Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
Mailand– Diesmal lud Gucci-Designer
Alessandro Michele die 800 ausgewählten
Gäste persönlich mittels einer Sprachnach-
richt auf WhatsApp zu seiner Schau ein.
„Wenn du in Mailand bist und Zeit hast,
komm vorbei“, sagte er. Damit fingen die
Überraschungen erst an. Vor Ort betrat das
Publikum dann den Raum vom Backstage-
Bereich aus, dort wo die Visagisten und Fri-
seure die 80 Models in weißen Bademän-
teln stylten. Mitten im dunklen Saal drehte
sich ein Karussell, auf dem die Frauen
dann angekleidet wurden. Noch nie durfte
man so genau hinter die Kulissen des Mo-
dezirkus schauen. Zu den hypnotischen
Klängen von Ravels „Bolero“ traten die Mo-
dels schließlich an den Rand der Scheibe.
Kein Laufsteg, kein Defilee – Michele bot
pure Performance. Er beherrscht sie auch
an sich selbst immer besser: Rotkariertes
Flanellhemd, lange Haare, pastellgrün la-
ckierte Fingernägel. Seine besten Kunden,
die Chinesen, haben also was verpasst.
Denn die Mailänder Modeschauen für
die kommenden Herbst- und Winterkollek-
tionen gehen in den Zeiten des Coronavi-
rus im Ausnahmezustand über die Bühne.
Es fehlen nicht nur hunderte Einkäufer
aus der abgeschotteten Volksrepublik.
Auch der Verkauf stockt immer mehr. Ein
Luxuslabel nach dem anderen nimmt die

Wachstumsprognosen für das gerade be-
gonnene Jahr zurück. Der Ausbruch des Vi-
rus hat die Branche mit Wucht getroffen.
Denn die meisten exklusiven Modeherstel-
ler sind von China extrem abhängig. Viele
machen dort ein Drittel ihres Geschäfts.
Das Wachstum der Branche ging 2019 zu
90 Prozent auf das Konto ausgabenfreudi-
ger Chinesen. „Ihr Fernbleiben ist für uns

ziemlich relevant“, sagt Carlo Capasa, Chef
der Mailänder Modekammer.
Gucci zum Beispiel. Die französische Lu-
xusholding Kering, dessen 15,8-Milliarden-
Euro-Umsatz überwiegend von der Floren-
tiner Modemarke erwirtschaftet wird, er-
zielt 34 Prozent seiner Verkäufe in der
Volksrepublik. Seit dem 24. Januar geht
dort nun praktisch gar nichts mehr. Ge-

schlossene Einkaufszentren, verkürzte La-
denöffnungszeiten, keine Kundschaft. So-
gar der Onlinehandel leidet, weil auch die
Logistikzentren lahmgelegt sind. Das Pro-
blem hat sich ausgeweitet. „Nach ein paar
Tagen schlug die Wirkung auch auf die Ver-
käufe in Europa und in den Vereinigten
Staaten durch“, sagte Kering-Chef Franco-
is-Henri Pinault vor einer Woche. In Euro-
pa geben chinesische Reisende pro Kopf
im Schnitt 790 Euro für Kleidung aus.
Nach Gucci kam in Mailand die Marke
Moncler mit einer spektakulären Präsenta-
tion an die Reihe. Die rasant wachsende
Daunenjacken-Firma ist derzeit ein Lieb-
ling der Luxusindustrie. Der Virus traf das
hoch profitable Börsenunternehmen hart.
Der Absatz in China ging seit dem Beginn
der Epidemie um 80 Prozent zurück, infor-
mierte das Modehaus vor zehn Tagen Ana-
lysten. Betroffen seien auch die anderen
Länder der Region, weil die chinesischen
Touristen ausblieben. Moncler machte im
vergangenen Jahr mehr als 40 Prozent sei-
nes Umsatzes in Höhe von 1,6 Milliarden
Euro in Asien. Wie andere Markenunter-
nehmen konnte Moncler die empfindli-
chen Einbußen in Hongkong infolge der
Protestwelle gegen die Regierung der Son-
derverwaltungszone 2019 mit dem starken
Wachstum in China ausgleichen.

Die nervösen Mode-Chefs halten sich
mit Prognosen zurück. Zu ungewiss sei der
weitere Verlauf der Epidemie. „Im Dezem-
ber hatten wir für 2020 ein Wachstum von
drei Prozent erwartet, aber mit dem Aus-
bruch des Virus ist alles anders“, sagt Mode-
kammer-Chef Capasa. Das mittlere Szena-
rio des Verbands geht nun von einem Um-
satzrückgang um 1,5 bis 2,5 Prozent aus.
Aber auch wer nicht so stark vom China-
Geschäft abhängig ist, macht sich Sorgen.
„Es entsteht eine Psychose, die nicht nur
chinesische Kunden erfasst“, sagt Frances-
ca Bellettini, die italienische Chefin des
französischen Modehauses Yves Saint Lau-
rent. Showroom-Besitzer in Mailand bestä-
tigen das. Die Angst vorm Reisen geht gene-
rell um, heißt es. So hätten etwa die Ameri-
kaner nur auf das dringend erforderliche
Maß zusammengestutzte Teams zur Fa-
shion Week nach Italien geschickt. Der um-
brische Kaschmirverarbeiter Brunello Cu-
cinelli versucht der Kalamität etwas Positi-
ves abzugewinnen. Er hat den Absatz in
China nie besonders vorangetrieben und
produziert ausschließlich in Italien. Es
hilft nichts: Nun sich auch die 15 Cucinelli-
Dependancen in China geschlossen. „Vom
Wohlstand lernt man nichts, große Schwie-
rigkeiten stoßen dagegen den Wandel an“,
sagt er, zum Trost. ulrike sauer

von jens flottau, christoph
giesen und meike schreiber

Frankfurt/Taipeh– Es fing mit zwei Ma-
schinen von Boeing an, 1993 war das.
1,4 Millionen Dollar Startkapital stellte die
Provinzregierung der chinesischen Tro-
peninsel Hainan zur Verfügung, den Rest
kratzten Gründer Chen Feng und sein Kom-
pagnon Wang Jian zusammen. Chinas ers-
te mehrheitlich private Fluglinie nahm ih-
ren Betrieb auf: Hainan Airlines. Was ein-
mal klein begann, wurde schnell sehr groß.
„Uns gehören Flugrouten zu Orten, wo
nicht einmal Hasen hinscheißen“, sagte
Chen einmal in einem Interview. „Der hal-
be chinesische Luftraum ist unter unserer

Kontrolle.“ Vorbei womöglich. HNA droht
die Verstaatlichung, meldete die Nachrich-
tenagentur Bloombergzuerst. Der Ein-
bruch der Passagierzahlen durch den Coro-
navirus-Ausbruch scheint das Ende der
ersten privaten chinesischen Fluggesell-
schaft beschleunigt zu haben. Eine der er-
staunlichsten Expansionsgeschichten in
der Luftfahrtindustrie geht wohl zu Ende.
Ja, eine der waghalsigsten Wachstumsstra-
tegien eines Unternehmens in den vergan-
genen Jahren ist gescheitert.
Aus der Fluggesellschaft war rasch ein
Konglomerat geworden, weitverzweigt
mit dem Namen HNA, gegründet 2000, der
Geschäftssitz in Haikou, der Hauptstadt
Hainans. Dutzende Beteiligungen kamen

hinzu, bald wuchsen nur wenige Unterneh-
men weltweit schneller als HNA, ein welt-
weites Imperium mit etlichen Milliarden
Dollar Umsatz entstand, das meiste davon
zugekauft. Eine Beteiligung an den Hilton-
Hotels: 6,5 Milliarden Dollar für 25 Pro-
zent. 2016 übernahm das Unternehmen
den amerikanischen IT-Großhändler In-
gram Micro für insgesamt sechs Milliar-
den Dollar.
Auch in Deutschland investierte HNA:
Den Regionalflughafen Hahn im Hunsrück
erwarb der Konzern. Ja selbst bei der Alli-
anz klopfte man selbstbewusst an. Mehr
als 90 Milliarden Euro Börsenwert, ach,
warum nicht? Wachstum, koste es, was es
wolle. Statt bei der größten deutschen Ver-

sicherung stiegen sie schließlich beim ers-
ten Geldhaus des Landes ein, bei der Deut-
schen Bank. 3,4 Milliarden Euro zahlte
HNA für 9,9 Prozent der Anteile. 2017 war
das ein wichtiger Vertrauensbeweis für die
kriselnde Bank. HNA sehe das Institut als
„sehr attraktives Investment“, lobte die
„hervorragende DNA und die starke Marke
der Bank“, die sich auch wieder in Gewinn
und Aktienkurs widerspiegeln würden.
Man sehe sich als langfristiger Ankeraktio-
när und werde die künftigen Schritte des
Instituts als Aktionär unterstützen.
Auch einen Sitz im Aufsichtsrat hatte
sich der Konzern gesichert, suchte über
Treffen mit dem damaligen Bankchef John
Cryan die Nähe zum Management des Geld-

hauses. Allein, der Aktienkurs entwickelte
sich anders als erhofft. Auch die Finanzauf-
sicht beäugte den Investor aus der Volksre-
publik kritisch. Bereits zwei Jahre später
kündigten die Chinesen wieder den Rück-
zug an und verkauften ihren Anteil schritt-
weise. Seit Ende 2019 ist das Kapitel end-
gültig abgeschlossen.
Aber da war man schon längst über den
Zenit und das auf Pump zusammengekauf-
te Gebilde ins Wanken geraten. Die meis-
ten Beteiligungen sind verkauft, viel da-
von mit Verlust. Auf das Kerngeschäft, die
Luftfahrt, wollte sich das Unternehmen
wieder konzentrieren. Doch nun könnte
selbst das nicht mehr eigenständig funktio-
nieren. Dabei hatte das Unternehmen, be-
ginnend mit Hainan Airlines, ein stark
wachsendes Konglomerat von chinesi-
schen Fluggesellschaften aufgebaut und
war damit der einzige private Anbieter, der
eine ähnliche Größe wie die drei staatli-
chen Airlines Air China, China Southern
und China Eastern erreicht hat.

Zu HNA gehören neben Hainan Airlines
14 weitere chinesische Gesellschaften, dar-
unter Tianjin und Hong Kong Airlines.
HNA investierte auch international, unter
anderem in Azul Airlines aus Brasilien,
TAP Portugal und Virgin Australia. Die
Gruppe ist am stark wachsenden Flugzeug-
leasingunternehmen Avolon beteiligt.
Nun werden die drei großen chinesi-
schen Fluggesellschaften voraussichtlich
nicht nur indirekt gestärkt, denn die HNA-
Airlines sollen auf sie verteilt werden. Of-
fenbar sollen auch Regionalregierungen
einspringen, um regionale Fluglinien zu
retten. HNA hatte in vielen chinesischen
Provinzen gemeinsam mit den örtlichen
Verwaltungen lokale Airlines gegründet
und so ein immer breiteres Netz von Fir-
men geschaffen.
Wegen des Coronavirus ist der Flugver-
kehr nicht nur nach, sondern vor allem
auch innerhalb Chinas eingebrochen. Die
Fluggesellschaften haben zwei Drittel bis
drei Viertel aller Flüge gestrichen, die
meisten Flugzeuge stehen am Boden. Die
Zentralregierung in Peking hat bereits be-
schlossen, der Branche insgesamt finanzi-
ell unter die Arme zu greifen. Fluggesell-
schaften können Verluste, die jetzt entste-
hen, über acht Jahre steuerlich geltend
machen, üblich waren sonst fünf. Eine In-
frastrukturabgabe, die bei jedem Ticket fäl-
lig war, ist ausgesetzt, nun sollen Anleihen
für frisches Geld sorgen, um die Zeit zu
überbrücken, bis die Nachfrage sich erholt.
Für HNA reichte das nicht mehr.

Frankfurt– Der US-Flugzeughersteller
Boeing versucht mit einer Kehrtwende in
letzter Minute möglichen Strafzöllen der
Europäischen Union zu entkommen. Auf
Wunsch des Konzerns haben zwei Abgeord-
nete im Parlament des Bundesstaates
Washington einen Gesetzesentwurf einge-
bracht, der Steuererleichterung für das Un-
ternehmen außer Kraft setzt. Die USA und
die EU werfen sich seit 2004 in zwei ge-
trennten Verfahren vor der Welthandels-
organisation (WTO) vor, Boeing und Airbus
mit unzulässigen Subventionen zu unter-
stützen. Nachdem die WTO im Verfahren
gegen die EU/Airbus die USA bereits dazu
ermächtigt hat, erhebt das Land Strafzölle
auf EU-Importe, darunter 15 Prozent auf
Airbus-Flugzeuge. Das Verfahren gegen
die USA ist später gestartet und wird daher
auch später, vermutlich in den nächsten
Monaten abgeschlossen. Es gilt als wahr-
scheinlich, dass dann auch die EU Zölle auf
Boeing-Jets und andere amerikanische
Produkte erheben darf. Boeing hat nach
einer Aufstellung derSeattle Timesalleine
2018 Steuernachlässe des Staates Washing-
ton in Höhe von knapp 100 Millionen Dol-
lar erhalten. Der Gesetzentwurf sieht vor,
die nun aufzuschlagende Steuerlast zu
kompensieren. Doch dies dürfte vor dem
Hintergrund des WTO-Verfahrens kaum
zu halten sein. jens flottau


Berlin– Für Daniel Scheerer ist es ein
schwerer Schritt, doch der tödliche Unfall
soll endlich Konsequenzen haben. Am



  1. Mai 2018 kehrte seine Mutter von einer
    Zugfahrt nicht zurück. Sie starb mit 73 Jah-
    ren bei dem schweren Unglück von Aich-
    ach bei Augsburg. Ihr Zug war in ein Gleis
    eingefahren, das besetzt war. Die Regional-
    bahn prallte auf einen Güterzug. Auch ein
    Lokführer starb. Der Cybersicherheitsex-
    perte aus München hat sich seither dem
    Kampf für eine sicherere Bahn verschrie-
    ben. Mit einer Bundestagspetition will er
    nun erreichen, dass Bahn und Behörden
    auch auf Nebenstrecken moderne und si-
    chere Technik nachrüsten.
    Der 52-Jährige hat nach dem Unfall die
    einschlägigen Passagen des Koalitionsver-
    trags und die Eisenbahnbau- und Betriebs-
    ordnung studiert – und stieß teils auf laxe
    Vorgaben. So sei es der Bahn möglich, über
    1000 mechanische Stellwerke aus der
    Nachkriegszeit als „für einen sicheren Ei-
    senbahnbetrieb“ zugelassen zu betreiben.
    Ergebnis könnten folgenschwere Unfälle
    auf eingleisigen Strecken sein, die sich
    durch den Einsatz verfügbarer Technik ver-
    hindern ließen, warnt Scheerer. Er fordert
    deshalb nicht nur eine Reform der Bahn-
    Betriebsordnung. Die Petition mahnt auch
    einen Umbau des Konzerns an. Die Netz-
    sparte der Bahn solle in einer gemeinnützi-
    gen Organisationsform geführt werden,
    weil betriebswirtschaftliche Vorgaben
    mehr Sicherheit im Wege stünden.
    Zum Verhängnis wurde Scheerers Mut-
    ter beim Unfall auch, dass ein Stellwerk oh-
    ne zusätzliche Sicherheitselektronik be-
    trieben wurde. In solchen Fällen werden
    Fahrdienstleiter bei Problemen nicht auto-
    matisch gewarnt. Auch fast zwei Jahre
    nach dem Unfall hat sich die Technik noch
    nicht überall durchgesetzt. Die Bahn hat in-
    zwischen aber angekündigt, bis 2023 nun
    600 „ältere“ Stellwerke für 90 Millionen
    Euro nachzurüsten und auch mit der Nach-
    rüstung begonnen. Bundesweit gibt es
    aber insgesamt 1200 Stellwerke ohne zu-
    sätzliche elektronische Absicherung.
    Ob Scheerer die Bahn zu mehr verpflich-
    ten kann, ist offen. Bis nächste Woche
    muss er 50 000 Unterschriften sammeln,
    um sein Anliegen persönlich im Bundestag
    vortragen zu dürfen – bislang sind es erst
    einige Hundert. Doch auch wenn das Quo-
    rum verfehlt wird, kann der Petitionsaus-
    schuss des Bundestags sich des Anliegens
    annehmen. markus balser


Gescheitert


Mit Fluggesellschaften ist der chinesische Mischkonzern HNA einst groß geworden, dann wuchs er
immer weiter, kaufte sogar Anteile an der Deutschen Bank. Jetzt ist es aus, der Staat greift ein

Allein auf dem Laufsteg


Die Mailänder Modeschauen bieten ungewöhnliche Inszenierungen – aber es fehlen in diesem Jahr etliche Besucher


Boeing will


Strafzölle verhindern


Die Airlines werden nun
offenbar auf die drei großen
Fluggesellschaften verteilt

DEFGH Nr. 43, Freitag, 21. Februar 2020 (^) WIRTSCHAFT HF2 19
Fliegt auch „zu Orten, wo nicht einmal Hasen hinscheißen“: Die chinesische Fluggesellschaft Hainan. FOTO: AFP
Gucci präsentiert sich auf einem Karussell statt auf einem Laufsteg.FOTO: AP/L. BRUNO
Petition gegen
riskante Technik
Hinterbliebener des Unglücks von
Aichach macht Druck auf die Bahn
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