Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
Als sich Richard Grenell vor ein paar Ta-
gen auf Twitter in ein Scharmützel mit
dem Senator für Jugend und Soziales der
Hansestadt Rostock, dem Linken-Politi-
ker Steffen Bockhahn, begab, ahnte er wo-
möglich schon, dass sein Boss ihn für Hö-
heres ausersehen hatte. Grenell, von
Amts wegen Botschafter der USA in
Deutschland, formulierte in einem einzi-
gen Satz eine Art Generalabrechnung.
„Sie wünschen sich USA“, twitterte der
53-Jährige , „die Sie nicht zur Zahlung ih-
rer Nato-Pflichten drängen, wegschauen,
wenn Sie zu viel russisches Gas kaufen,
nicht zwingen, Ihren in New York leben-
den Nazi-Gefängniswärter zurückzuneh-
men, Ihre höheren Autozölle akzeptieren
und trotzdem noch 50000 Soldaten in Ihr
Land schicken“. Die Wortmeldung ist
nicht untypisch für das Wirken jenes Man-
nes, den US-Präsident Donald Trump
nun zum kommissarischen Geheim-
dienstkoordinator berufen hat. Stets be-
lehrend, oft aggressiv und häufig belei-
digt, hinterließ Grenell in Berlin diploma-
tisch eine Spur der Verwüstung.
Schon kurz nach der Ankunft attestier-
te ihm der einstige SPD-Chef Martin
Schulz, er führe sich auf wie ein „rechtsex-
tremer Kolonialoffizier“. Sahra Wagen-
knecht von der Linken und Wolfgang
Kubicki von der FDP forderten seine Aus-
weisung, „diplomatischer Totalausfall“
gehörte noch zu den freundlicheren Be-
schreibungen. Vermutlich war das ein
Start nach dem Geschmack von Donald
Trump, der schon lange fand, dass
Deutschland zu viel Geld mit Autos ver-
dient und zu wenig davon in Panzer und
Kampfflugzeuge investiert. Trump wollte
jemanden, der den Deutschen Bescheid
stößt. Er fand Grenell.

Mit Auftritten beim Fernsehsender
Fox News hatte sich der Republikaner,
der einst auch für den Präsidentschafts-
kandidaten Mitt Romney gearbeitet hat-
te, als ein loyaler Gefolgsmann empfoh-
len. Für Grenell sprach wohl auch, dass er
zwar als Sprecher der US-Botschaft bei
den Vereinten Nationen Erfahrung in der
internationalen Politik gesammelt hatte,
aber keinerlei Neigung zu diplomatischen
Umgangsformen hatte erkennen lassen.
So gab Grenell zu Beginn seiner Berliner
Botschafterzeit ausgerechnet dem rechts-
populistischen US-Portal Breitbart ein In-
terview, in dem er ankündigte, er wollte

„Konservative in ganz Europa stärken“.
Auch die Tatsache, dass er sich als Fan des
damals in einer Koalition mit den rechten
Freiheitlichen regierenden Österreichers
Sebastian Kurz zu erkennen gab, erwies
sich in Berlin nicht als Türöffner. Anfangs
gab es noch Fotos wie das von Grenell mit
seinem Partner Matt Lashey, Hund Lola
und Gesundheitsminister Jens Spahn
(CDU). Später eher nicht mehr. In kürzes-
ter Zeit brachte es der Botschafter in Ber-
lin zu phänomenaler Unbeliebtheit.
Scheinbar unbeeindruckt davon pflüg-
te Grenell mit Tweets, Briefen und Stel-
lungnahmen durch die politische Land-
schaft. Herrisch forderte er das Ende von
Geschäftsbeziehungen mit Iran, verlang-
te er die Einhaltung des Zwei-Prozent-
Ziels der Nato, die Aufgabe der Ostsee-
Pipeline Nord Stream 2 und den Aus-
schluss Chinas vom Aufbau des 5G-Net-
zes. In Deutschland war das eher kontra-
produktiv; bei Trump kam es an. In des-
sen Auftrag betätigte sich Grenell zuletzt
auch als Vermittler zwischen Serben und
Kosovaren.
Mitunter tat Grenell allerdings auch,
was normale Botschafter tun. Regelmä-
ßig lud er etwa Wirtschaftsleute und Abge-
ordnete zum Gespräch. Wobei diese aller-
dings nur selten den Eindruck gewannen,
dass Grenell interessierte, was sie zu sa-
gen haben. „Die Amtszeit von Grenell mar-
kiert einen Tiefpunkt in den deutsch-ame-
rikanischen Beziehungen“, resümiert der
außenpolitische Sprecher der SPD im Bun-
destag, Nils Schmid. Er hoffe auf einen
Nachfolger, der sich nicht nur als „Laut-
sprecher des Präsidenten“ verstehe, son-
dern auch Meinungen und Einschätzun-
gen aus Deutschland nach Washington
transportiere. daniel brössler

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VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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von werner bartens

U


m kommende Plagen zu prognosti-
zieren, braucht es keine medizini-
schen Vorkenntnisse. Viel wichti-
ger ist, ob man zu Optimismus oder Pessi-
mismus neigt. Die Bedrohung durch Seu-
chen hat es immer schon gegeben, nicht
erst seit Corona. Früher waren es Pest,
Cholera, Tuberkulose. Mit Verbreitung
der Antibiotika wurden bakterielle Lei-
den weniger, doch nicht die Infektions-
krankheiten insgesamt. Die Seuchen der
vergangenen Jahre, also Sars, Mers, Vo-
gelgrippe, Schweinegrippe und jetzt Coro-
na, sind vor allem viralen Ursprungs. Es
wird nicht der letzte Ausbruch durch zu-
vor kaum bekannte Viren sein.
Jeder Virologe weiß, dass Viren schlam-
pig sind, wenn es darum geht, sich zu ver-
mehren. Etliche Mutationen werden an
die nächste Generation weitergegeben;
oft sind sie nicht überlebensfähig, doch ei-
nige kommen durch. Ganz wenige davon
können wiederum Menschen plötzlich ge-
fährlich werden. Ob dabei – und wenn ja,
wann – ein „Supervirus“ entsteht, ist un-
gewiss. Supervirus heißt ein Erreger, der
eine große Gefahr für die Menschheit dar-
stellt, da er sich schnell ausbreiten kann
undmit schweren Symptomen einherge-
hen würde.
Ob es überhaupt zu diesem tragischen
Zufall kommt, kann niemand vorhersa-
gen. Es könnte morgen geschehen, über-
morgen, nächstes Jahr, in zehn oder in
hundert Jahren – vielleicht auch nie. Die
Prognose ist nicht einmal eine Frage der
Wahrscheinlichkeitsrechnung, dazu spie-
len zu viele unbekannte Faktoren eine
Rolle, sondern ob man eben optimistisch
oder pessimistisch in die Welt schaut.
Der aktuelle Corona-Ausbruch geht
zwar mit bedrückenden Zahlen an Infi-
zierten und Todesopfern einher. Derzeit
ist aus virologischer Sicht aber trotzdem
noch nicht vom Supervirus die Rede. Das

kann sich ändern. Mit dieser Ungewiss-
heit werden wir auch künftig umgehen
müssen, der wissenschaftlichen Fort-
schritte zum Trotz. Denn Viren sind unbe-
rechenbar. Zudem werden Plagen häufi-
ger. Die globale Mobilität, das Vordringen
in bisher kaum erschlossene Weltgegen-
den, die Nähe zu anderen Lebewesen, das
alles trägt dazu bei.
Allerdings gibt es biologische Indizien,
die optimistisch stimmen. Es ist unwahr-
scheinlich, dass demnächst ein Seuchen-
zug Millionen Menschen hinrafft, denn vi-
rale Leiden schwächen sich oft ab. Die Er-
reger haben meistens kein Interesse dar-
an, Menschen zu töten. Sie wollen in ih-
rem Wirt ein wohnliches Umfeld haben.
Und je mehr Menschen infiziert sind, des-
to eher gewöhnt sich das Virus an „seine“
Menschen und wird weniger gefährlich.
Irgendwann verschwindet die Krankheit
womöglich ganz oder bleibt harmlos.

Jedoch gibt es auch Gründe für Pessi-
mismus. Wir werden damit leben müs-
sen, dass es gegen viele virale Leiden kei-
ne Therapie gibt und keine Impfung. Inso-
fern ist es Schönfärberei, wenn Politiker
betonen, dass Deutschland auf eine neue
Seuche vorbereitet wäre. Klar, eine Pan-
demie fände nicht so schnell so viele Op-
fer wie etwa in Afrika. Aber wo es keine
kausale Therapie gibt, kann auch moder-
ne Medizin wenig ausrichten. Notfallplä-
ne kämen schnell an ihre Grenzen, wenn,
wie jetzt in China, Zehntausende infiziert
wären und jeder Verdachtsfall mit erhöh-
ter Temperatur die Klinik aufsuchen wür-
de. Kein Grund zur Panik also – aber auch
kein Grund, so zu tun, als ob Deutschland
immun wäre gegen kommende Leiden
oder verheerende Seuchenzüge.

von stefan kornelius

N


ach dem erfolglosen Impeachment
hat Donald Trump einen bedenkli-
chen Schub in seiner wahnhaften
Vorstellung vom Rechtssystem der USA
erlitten. Der Präsident hängt ja nicht nur
der irrigen Annahme an, dass er über dem
Recht stehe. Nein, nun gebärdet er sich im-
mer stärker als Akteur im Justizsystem,
dessen oberster Beamter er behauptet zu
sein. Er habe „das absolute Recht“, dem
Justizministerium Anweisungen zu ge-
ben, meint Trump.
Dieses Recht hat Trump nicht, aber er
nimmt es sich. Er greift in das Strafverfah-
ren gegen seinen Freund und engen Zuar-
beiter Roger Stone ein, er verlangt Ermitt-
lungen gegen Widersacher, kommentiert
Urteile, begnadigt Straftäter nach wenig
nachvollziehbaren Kriterien, bevorzugt
dabei halbseidene Zeitgenossen aus dem
erweiterten Kreis seiner Anhänger. Das
System reagiert wie gelähmt. Staatsanwäl-
te, vielleicht bald auch der Justizminister
selbst, entziehen sich durch Rücktritt
dem Druck des Präsidenten und glauben,
so wenigstens ein Zeichen setzen zu kön-
nen. Doch das Problem geht tiefer, bedeu-
tend tiefer. Donald Trump arbeitet an der
Abschaffung der Gewaltenteilung. Er be-
treibt persönlich Willkürjustiz.
Die Trennung von Justizapparat und
Regierung gehört zu den ewigen Proble-
men jeder Demokratie. Natürlich werden
Staatsanwaltschaften und Richter auch
nach politischen Kriterien ausgewählt,
nicht nur nach fachlichen. Das geschieht
in den meisten Demokratien. Ein gutes
System reduziert aber den Einfluss der
Politik, schafft Besetzungsausschüsse, un-
terhält ein komplexes Regelwerk für Be-
gnadigungsverfahren, politische Wei-
sungsbefugnisse und Eingriffsmöglich-
keiten. Der Konflikt der Europäischen Uni-
on mit der polnischen Regierung über die
Justizreform des Landes zeugt von der po-

litischen Dehnbarkeit der Vorstellung von
einer unabhängigen Justiz.
In den USA hat sich nach dem Water-
gate-Skandal die Praxis eingebürgert,
dem Justizministerium und den Ermitt-
lungsbehörden politische Leine zu lassen.
Trump dreht die Praxis nun in ihr Gegen-
teil und treibt das System in einen Belas-
tungstest. Er will sich die Justiz zum Werk-
zeug machen.

Trumps Rechtsverständnis ist nicht im
juristischen Seminar gewachsen, es hört
auch nicht auf den Rat von Experten, es
zeigt keinen Respekt vor der Rechtskultur
des Landes. Trump war sein Leben lang
ein Regelbrecher, der die Nähe zu Figuren
aus der Welt des Halb- oder Unrechts such-
te. Sein geradezu kindlicher Umgang mit
dem Gnadenrecht zeugt von der vollstän-
digen Ignoranz simpler Grundsätze wie
der Gleichheit vor dem Recht. Wie ein Feu-
dalherrscher schenkt er die Freiheit und
freut sich an den Tränen der Beglückten.
Wie ein Mafioso schützt er den Clan und
holt die Verurteilten aus den Kerkern.
Alle Präsidenten vor Trump haben das
Gnadenrecht missbraucht – in Maßen.
Trump beginnt nun erst, seine vermeintli-
che Allmacht auszuprobieren. Den diplo-
matischen Apparat der USA hat er bereits
kaltgestellt, diverse Aufsichtsbehörden
und die unabhängige Notenbank stehen
unter seinem politischen Druck, der repu-
blikanische Kongress ist nach dem Im-
peachment kein Korrektiv mehr. Nur das
Militär hat sich dem Zugriff des Präsiden-
ten weitgehend verweigert. Bisher.
Ein Rechtsstaat kollabiert nicht plötz-
lich. Er wird ausgehöhlt, missbraucht, ge-
piesackt, bis die Mehrheit das Gefühl für
das Recht verloren hat. Dann bricht er.

D


ie Schätze in den Museen sind die
Schätze aller. Wer Kunstwerke
stiehlt oder sie in betrügerischer
Absicht fälscht, bereichert sich nicht nur
unlauter, sondern er beschädigt auch das
gemeinsame kulturelle Erbe. Kunst ist
mehr als ihr Geldwert, und die große ge-
prägte Goldmünze aus dem Berliner Bode-
Museum war mehr wert als ihr Material.
Inzwischen wurde sie wohl einge-
schmolzen, jedenfalls tauchte sie wäh-
rend des Prozesses um den Einbruch in
das Museum nicht auf. Zwei Diebe und ihr
Helfer, ein Wachmann des Museums, sind
nun in Berlin zu mehrjährigen Haftstra-
fen und zur Rückzahlung des Geldwertes
verurteilt worden. Das Strafmaß bleibt un-


ter dem von der Staatsanwaltschaft gefor-
derten. Was überrascht, ist der Gleich-
mut, mit der dieser Prozess geführt und
teilweise auch bewertet wurde, obwohl
das Ausmaß des Kunstdiebstahls neu ist
und die Gefahr besteht, dass Einbrecher
noch mehr Schmuck, Münzen und Skulp-
turen zum Einschmelzen stehlen. Was bei
dem Juwelendiebstahl im Dresdner Grü-
nen Gewölbe schon geschehen ist.
Es ist an der Zeit, Kunst besser zu schüt-
zen, Wachleute fest anzustellen, den
Schwarzmarkt auszuleuchten, in Museen
zu investieren. Ein Beginn wäre es, Kunst-
diebe oder -fälscher nicht für Helden zu
halten, die lässliche Sünden begehen, son-
dern für Verbrecher. kia vahland

A


rgentiniens finanzielle Lage ist ka-
tastrophal, das bestätigt nun sogar
ein Bericht des Internationalen
Währungsfonds (IWF). Die Schuldenlast
sei untragbar, allein komme Argentinien
nicht aus der Krise. Man könnte nun mei-
nen, dies sei eine schlechte Nachricht für
das Land. Doch ihm wird der Bericht nüt-
zen, als Druckmittel für einen Schulden-
schnitt. Schaden dagegen wird das Papier
ausgerechnet der Institution, die den Be-
richt in Auftrag gegeben hat.
Keine zwei Jahre sind vergangen, seit
der IWF 2018 einen Rekordkredit an das
Land vergab. Damals war in Argentinien
noch Mauricio Macri an der Macht, ein Un-
ternehmer und Liebling der Märkte. Er


brauchte Geld, um seine wirtschaftslibera-
le Politik zu stützen, 57 Milliarden wurden
ihm vom IWF zugestanden, so viel Geld,
wie kein Land je zuvor bekommen hatte.
Von Anfang an gab es Bedenken, ob Ar-
gentinien diese Summe je zurückzahlen
würde und die Auflagen streng genug wä-
ren. Dennoch wurde das Geld überwiesen,
auch noch, als klar war, dass ein großer
Teil für Spekulationen und Kapitalflucht
genutzt wurde. Erst die neue Regierung
stoppte die Zahlungen, doch da war es zu
spät. Argentinien steckt tiefer in der Krise
denn je. Selbst der IWF sieht das nun ein –
und das ist eine schallende Ohrfeige für
die Institution und deren Ex-Chefin
Christine Lagarde. christoph gurk

E


ine mächtige Drohung der Inten-
danten von ARD und ZDF an die Poli-
tik lautet stets: Wenn die Rundfunk-
abgabe nicht deutlich steigt, reiche das
Geld nicht mehr fürs Programm; es müsse
dann dort noch mehr gestrichen werden
als jetzt schon. Eine Drohung, die mit dem
Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags
argumentiert – und Mitarbeiter in Sorge
versetzt. Sorge um Aufträge und Auskom-
men, aber auch um Qualität, um den
journalistischen und künstlerischen An-
spruch von Fernsehfilmen oder Dokus.
Umso verstörender ist es, was der
Bericht der Kommission zur Ermittlung
des Finanzbedarfs der Rundfunkanstal-
ten (Kef) nun darlegt: Vor allem die ARD


schöpfte den Betrag, den sie von der Kef
für Programmaufwand bewilligt bekam,
in den vergangenen vier Jahren über-
haupt nicht aus. 413 Millionen Euro wur-
den nicht ausgegeben. Dabei ist es egal, ob
das Geld umgeschichtet wurde, versehent-
lich liegen blieb oder auf irgendeine hohe
Kante kam. Der öffentlich-rechtliche
Rundfunk wird von Teilen der Bevölke-
rung infrage gestellt. Er muss mit seinem
gesellschaftlichen Wert überzeugen,
wenn er nicht scheitern will. Wer da lamen-
tiert und doch freiwillig am Programm
spart, hat nichts verstanden.
413 Millionen: Die Zahl belegt dras-
tisch, dass etwas gewaltig schiefläuft in
den Anstalten. claudia tieschky

S


ieht man nur jenes Video an, in
dem der bürgerlich wirkende
Massenmörder Tobias R. der
Welt erklärt, dass das US-Militär
in unterirdischen Stützpunkten
Kinder töte und Satan anbete, könnte
man sagen: O.k., der Typ ist ballaballa,
und seinesgleichen gibt es viele auf You-
tube. Nun hat der Typ aber zehn Men-
schen umgebracht, die er, mit Ausnahme
seiner Mutter, erschossen hat, weil er Aus-
länder, Fremde, Nichtdeutsche und was
es dergleichen Begriffe mehr gibt, töten
wollte. Die Mordnacht von Hanau war ras-
sistisch motivierter Terrorismus – egal ob
der Täter nach medizinischen Kriterien
psychisch krank war oder nicht.
Rassistisch motivierten Terrorismus
dieser Art hat es in Deutschland in der ers-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuhauf
gegeben. Er ist gewachsen auf einer in der
Bevölkerung verbreiteten Fremdenfeind-
lichkeit, die sich damals vor allem, aber
nicht nur gegen Juden gerichtet hat. Es wa-
ren zunächst Einzeltäter und dann Grup-
pen, die von Teilen der Gesellschaft ge-
schützt und von Teilen der Polizei nicht
oder nur zögerlich verfolgt wurden, die als
„Gesinnungstäter“ von der Justiz oft mil-
de behandelt wurden.


Die Zwanziger- und Dreißigerjahre des
vergangenen Jahrhunderts wiederholen
sich nicht. Es besteht heute keine Um-
sturzgefahr; es gibt keine revisionistische
Außenpolitik, die „verlorenes“ Land zu-
rückholen will; die allermeisten Men-
schen leben, denken und lieben anders als
vor hundert Jahren. Dennoch gibt es gera-
de in Deutschland mehr als genug Anlass,
sich mit vielem auseinanderzusetzen, was
war, weil manches, was heute ist, zu sehr
an das erinnert, was damals war.
Jene „Einzeltäter“ von München 2016,
von Halle 2019 und jetzt von Hanau haben
genauso wie der Mörder des Regierungs-
präsidenten Lübcke auch in der Gewiss-
heit geschossen, es gäbe viele, die so däch-
ten wie sie – aber eben noch nicht so han-
delten. Die Menschen, auf die diese Ver-
brecher zielen, stammen aus den gleichen
Gruppen wie die Zielpersonen ihrer geisti-
gen Ahnen vor hundert Jahren: Juden,
Ausländer, Vertreter des „Systems“. Hin-
zugekommen sind Muslime und Flüchtlin-
ge ganz generell. Wie schnell Massenmor-
de eine Gesellschaft verändern können,
zeigt sich bei einem Blick in die USA: Die
Zahl dershootingsist dort so groß gewor-
den, dass sie beinahe zum Alltag gehören.
Der Präsident betet, die Zivilgesellschaft


empört sich, und drei Monate später
bringt wieder einer zwölf Menschen um.
Auch wenn das furchtbar ist, gibt es kei-
nen Grund zur Resignation, im Gegenteil.
Glücklicherweise existiert jenes angeb-
lich homogene Deutschland des vergange-
nen Jahrhunderts nicht mehr, denn genau
dieses Deutschland war verantwortlich
für die monströsen Verbrechen, die eben
kein Vogelschiss in der Geschichte sind.
Deutschland heute ist ein sehr diverses,
oft anstrengendes Land, in dem man der
Zukunft am selben Ort begegnet wie einer
enervierenden Beharrlichkeit. Aber die-
ses Deutschland ist – trotz Hanau und
Halle – das freieste, das beste Deutsch-
land, das es je gab.
Genau dieses Deutschland greifen die
Mörder an, wenn sie auf Migranten schie-
ßen. Aber nicht nur die Mörder greifen es
an, sondern auch jene, die ihnen den Bo-
den bereiten. Jene, die dauernd von „Über-
fremdung“ reden, die Politiker, den Staat,
das Gemeinwesen verächtlich machen,
die Lebensstile mit Krankheiten gleichset-
zen („links-grün versifft“), die unablässig
versuchen, Grenzen zu ziehen zwischen
„uns“ und „denen“. Sie setzen Muslime ge-
zielt herab, wie etwa der Polemiker Sarra-
zin; sie brechen Tabus, weil sie die Gesell-
schaft spalten wollen wie der Alt-Reaktio-
när Gauland; sie gesellen sich offen zu
Neonazis wie das Thüringer Führerlein
Höcke. Diese Leute laden zwar nicht selbst
die Pistolen der Mörder. Aber sie schaffen
jene Atmosphäre, in denen sich die Mör-
der nicht als „Einzeltäter“ fühlen müssen


  • die sie ja auch nicht sind.
    Ja, „der“ Staat muss die Bekämpfung
    des Rechtsextremismus mit all seinen Er-
    scheinungen viel intensiver betreiben als
    bisher. Synagogen und Moscheen müssen
    besser bewacht werden, solange die Ge-
    fährdung so groß ist. Zur Prävention ge-
    hört auch, dass vielschüssige Handfeuer-
    waffen nicht mehr von Privatleuten, auch
    nicht von Sportschützen, zu Hause aufbe-
    wahrt werden dürfen. Das ist kein General-
    verdacht gegen Schützen, sondern die nö-
    tige Konsequenz aus etlichen Mordtaten.
    Staatliches Handeln aber reicht nicht
    aus. Jeder und jede Einzelne steht in der
    Pflicht. Das fängt bei schlechten Witzen
    an und hört bei widerspruchslosem Hin-
    nehmen von Alltagsrassismus nicht auf.
    Man muss die Dinge klar benennen, zum
    Beispiel: Wer die AfD wählt, stellt sich
    selbst in die rechte Ecke, weil er auch die
    Rechtsextremisten wählt, die es in dieser
    Partei gibt. Dieses Land und seine Gesell-
    schaftsordnung, seine Menschen, egal ob
    aus Kaufbeuren, Edirne oder Krakau
    stammend, sind es wert, dass seine Bür-
    ger sie verteidigen – vor allem gegen jene,
    die mit Wort und manchmal mit Mord die
    Zeit zurückdrehen wollen.


Seine Ursprünge reichen bis
ins Jahr 1932 zurück. Da-
mals gestaltete die Berliner
Künstlerin Renée Sintenis
eine Skulptur mit dem Titel
„Junger Bär“, allerdings in Bronze. Gol-
den wurde der Bär dann 1951, als die Inter-
nationalen Filmfestspiele von Berlin er-
funden wurden und einen Hauptpreis
suchten. Im ersten Jahr wurde er gleich in
fünf Kategorien vergeben, in den nächs-
ten Jahren war er dann ein Publikums-
preis. Seit 1956 aber bestimmt eine inter-
nationale Jury den Gewinner, seitdem
gilt er als eine der höchsten Auszeichnun-
gen für Filmkünstler. David Lean, Gene
Kelly, Sidney Lumet, Ingmar Bergman,
Michelangelo Antonioni und Jean-Luc
Godard zählen zu den berühmten Gewin-
nern der frühen Jahre. Der taiwanische
Regisseur Ang Lee hat den Goldenen Bä-
ren bisher als einziger Regisseur zweimal
gewonnen, im Abstand von nur drei Jah-
ren, für „Das Hochzeitsbankett“ (1993)
und „Sinn und Sinnlichkeit“ (1996). Deut-
schen Filmemachern gelang es bislang
sieben Mal, das Tier zu erobern. Den An-
fang machte Robert Siodmak 1955 mit
„Die Ratten“, dann folgten Peter Lilien-
thal, Werner Schroeter, Rainer Werner
Fassbinder, Rainer Simon, Reinhard
Hauff und zuletzt Fatih Akin im Jahr
2004 mit „Gegen die Wand“. Zum Ab-
schluss der Berlinale am 29. Februar wird
der diesjährige Sieger verkündet. kni

4 HBG (^) MEINUNG Freitag, 21. Februar 2020, Nr. 43 DEFGH
FOTO: KAY NIETFELD/DPA
CORONAVIRUS
Kommende Plagen
US-JUSTIZ
Der Herr nimmt, der Herr gibt
MUSEUMSDIEBSTAHL
Den Schaden haben alle
ARGENTINIEN
Ohrfeige für den IWF
RUNDFUNKABGABE
Verschmähte Millionen
Arrival Bloomberg sz-zeichnung: burkhard mohr
TERROR IN HANAU
Mit Wort und Mord
von kurt kister
AKTUELLES LEXIKON
Goldener Bär
PROFIL
Richard
Grenell
US-Botschafter,
den Berlin kaum
vermissen wird
Viren sind unberechenbar. Trotz
moderner Medizin müssen
die Menschen mit ihnen leben
Trump missbraucht die Justiz
immer stärker, das System
kann sich nicht mehr wehren
Sarrazin, Gauland und Höcke
laden keine Pistolen. Aber sie
schaffen eine Atmosphäre

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