ermordung sämtlicher Einwoh-
nerinnen und Einwohner. Es war eine der
willkürlichen Vergeltungsmaßnahmen ge-
gen die Zivilbevölkerung, für die die natio-
nalsozialistische Anti-Partisanen-Kriegs-
führung berüchtigt war. Die griechischen
Partisanenverbände der ELAS hatten in
der Nähe 70 deutsche Kriegsgefangene um-
gebracht, nachdem deren Austausch ge-
gen von den Deutschen gefangen genom-
mene griechische Kombattanten abge-
lehnt worden war.
Die waffenfähigen Männer von Kalavry-
ta wurden am 13. Dezember durch Maschi-
nengewehrfeuer massakriert, Frauen und
Kinder, bevor der Ort angezündet wurde,
ins Schulhaus eingesperrt (aus dem sie
sich jedoch während der allgemeinen Feu-
ersbrunst befreien konnten). Wiedergut-
machungsansprüche des Dorfs gegen die
Bundesregierung haben bis in unser Jahr-
hundert hinein eine Rolle gespielt. Im Jahr
2000 besuchte Bundespräsident Johannes
Rau die Gemeinde und legte am Denkmal
des Massakers einen Kranz nieder.
Die griechische Schriftstellerin Maria
Stefanopoulou webt in ihrem Roman
„Athos der Förster“ aus den Monologen un-
zuverlässiger Erzählerinnen ein poeti-


sches Netz aus Geschichten, die sämtlich
auf das Massaker von Kalavryta zurückge-
hen. Dessen Urheber und Opfer wechseln
in ihnen auf eine ähnliche Weise über die
Grenzen zwischen Leben und Tod, Litera-
tur und Geschichte, Wirklichkeit und Jen-
seits, Fiktion und Dokumentation hin und
her, wie es dem „Theologen im Tod“ laut
Swedenborgs Bericht vom geisterhaften
Nachleben Melanchthons geschieht.
Die Hauptfigur in dem literarisch-onto-
logischen Zwischenreich, das Stefanopou-
lous Roman mit diesen Erzählermonolo-
gen errichtet, ist der titelgebende Förster
Athos. Er hatte das ausgedehnte Bergwald-
gebiet um den hoch gelegenen Ort in den
Dreißigerjahren übernommen. Er war
zwar in der Gruppe der von den Deutschen
zum Exekutionsplatz geführten Männer
gewesen, aber seine Leiche wurde nie ge-
funden. In der Folge wird er von verschie-
denen Anwohnern gesehen. Seine Frau
und seine Tochter reden mit ihm. Wie in
manchen Familien für Verstorbene ein lee-
res Gedeck aufgelegt wird, ist er in den Le-
bensläufen seiner Tochter, seiner Enkelin
Lefki und seiner Urenkelin Iokaste eine
geisterhafte Präsenz von unbestimmtem
ontologischen Status.
Ihre Berichte sind von einer eigenarti-
gen Unbestimmtheit. Sie widersprechen
der linearen Logik, aber sie entsprechen
der assoziativen Logik posttraumatischer

Erinnerungsarbeit. „Eine Metapher ver-
wandelte sich langsam in ein Wesen aus
Fleisch und Blut.“ Athos der Förster ist zu
einer Figur dermythic fictiongeworden,
wie Fiktionen zwischen Kollektivhalluzina-
tion, Literatur, Archetypenlehre und Trau-
erarbeit in der Philologie der Fantasy-Lite-
ratur genannt werden. Der Wald um Kalav-
ryta verwandelt sich in einen griechischen
„Mythago Wood“ (Robert Holdstock), in
dem der Förster Athos umgeht als eine un-
verwirklichte Möglichkeit des von Partisa-
nen- und Bürgerkrieg bis in die Gegenwart
hinein zerrissenen Landes. „Er steht weder
auf der einen noch auf der anderen Seite.
Er zieht frei wie ein Vogel in die Berge, von
einem Gipfel zum anderen, mitten im Ku-
gelhagel und unter Gewehrsalven, und er
ergreift für niemanden Partei. Früher oder
später wird es Leute geben, die sich an ihm
rächen wollen. Heutzutage überzeugt man
keinen, wenn man neutral bleibt. Damit ist
man stets verdächtig. Als Grieche musst
du dem einen oder dem anderen Lager an-
gehören. Doch Athos gehört nur seinen
Träumen an.“
Das Originelle und technisch Anspruchs-
volle an Stefanopoulous Roman besteht
darin, dass sie die poetischen Möglichkei-
ten der okkulten, der Fantasy-Literatur
und des historisch-politischen Familienro-
mans auf gelungene Weise in den Dienst
politischermemory politicsstellt. Athos’

Enkelin Lefki macht in einem Erinnerungs-
bericht, den ihre Tochter Iokaste überlie-
fert (und als der sich am Ende als der Ro-
man „Athos der Förster“ selbst heraus-
stellt), ihren Großvater wieder lebendig –
als literarische Figur, aber auch als ein real
existierendes Zwischenwesen zwischen
Traum und Wirklichkeit, Tod und Leben,
Geschichte und Gegenwart: „Obwohl sie
selbst erst zwölf Jahre danach geboren wur-
de, spürte sie, dass es ihre Pflicht und
Schuldigkeit war, dem Toten zu seinem
Recht zu verhelfen und ihn wieder ins Le-
ben zurückzuholen.“ Maria Stefanopoulou
macht mit ihrem faszinierenden und merk-
würdigen Buch nicht nur ein tragisches Ka-
pitel der deutsch-griechischen Geschichte
auf überraschende Weise literarisch erfahr-
bar, sondern sie kommentiert in ihm auch
die polarisierten und ineinander verkeil-
ten innenpolitischen Verhältnisse Grie-
chenlands. Man ist nach der Lektüre in ei-
ner unbewachten Ecke seines Inneren
überzeugt, dass einem der Förster Athos,
wenn man nur aus dem Augenwinkel hin-
sähe, irgendwo in den Bergwäldern Grie-
chenlands heute noch tatsächlich begeg-
nen könnte. stephan wackwitz

Maria Stefanopoulou: Athos der Förster. Roman.
Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger. El-
fenbein Verlag, Berlin 2019. 248 Seiten, 22 Euro.

Es ist die Kaspar-Hauser-Geschichte, die
Damiano Femferts Debütroman als Folie
unterlegt ist: An einem Junitag des Jahres
1952 wird in der nordargentinischen Pro-
vinz Jujuy, im Grenzbereich zum westli-
chen Nachbarland Chile, ein verletzter
Mann gefunden. Er hat nichts als seine
Kleider am Leib, keine Papiere bei sich, ist
nicht bei Bewusstsein und wird in das Kran-
kenhaus der in der Nähe gelegenen Pro-
vinzstadt S. gebracht. Dessen Chefarzt, Dr.
Rodrigo Sebastian Rivenport, wird zu sei-
nem Unmut von seiner Haushälterin beim
Sortieren seiner Schmetterlingssamm-
lung im Keller seines Hauses gestört und
an das Bett des Unbekannten gerufen, der
von nun an über Monate hinweg die Ge-
rüchteküche der Stadt am Köcheln hält.

Die Kernfrage, die sich aus der Konfron-
tation des nicht sprechenden, aber perma-
nent besprochenen Fremden mit einer in
sich geschlossenen Gemeinschaft ergibt,
ist im Grunde jene Frage, die gegenwärtig
wieder an Dringlichkeit gewinnt: Wie viel
Zuschreibung und wie viel Eigenanteil ste-
cken in dem, was wir als Identität bezeich-
nen? Der Fremde, ein für die Gegend unty-
pisch großer, noch dazu blonder und blau-
äugiger Mann, ist als bloße Projektionsflä-
che den Spekulationen ausgesetzt und be-
ginnt naturgemäß erst nach seinem Aufwa-
chen aus dem Koma Eigenschaften zu ent-
wickeln: So verwirrt auch sein Geist zu sein
scheint, so groß sind seine Begabung für
das Orgelspiel und, das wird als komisches
Element und Kontrapunkt zur katholi-
schen Frömmigkeit inszeniert, seine Geil-
heit. Ein durchreisendes englisches Ehe-
paar stellt die Vermutung an, der Mann
könne Deutscher sein. Darauf angespro-
chen, bringt er den Namen „Kurt“ hervor.
So wird er auch zukünftig genannt werden.
Femferts in der Anlage kluger Plot ent-
wickelt zu Beginn eine Spannung, die sich
aus dem historischen Kontext speist: Ein
Deutscher, der wenige Jahre nach Kriegs-
ende in Südamerika auftaucht, eignet sich
bestens als literarisches Spekulationsob-
jekt: Ist Kurt möglicherweise ein Täter?
Ein Opfer? Ein Schmuggler oder ein Selbst-
mörder?
Damiano Femferts Roman scheitert al-
lerdings zunehmend an der strategischen
Grundsatzentscheidung des Autors, seine
Geschichte zwar in der dritten Person,
aber aus der Perspektive des Arztes Riven-
port zu erzählen: Ein verwitweter Mann
um die 50; ein Langweiler, dessen größte
und von Femfert vollkommen überzeichne-
te Angst die vor Veränderungen ist. Die we-
nig originelle Gedankenwelt dieser Figur
wird ungefiltert übernommen und infi-
ziert den Text mit ihrer Banalität: Die An-

den? „Das Jagdrevier der Adler und Kormo-
rane. Das Reich der Zorros, Chinchillas und
einer Vielzahl unentdeckter Insektenar-
ten.“ Man kommt hungrig nach Hause?
„Die gute Maria würde sicher etwas Feines
gezaubert haben.“ Tiefschürfend wird es
auch immer, wenn Rivenport über Grund-
sätzliches sinniert: „Religion, Gott und
Glaube sind ähnlich wie Metaphysik oder
Mathematik abstrakte Konzepte, die nicht
leicht zu erklären sind.“ Oder auch: „Chile
und Argentinien, tatsächlich zwei unter-
schiedliche Welten.“ Die Reihe der in den
Textfluss gespülten Phrasenmüll-Beispie-
le ließe sich beliebig fortführen.
Das überschaubare Reflexionsniveau
der Hauptfigur und deren bräsige Aus-
druckswelt finden ihre Entsprechung in
der Art und Weise, wie Damiano Femfert
seinen vielversprechenden Ansatz ver-
schenkt. Rivenports akribisch gepflegtes
Hobby der Schmetterlingssammlung ist
eng verbunden mit dem Phänomen der Ver-
puppung und der Transformation eines
Wesens in ein anderes.
In „Rivenports Freund“ ist das NS-Re-
gime gerade einmal seit sieben Jahren pas-
sé. Die Kurt-Frage könnte also lauten: Wie
anpassungsfähig an die sich verändernden
äußeren Umstände kann ein Individuum
sein? Ist Kurt, das vermeintlich unbedarfte
musikalische Genie, dem sich der men-
schenscheue Rivenport vorsichtig freund-
schaftlich annähert, traumatisiert oder ein
glänzender Schauspieler?

All das ist in „Rivenports Freund“ bes-
tenfalls angerissen, im ungünstigsten Fall
einfach nur benannt, ohne erzählerisch
ausgeführt oder in evidente Zusammen-
hänge gebracht zu werden. Dem hochbri-
santen politischen Aspekt, der in der Figur
des Kurt steckt, wird Femfert ebenso we-
nig gerecht wie dem dämonischen Potenti-
al, das sich aus dem Spiel mit dem Klischee
des blonden, hünenhaften, blauäugigen
Deutschen schöpfen ließe.
Das Porträt eines einsamen, in sich ge-
fangenen Mannes auf der Suche nach ei-
nem Ausweg aus der Einsamkeit, psycholo-
gisches Verwirrspiel, historisch determi-
nierter Krimi – all das wollte Damiano Fem-
fert möglicherweise schreiben, doch endet
sein aufwendig aufgepumpter Roman
dann doch mit einem enttäuschenden Zi-
schen. „Rivenports Freund“ ist der Fall ei-
nes ambitionierten Autors, der sich bei sei-
nem Debüt überhoben hat.
christoph schröder

Damiano Femfert: Rivenports Freund. Roman. Ver-
lag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 298
Seiten, 22 Euro.

von samir sellami

W


er so liest, wie Roland Barthes ge-
lesen hat, mit der unbedingten
Lust am Text und ohne jegliche
Angst vor Unauflösbarkeit des Sinns, neigt
dazu, einem Autor beinahe blind zu ver-
trauen, der seine Gedichte mit „aber“,
„stattdessen“ oder auch nur einem „&“ be-
ginnen lässt. „Aber die Sprache – / Im Ge-
witter / spricht der Gott“ lautet der Anfang
eines weniger bekannten Hölderlin-Frag-
ments, und begegnet man solchen Versen
mit offenen Ohren, weiß man sofort, wo
man gelandet ist: im heilignüchternen Be-
zirk der Dichtung, wo die Sprache sich
beim Sprechen selbst befühlt und beobach-
tet.
In den Gedichten von Ocean Vuong geht
es, auf den ersten Blick zumindest, ganz an-
ders zu. Man findet dort Verse von entwaff-
nender Direktheit, anti-ironischer Trans-
parenz und einer Durchlässigkeit der Wör-
ter zur Welt, die viel mehr von überborden-
dem Sprachvertrauen als von Sprachskep-
sis zeugt. „Die Weichheit des Körpers / be-
wahrt uns / vor Einsamkeit“, heißt es da
zum Beispiel, oder: „Ich dachte, Liebe sei
echt / & der Körper erfunden“, oder auch:
„Ich dringe in / mein Leben / wie Worte / in
mich drangen /durch /die Stille /dieses
weit/ geöffneten Mundes“. Tragen solche
Sätze in ihren sanften Verfremdungsleis-
tungen noch Eleganz in sich, gerät man an
anderer Stelle gefährlich nah an den Ab-
grund der Trivialität („Hör zu, meine Au-
gen sind nicht / deine Augen“) oder der in-
spirativen Kalendersprüche („Ocean, hab
keine Angst./ Das Ende des Wegs ist so
fern, / dass es schon hinter uns liegt“).
Man kann solche Sätze, deren Leuchten
weniger mit schillernden Diamanten als
mit milchklarem Modeschmuck gemein
hat, kitschig finden, ja übergriffig in ihrer
unumwunden ausgestellten Emotionali-
tät. Doch Vuong scheint mit der Überzeu-
gung zu schreiben, dass zwanghafte Kitsch-
vermeidung für Lyrik mindestens ebenso
schädlich ist wie allzu großes Kitschver-
trauen, und so lassen sich unter all dem Ge-
klimper mindestens zwei Sorten gelunge-
ner Gedichte finden: die sprachverknap-
penden, organisch abgerundeten auf der
einen und die schrofferen, härter gefügten
auf der anderen Seite. Ein gutes Beispiel
für letztere ist „Morgenmusik mit brennen-
der Stadt“, das Szenen vom Fall Saigons
am letzten Tag des Vietnamkriegs mit Text-


schnipseln von Irving Berlins „White
Christmas“ verschneidet. Seine Großmut-
ter hatte berichtet, dass der „Schneesong“
im amerikanischen Militärradio lief, als
der Vietcong auf eine Stadt vorrückte, die
noch nie eine Schneeflocke gesehen hatte.
Bekannt geworden ist der 31-jährige
Sohn vietnamesischer Einwanderer mit
seinem hochgelobten Romandebüt „Auf
Erden sind wir kurz grandios“, das 2019 in
deutscher Übersetzung erschien und in
dem der Herzschlag des Lyrikers auf jeder
Seite zu spüren ist. Kaum mehr als ein
halbes Jahr später erscheint nun also
Vuongs bisher einziger Gedichtband, in
dem fast jedes Gedicht auch eine kleine
Geschichte erzählt. Der Roman tritt als
Brief an die Mutter auf, die ihn wegen ihrer
Leseschwäche wahrscheinlich nie lesen

wird. In den Gedichten hingegen ist auf-
fällig oft von Vätern die Rede. Väter, die
immerzu anderswo, abwesend oder gar tot
sind, wütende, gewaltbereite, bewaffnete
Väter, Väter in Gefängniszellen, Väter auf
verblassten oder durchgeweichten Foto-
grafien. Vuongs affektgeladene Lyrik ist
nicht zuletzt gegen die Männlichkeits-
bilder gerichtet, die von solchen notorisch
abwesenden Vaterfiguren noch immer ef-
fektvoll verbreitet werden.
So begegnen wir in „Nachthimmel mit
Austrittswunden“ einem schwulen, quee-
ren Dichter, der mit seiner Sexualität völlig
im Reinen ist, der Sinnlichkeit riskant mit
Sentimentalität vermischt, der seine Kind-
heit als Mädchenjahre erinnert und die
Sprache als selbstverständlichen Teil sei-
nes Körpers begreift. Die meisten von
Vuongs Heldinnen (sic!), die in Zitaten und
Anspielungen durch seine Texte, Dank-

sagungen und Interviews geistern, sind
folgerichtig weiblich, queer, feministisch
und subversiv: Arthur Rimbaud, Emily
Dickinson, Federico Garcia Lorca, Frank
O’Hara, Yoko Ono, Roland Barthes. Mit
Letzterem teilt Vuong nicht zuletzt den
Hang zu einer diskret inszenierten Homo-
sexualität, die anders als im Roman fast zu
diskret wirkt für einen Autor, der nach eige-
ner Aussage den Körper ins Zentrum
seines Schreibens setzt. So muss man sich
bis zum letzten Drittel des Buches ge-
dulden, wo das wunderbare Gedicht „Ode
an die Masturbation“ die oft schwerelos
anmutenden Körpermetaphern mit dem
Gegengewicht expliziter Sprache be-
hängt.
Eine ähnliche Form der Ausdrücklich-
keit findet man in dem vielleicht besten Ge-
dicht des Bandes, „Notizbuchfragmente“.
Es handelt sich dem Titel gemäß um eine
lose montierte Ansammlung von lyrischen
Aperçus, Erotika, Tagebucheinträgen,
Textmessages, Zitaten von Grandma, und
mittendrin plötzlich die bestürzend abrup-
te Erinnerung an die Zufallsgeschichte der
eigenen Existenz: „Ein amerikanischer Sol-
dat fickte ein vietnamesisches Bauernmäd-
chen. Deshalb gibt es meine Mutter. Des-
halb gibt es mich. Deshalb keine Bomben =
keine Familie = kein Ich.“
Wer Interviews mit dem Autor gelesen
hat, wird auch in den übrigen Gedichten
viel Material aus seinem Leben wiederer-
kennen. Aber weit mehr als im Roman sind
die Lebensdaten in den Gedichten vielfach
gebrochen und poetisch verformt. Es han-
delt sich weniger um die Wiederbelebung
authentischer Erlebnisse als um transfor-
mative „Selbstporträts mit Austrittswun-
den“, wie es das gleichnamige Gedicht aus-
drücklich nahelegt. Vuongs Gewährsmann
Roland Barthes fasste eine solche Haltung
beim Schreiben über sich selbst in die unwi-
derstehlich elegante Formel: „Ich sage
nicht: Ich werde mich beschreiben, son-
dern: Ich schreibe einen Text und nenne
ihn R. B.“ Bei Ocean Vuong heißt dieser
Text, der ganz am Ende des Buches steht:
„Eines Tages werde ich Ocean Vuong lie-
ben“. Wie in den meisten seiner Gedichte
spricht hinter der vermeintlichen Transpa-
renz immer auch die Sprache diskret über
sich selbst. In Gedichten, könnte sie sagen,
geht es entgegen anderslautenden Behaup-
tungen gar nicht darum, seine Stimme zu
finden, sondern lediglich darum, sich an
den eigenen Namen zu gewöhnen.

Am 10. Dezember 1943 befahl Karl Hans Maximilian von Le Suire, General der Gebirgstruppe der deutschen Wehrmacht, der
ihm unterstellten 117. Jäger-Division die vollständige Zerstörung der Stadt: Mahnmal in Kalavryta. FOTO: PETROS GIANNAKOURIS /AP

Notizen aus dem Zwischenreich


Fantasy als Mittel der Erinnerungspolitik: Maria Stefanopoulous Roman „Athos der Förster“


Ein Deutscher, der kurz nach
Kriegsende in Argentinien
auftaucht: Ist er Opfer oder Täter?

Ohne Gedächtnis


Damiano Femferts „Rivenports Freund“


Die waffenfähigen Männer


von Kalavryta wurden mit


Maschinengewehren massakriert


Der aufwendig aufgepumpte
Roman endet in einem
enttäuschenden Zischen

Die meisten seiner Heldinnen sind weiblich, queer, feministisch und subversiv, er selbst ist fast übergriffig in seiner unver-
stellten Emotionalität: der amerikanische Autor Ocean Vuong. FOTO: LUCA BRUNO / AP

Ocean Vuong: Nachthim-
mel mit Austrittswunden.
Gedichte. Zweisprachig.
Aus dem Englischen von
Anne-Kristin Mittag.
Carl Hanser Verlag,
München 2020.
176 Seiten, 19 Euro.

Wütende Väter


Gegen die zwanghafte Kitschvermeidung:


Ocean Vuongs Gedichtband „Nachthimmel mit Austrittswunden“


Seinen eigenen Körper
thematisiert der Dichter hier
ungewohnt diskret

14 HF2 (^) LITERATUR Freitag, 21. Februar 2020, Nr. 43 DEFGH

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