Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

FOTO: HOLLANDSE HOOGTE/IMAGO 4


Wenn man einmal genauer hinschaut:
überhaupt nicht! Im Zweiten Weltkrieg be-
fragte ein amerikanischer Historiker
Soldaten, die an der Front gewesen waren.
Dabei kam heraus: Nur 15 bis 25 Prozent
hatten überhaupt geschossen. Daraufhin
untersuchten Wissenschaftler auch ande-
re Kriege. Und siehe da: Nach der Schlacht
von Gettysburg im Amerikanischen Bür-
gerkrieg wurden auf dem Schlachtfeld
knapp 30 000 Musketen gefunden. Davon
waren 90 Prozent noch geladen. Die Sol-
daten wollten einfach nicht schießen. Der
Mensch ist nicht zum Töten geschaffen.
Aber zeigen nicht Experimente, dass
ganz normale Menschen bereit sind, an-
deren große Schmerzen zuzufügen, wenn
man es ihnen nur befiehlt?
Nein, auch hier ist das Gegenteil der Fall.
Diese Experimente haben alle Fehler. Sie
sind zum Teil auch gefälscht.

Aber das sind doch bekannte Studien. Im
sogenannten Stanford-Prison-Experi-
ment wurden ganz normale Studenten zu
Sadisten – nur, weil man ihnen die Rolle
von Gefängniswärtern gab, die über Ge-
fangene befehlen durften.
Wissen Sie, was tatsächlich passiert ist? Ich
habe mir die Archive angeschaut: Es war
Philip Zimbardo selbst, der leitende Psy-
chologe, der den Wärter-Studenten die
Anweisungen gegeben hat, die Gefangenen
zu fesseln oder nackt stehen zu lassen.
Manche Studenten simulierten einen Zu-
sammenbruch – einfach, um den Versuch
schneller hinter sich zu lassen. Andere
wollten einfach ihrem Professor helfen
und das tun, was er erwartete. Auch das
berühmteste Experiment dieser Art hat
grobe Fehler, das von Stanley Milgram.
Der wies Probanden an, anderen Men-
schen, die sie nicht sahen, Stromstöße zu
verabreichen. Und zwei Drittel von ganz
normalen Menschen waren bereit, eine
Dosis zu verabreichen, die in der Realität
tödlich gewesen wäre.
Auch hier liegt die wahre Aussage in den
Archiven. Denn tatsächlich zweifelten
viele Teilnehmer daran, dass die Elektro-
schocks echt waren. Und die Mehrheit
derer, die daran glaubten, brach das Expe-
riment daraufhin ab. Übrigens trug auch
die Literatur ihren Teil zur Legenden-
bildung des bösen Menschen bei. Viele
Schüler lesen noch heute den „Herr der
Fliegen“, William Goldings Roman über
eine Gruppe von Jungen, die auf einer ein-
samen Insel stranden.
Die Jungs werden zu Kriegern, die einem
agressiven Anführer folgen und andere
brutal ausschließen. Die Geschichte gilt
als Parabel für unser düsteres Wesen –
selbst als Kinder.
Ich bin auf eine reale Geschichte zum „Herr
der Fliegen“ gestoßen. In den 1960er Jah-
ren wollte eine Gruppe Jungs von Tonga
aus nach Fidschi segeln, das sind über 1000
Kilometer. Sie strandeten allerdings auf
einer unbewohnten Insel. Ein ganzes Jahr
lang blieben sie dort, mussten sich selbst
versorgen. Ich bin nach Australien ge-
flogen, um mit einem der Retter der Jungs
zu sprechen. Es war total faszinierend.
Denn was der erzählte, war das Gegenteil
des „Herr der Fliegen“: Die Jungs kochten,
arbeiteten und schoben Wache nach einem
strengen Zeitplan ohne großen Streit.
Selbst als sich einer das Bein brach, fanden
sie eine Lösung.
Warum aber glauben wir denn so fest
daran, dass der Menschen egoistisch ist?
Erst mal muss man im Kopf haben, wann
diese Experimente stattfanden, wann

lassen. Schon in der vierten Generation
waren die Füchse nicht nur zutraulicher,
sondern auch kooperativer. Sie haben sogar
angefangen zu bellen, also zu kommuni-
zieren. Das zeigt: Wer Intelligenz erreichen
will, darf nicht danach selektieren oder
nach Stärke – sondern nach Freundlichkeit.
Wir haben also den Neandertaler nicht
durch Kraft oder Wissen besiegt, sondern
weil wir nett sind?
Es gibt keine Zeitmaschine, mit der wir das
belegen können. Aber es gibt viele Belege
dafür, dass der Mensch, als er noch Jäger
und Sammler war, eine gut kooperierende
Spezies war.
Kein Draufschläger mit großer Keule?
Eher nicht. Überhaupt, die Klischees. Am
Anfang dachte ich: Wenn so lange schon so
viele davon ausgehen, dass der Mensch
böse ist, wird es doch viele Belege geben.
Und?

Der Niederländer
Rutger Bregman,
31, wurde bekannt,
als er in seinem
Buch „Utopien für
Realisten“ das
bedingslose Grund-
einkommen und
die 15-Stunden-
Woche vorschlug

5.3.2020 101
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