Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
von matthias köpf

Chiemsee– Die Frage nach links oder
rechts stellt sich für Armin Krämmer hier
eigentlich gar nicht. „Normal geht man im
Uhrzeigersinn“, sagt er. Also vom Steg aus,
an dem Krämmer sein Boot festgemacht
hat, nach links. „Aber manche gehen natür-
lich auch andersrum.“ Politisch spielten
links und rechts auf der Fraueninsel im
Chiemsee jedenfalls keine Rolle, versichert
Krämmer, Parteigliederungen gebe es gar
nicht. Außer dem CSU-Ortsverband, der
vor ein paar Jahren mit denen in Breit-
brunn und Gstadt verschmolzen ist und
dem der seit 24 Jahren amtierende Bürger-
meister Georg Huber ebenso angehört wie
Krämmer, der sich am 15. März als einziger
Kandidat um Hubers Nachfolge bewirbt.

Groß Wahlkampf machen, gar Plakate
kleben muss da keiner. Das hat zur Kom-
munalwahl auch früher niemand gemacht,
als noch zwei Listen zur Wahl standen. Und
dieses Mal gibt es zur „Inselliste“, die unter
dem Namen „Freie Wählergemeinschaft
Chiemsee“ segelt, aber mit der landeswei-
ten Regierungspartei wenig zu tun haben
will, erstmals keine Alternative. Die Alter-
native bestand in der „Klosterliste“ der Be-
nediktinerinnen. Deren Kloster Frauen-
wörth wurde der Überlieferung zufolge 772
gegründet und war immer das Machtzen-
trum der Insel. Die Äbtissinnen durften
nicht nur innerhalb des Klosters Gehor-
sam erwarten. Doch bei der Gemeinderats-
wahl 2014 erhielt die Klosterliste nur noch
13,8 Prozent. Seither sitzt mit Elisabeth
Barlage, als Cellerarin kaufmännische Lei-
terin des Klosters, nur noch eine Schwester
im Rat statt zuvor zwei, womit sich auch
die Frauenquote in dem achtköpfigen Gre-
mium auf 12,5 Prozent halbiert hat.
An eine Aufstellungsversammlung für
die Klosterliste kann sich auf der Insel nie-
mand erinnern, aber das hat sich jetzt ohne-
hin erübrigt. Elisabeth Barlage kandidiert
jetzt mit auf der Inselliste, die damit die ein-
zige Liste bleibt. Denn die Nonnen werden
weniger. Waren es 2008 noch 30 Schwes-
tern so ist ihre Zahl seither um rund ein
Drittel gesunken, sodass sie in ihrem geist-
lichen Alltag sogar schon mit einer sparsa-
meren Liturgie experimentieren. Der sin-

kenden Zahl der Schwestern entspricht ein
schrumpfender Anteil an den 190 Wahlbe-
rechtigten in Bayerns kleinster Gemeinde,
in der 218 Bürger mit Hauptwohnsitz und
noch ein paar mit Nebenwohnsitz gemel-
det sind. Etwa ein Dutzend lebt auf der Her-
reninsel, die in der Hand der staatlichen
Schlösser- und Seenverwalter ist, aber
ebenso zur Gemeinde Chiemsee gehört
wie die von Schafen bewohnte Krautinsel.
Die Insellage ist für die stark vom Touris-
mus abhängige Gemeinde ein Alleinstel-
lungsmerkmal, bringt aber auch Aufgaben
mit sich, wie den Betrieb der Lastenfähre
oder des kleinen Ladens, der das Nötigste
an Lebensmitteln bereithält. Außerdem ge-
hört die Gemeinde zum Landkreis Rosen-
heim, obwohl der See mitsamt den Boots-
stegen und Teilen des Ufers zum Landkreis
Traunstein zählt. Das macht es dem Bür-
germeister nicht leichter, und dass Chiem-
see wohl auch Bayerns engste Gemeinde
ist, muss ebenfalls kein Vorteil sein. Hier
kennt fast jeder jeden und weiß über den
anderen wohl sogar ein bisschen mehr als
alles. Bürgermeister Huber, der im Haupt-
beruf den Andenkenladen auf der Herren-
insel betreibt, hat sich auch nicht den Ruf
größter Gelassenheit erworben, und so hät-
te sich 2017 nach anfangs privaten Diffe-
renzen fast kein neuer Feuerwehrkomman-
dant mehr gefunden. Vor zwei Jahren trat
der zweite Bürgermeister zurück und ak-
zeptierte einen Strafbefehl, weil er als Fähr-
mann der Gemeinde auch noch Bargeld für
Überfahrten in die eigene Tasche gesteckt
hatte. Aus dem Weg gehen können sie sich
alle aber nicht, denn es gibt nicht viele We-
ge und der längste, einmal herum, misst
keine eineinhalb Kilometer. Doch von au-
ßen mit dem Ausflugsschiff braucht ihnen
wegen dieser Dinge auch niemand kom-
men, der hier kein eigenes Boot liegen hat.
Der Architekt Georg Wieland hat ein ei-
nes, ein altes mit Dieselmotor. Seine Fami-
lie lebt seit sechs Generationen hier, aber
früher nur im Sommer. Wieland selbst ist
in München zur Schule gegangen und hat
lang dort gearbeitet. Seit 15 Jahren wohnt
er auch unter der Woche hier. Oft sagt nur
Wieland laut, dass Dinge andersrum lau-
fen sollten, weshalb er vom Bürgermeister
inzwischen öffentlich gesiezt wird wie
sonst nur die Nonnen. Privat begegnet
man sich grußlos. Im Gemeinderat sitzt
Wieland nur als Zuhörer. 2014 habe er mit
anderen an eine eigene Liste gedacht, sagt
er. Aber weil sich viele schon für die Insellis-
te eingesetzt hatten, habe er sich keine

Chance ausgerechnet, die nötigen Unter-
stützerunterschriften zu bekommen. Wie-
land weist seit langem darauf hin, dass auf
dem Inselfriedhof ein Kreuz für den Wehr-
machtsgeneral Alfred Jodl steht, obwohl
dessen Asche nach seiner Hinrichtung als
Kriegsverbrecher in die Isar gestreut wor-
den war. Während er aus seiner Sicht den
Finger in die Wunde legt, hat Wieland nach
Ansicht vieler Insulaner damit das eigentli-
che Problem erst geschaffen. Huber schien
es gelöst zu haben, doch dann verwarf der
Rat einen Vergleich mit dem Jodl-Erben.
Und so bleibt das Thema neben dem al-
ten Wunsch nach öffentlichen Klos oder
dem maroden Südsteg auf der „To-do-Lis-
te“, die im Rat vorgetragen wurde. Ein The-
ma ist abgehakt: Die Gemeinde hatte mit
Breitbrunn Verfassungsklage erhoben,

weil sich beide mit Gstadt ein Kinderhaus
teilen. Da das im reicheren Gstadt steht, be-
kommen auch die Partner dafür keine
staatlichen Schlüsselzuweisungen. Dieser
seltene Ausnahmefall stelle die Systemge-
rechtigkeit nicht in Frage, haben die Rich-
ter geurteilt, was der Bürgermeister so
übersetzt: „Wegen euch paar tun wir da
jetzt nicht umeinander.“ Die Frage, ob die
Videoüberwachung am Steg in Gstadt dem
Datenschutz entspricht, bleibt noch ein
bisschen offen. Armin Krämmer wird sein
Boot nach der Sitzung drüben festmachen.
Der 45-Jährige ist auf der Insel aufgewach-
sen, lebt aber mit seiner Familie in Breit-
brunn. Dort steht das Rathaus. Wenn ihn
die Insulaner wählen, wird er es nicht weit
haben, aber er wird der erste Bürgermeis-
ter ohne Hauptwohnsitz auf der Insel sein.

München– Wann immer es im Landtag
um Lebensmittelkontrollen geht, ist die
Stimmung schnell gereizt. So auch an die-
sem Donnerstag. „Ich habe gehört, dass
die EU und der Bund Druck machen auf
Bayern wegen der Effizienz der Lebensmit-
telkontrollen“, sagt die Grünen-Politikerin
und Vorsitzende des Umweltausschusses,
Rosi Steinberger, betont harmlos vor den
Mitgliedern des Gremiums zu Umweltmi-
nister Thorsten Glauber (FW). Dann fragt
sie, „ob das stimmt?“ Glauber reagiert ma-
ximal gereizt. „Was bezwecken Sie mit der
Frage, was wollen Sie hören“, poltert der
Minister, der kraft Amtes für die Lebens-
mittelkontrollen zuständig ist. „Ich lass
mich doch hier nicht vorführen.“
Eigentliches Thema im Umweltaus-
schuss ist die zentrale Kontrollbehörde Le-
bensmittelsicherheit und Veterinärwesen
(KBLV), genauer gesagt, die rechtlichen
Grundlagen, auf denen sie fußt. Die KBLV
ist im Zuge des Skandals um die Firma Bay-
ern-Ei eingerichtet worden und seit An-
fang 2018 für die Überwachung von gro-
ßen, überregional operierenden Lebens-
mittelbetrieben zuständig. Damit wollte
die Staatsregierung die Landratsämter
entlasten. Sie waren bis dahin alleine für
die Lebensmittelkontrollen zuständig und



  • so hat es der Oberste Rechnungshof in ei-
    nem Gutachten festgestellt – gerade mit
    der Überwachung von Großbetrieben
    überfordert. 14 Unternehmen, unter ih-
    nen die Geflügelfirma „Wiesenhof“, akzep-
    tierten den Wechsel der Zuständigkeit
    nicht und klagten. Ein Teil von ihnen hatte
    Erfolg. Der Grund: Nach Überzeugung des
    Verwaltungsgerichts Regensburg waren
    die Kriterien zu schwammig, nach denen


Unternehmen als überregionale Großbe-
triebe eingestuft wurden. Der Verwaltungs-
gerichtshof, den der Freistaat daraufhin
anrief, verlangte ebenfalls mehr Klarheit
in den einschlägigen Regelungen. Die Op-
position reagierte sehr aufgeregt. „Pfusch“
und „handwerkliche Fehler“ waren noch
die mildesten Vorwürfe, die sie vorbrachte.
Und natürlich zitierte sie Glauber zum Be-
richt in den Umweltausschuss.
Dabei hat das Umweltministerium
schon vor Monaten die Rechtsgrundlagen
für die KBLV überarbeitet. Nun ist eindeu-
tig geklärt, dass sie für alle Geflügelbetrie-

be ab einer Schlachtkapazität von 250 000
Tieren, für alle Molkereien ab einer Jahres-
produktion von 2800 Tonnen Milch und
Milchprodukten und für alle Pizzaherstel-
ler zuständig ist, die mehr als 2200 Tonnen
Pizza in den Handel bringen. Insgesamt
sind in der Verordnung nun mehr als 50 Kri-
terien aufgelistet, anhand derer ein jeder
Lebensmittelbetrieb feststellen kann, ob
er in die Hoheit der KBLV oder in die seines
Landratsamts fällt. Sicherheitshalber in-
formiert die KBLV alle einschlägigen Groß-
betriebe aber noch einmal eigens über den
Wechsel der Zuständigkeit.
So weit so gut, möchte man meinen.
Doch die Opposition gibt sich weiter miss-
trauisch. Der SPD-Abgeordnete Florian
von Brunn beharrt wie Ausschuss-Chefin
Steinberger darauf, dass sich der Landtag
mit der Sache befassen müsse. Sie lassen
Glaubers Beteuerungen nicht gelten, dass
man mit der KBLV das Kontrollsystem
deutlich gestärkt habe und es weiter stär-
ken werde. Und wie ist das nun mit dem
Druck der EU und des Bundes auf Bayern?
Glauber antwortet nicht auf Steinbergers
Frage. Statt seiner erklärt ein ranghoher
Ministerialer sanftmütig, dass der Bund
die neue KBLV anderen Ländern als Vor-
bild empfehle. christian sebald

Armin Krämmer ist der
einzige Kandidat für das Amt
des Bürgermeisters.
FOTOS: MATTHIAS KÖPF, MORITZ WOLF/IMAGO

von hans kratzer

A


n diesem Freitag wird der Tag der
Muttersprache begangen, der in
der breiten Öffentlichkeit aber nur
rudimentäre Gefühlsregungen hervor-
ruft. Dabei geht es den Sprachen fast so
schlecht wie dem Klima, sie schmelzen
dahin wie ein Gletscher in der Sommerhit-
ze. Die Hälfte der weltweit gängigen 6700
Sprachen sei vom Aus bedroht, klagt die
Weltbildungsorganisation Unesco, die
mit dem Tag der Muttersprache die Viel-
falt der Sprachen stärken will.
Die erwünschte Buntheit des Spre-
chens ist zumindest in Bayern noch gege-
ben. Nach wie vor sind Hunderte Dialekt-
varianten zu hören. Aber manchmal hilft
selbst dieser Hang zum Polyglotten nicht
mehr weiter, was jener Witz über einen
vorlauten Berliner zum Ausdruck bringt,
der am Hauptbahnhof zwei Münchner
Dimpfl nach dem Weg zum Hofbräuhaus
fragt. Sie hören ihm geduldig zu, brum-
men aber nur unverständliches Zeug,
weshalb er seine Frage in verschiedenen
Sprachen wiederholt. Als er entnervt wei-
terzieht, sagt der eine Münchner: „Bläd
war der ned, und wiavui Sprachen der
ko!“ Der andere entgegnet: „Und, hat’s
eahm was gholfen?“
Es ist kein Schaden, im Alltag ein bis-
serl dialektfest zu sein, und es vermeidet
überdies Missverständnisse, wie sie Ex-
Fußballer Mehmet Scholl auf dem Trai-
ningsplatz des FC Bayern erlebt hat.
Scholl erzählte einmal imBayrischen
Fernsehen, der damalige Co-Trainer ha-
be im Training einen neuen Spieler vorge-
stellt, „das ist der Horst Mohamed.“ Selt-
sam sei nur gewesen, sagte Scholl, dass
der Neue auf die üblichen Kommandos
nicht reagierte: „Horst, komm nach hin-
ten“, „Horst, spiel zurück!“. Er fühlte sich
nicht angesprochen, bis sich herausstell-
te, dass der Neue dem Co-Trainer in der
Früh im Büro auf Bairisch vorgestellt wor-
den war: „Du, des is a neuer Testspieler,
der hoast Mohamed.“
Leider kann auch der Tag der Mutter-
sprache die oft verwirrende Sprachsitua-
tion in einem sowieso schon verwirrten
Land nicht heilen. Das verdeutlicht Herr
Özlem K., der schon vor Jahren auf Face-
book folgendes beklagt hat: „Du weast
ois Auslända ned schlau aus deara CSU.
Zerscht woitns eahna Leitkultur. Guad.
Lean i hoid boarisch. Und etz woins, dass i
mei Boarisch wieda vagess und Deitsch
lean. Ko i glei wieda hoamfahrn.“


Friedberg– Nach dem mutmaßlich rechts-
radikalen und rassistischen Anschlag in
Hanau hat Bayerns Innenminister Joa-
chim Herrmann (CSU) die Bedeutung einer
guten Ausstattung der Polizei-Spezialein-
heiten betont. Die Sicherheitsbehörden
müssten auf solche Anschläge vorbereitet
sein, sagte er am Donnerstag in Friedberg
bei Augsburg bei der Übergabe eines Spezi-
alfahrzeuges für Einsätze bei Terroran-
schlägen und Amokläufen. Der mehr als
fünf Tonnen schwere Geländewagen des
Panzerwagen-Herstellers ACS wird künf-
tig bei den Spezialeinheiten in München
stationiert. Bis Mai soll ein weiterer Wagen
geliefert werden, der in Nürnberg einge-
setzt werden soll. Der Freistaat investiert
rund 2,4 Millionen Euro in die Fahrzeuge.
„Das ist hervorragend angelegtes Geld für
mehr Sicherheit“, sagte Herrmann. dpa


Bürgermeister Huber hat sich
in 24 Jahren nicht den Ruf
größter Gelassenheit erworben

Reizthema Lebensmittelkontrollen


Minister Glauber berichtet über die Neuregelung – die Opposition ist weiter unzufrieden


MITTEN IN BAYERN

Polyglott


mit Dialekten


Spezialfahrzeug für


Terroreinsätze


Nun ist eindeutig geklärt,
welche Großbetriebe in die
Zuständigkeit der Behörde fallen

Insel-Demokratie


Die Gemeinde Chiemsee ist Bayerns kleinste politische Kommune.


Jeder kennt dort jeden, was die Diskussionen nicht immer leichter macht



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