Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Nach 20 Jahren Ehe,
wie steht es da um
den Sex? Sie scheint
gelangweilt, er will
sie nicht weiter beläs-
tigen, Ergebnis: Ehe-
therapie. Nick Hornby
hat ein schnelles
kleines Buch über die Nöte von Mitt-
vierzigern geschrieben: „Keiner hat
gesagt, dass du ausziehen sollst“.
Die Dialoge gehen hin und her, der
Brexit (die Mutter aller Scheidungen)
kommt auch vor. Das Ergebnis hat
eine eher milde Schärfe. Am Ende gibt
es wieder Sex, aber nicht alles ist gut.
Wie im richtigen Leben. (Kiepenheuer
& Witsch, 18 Euro) 22222

ROMAN


Seit es die Mussolini-
Biografie des Histo-
rikers Renzo De Felice
gibt, weiß die interes-
sierte Welt eigentlich
alles über Benito
Mussolini – doch mit
„M – Der Sohn des
Jahrhunderts“ beweist Antonio
Scurati, dass Sachbücher zwar den
Verstand füttern, Poesie und Prosa
uns aber tief und nachhaltig rühren
können. Scuratis Roman erzählt
detailliert vom rasanten Aufstieg des
Duce. Eine erschreckend aktuelle
Kampfschrift gegen die Rückkehr
des Faschismus in Europa, die nahezu
mühelos über ihre 830 Seiten trägt.
(Klett-Cotta, 32 Euro) 22222

ROMAN


So viele Wenns und Abers,
wenn es um die Zukunft
des Planeten geht - doch
„102 grüne Karten zur
Rettung der Welt“ fegt
sie alle vom Tisch. Der
Band bricht viele der
drängendsten Fragen zu
Umweltschutz, Nachhaltig-
keit, Lebensstil und
Politik auf überraschend
einfache, schlüssige
Grafiken herunter – und
zeigt damit vor allem:
Wir können! Also legen wir
los! (Suhrkamp, 22 Euro)

Es ist ein Parforceritt durch die Geschichte
der Menschheit, der den Leser immer wieder
„Aha!“ denken lässt. Rutger Bregmans
„Im Grunde gut“ steckt voller Anekdoten,
die man gleich weitererzählen will, egal,
ob es um Füchse oder sozialpsychologische

Experimente geht. Auch wenn Bregman
inhaltlich oft zu anderen Schlüssen
kommt als etwa sein Historikerkollege
Yuval Harari – eines ist ihnen gemein-
sam: Fesselnd erzählen können beide.
(Rowohlt, 24 Euro) 22222

Kommunismus: Wir teilen uns den Strand
am Meer, ohne darüber gleich einen Ver-
trag aufzusetzen. Auch damals, am Anfang
dessen, was wir Zivilisation nennen, war
es komplizierter: Städte, Eigentum, das
triggerte in uns Menschen etwas. Denn der
gute Kern, den wir besitzen, hat eine dunk-
le Seite. Wir sind freundlich gegenüber den
Menschen, die wir kennen – aber nicht
zwangsläufig gegenüber Fremden.
Fremdenfeindlichkeit als Gegenstück
zum Einfühlungsvermögen.
Menschen wollen Teil von etwas sein, und
sie grenzen sich gegen Außenstehende ab.
Als wir noch Jäger und Sammler waren,
spielte das keine Rolle – in der Enge einer
Stadt schon.
Wenn man den Menschen erklärt, dass
sie für die gute Sache kämpfen, können
sie also doch zur Bestie werden.
Ja.
Ist das auch Ihre Erklärung für Ausch-
witz? Die Gaskammern sind unmöglich
zu vereinbaren mit dem Gedanken, der
Mensch sei gut.
Auschwitz steht am Ende einer langen Ket-
te, in der sich das Böse besser als das Gute
tarnte. Die Täter waren überzeugt, auf der
richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Übrigens eine sehr beunruhigende Vor-
stellung, denn sie zeigt: Wenn man nur
genügend an Menschen herumzerrt, sind
sie zu schrecklichen Taten imstande. Im
Holocaust hat sich nicht plötzlich die
wahre Natur des Menschen offenbart –
Leute wie Eichmann glaubten, spätere
Generationen würden ihnen dankbar sein.
So bizarr das heute klingen mag.
Der Mensch ist also gut, lässt sich aber
verführen. Können wir daraus auch
etwas ableiten?
In Norwegen gibt es ein Gefängnis auf
einer Insel namens Bastøy. Es sieht aber
eher wie ein Feriencamp aus. Aufseher und
Kriminelle tragen keine Uniform, einige
Gefangene pendeln sogar zur Arbeit aufs
Festland, alles Schwerverbrecher. Doch es
funktioniert. Die Rückfallquote liegt bei
16 Prozent nach zwei Jahren, bei den Ver-
wahranstalten der USA sind es 60 Prozent!
Bastøy funktioniert nach dem Prinzip:
Behandelt man Menschen wie Abschaum,
werden sie wie Abschaum. Behandelt man
sie wie Menschen, werden sie sich auch wie
Menschen verhalten.

auch William Golding sein Buch geschrie-
ben hat: Es war die Zeit nach dem Holocaust.
Die Leute fragten sich: Warum wurden
deutsche Familienväter zu sadistischen
Mördern?
Es steckt auch etwas Tieferes dahinter. Es
macht es bequemer für uns: Ist der Mensch
böse, dann erklärt das ziemlich einfach das
Schlechte in der Welt. Man kann nichts
dagegen tun. Wenn der Mensch aber gut
ist – dann müsste man sich viel dringen-
der um das Schlechte kümmern, oder?
Der Mensch ist in Sünde geboren – ein
Fundament auch des Christentums.
Der Gedanke des bösen Menschen ist tief
in der abendländischen Kultur verwurzelt,
mit Folgen bis heute: Wenn der Mensch
böse ist, dann ergibt es Sinn, ihn zu kon-
trollieren – in einem Unternehmen oder
im Staat. Wenn er aber im Grunde gut ist,
vielleicht brauchen wir gar nicht die
ganzen Firmenchefs und Staatenlenker?
Ein Grundgedanke Ihrer Theorie ist:
Die Probleme begannen, als der Mensch
sich niederließ, etwas entwickelte,
das wir heute Zivilisation nennen. Die
meisten würden sagen: Das war doch
Fortschritt!
Stimmt. Die Erfindung von Geld, Schrift,
solche Sachen gelten heute als Meilen-
steine. Wenn man sich aber die archäo-
logischen Funde anschaut, bekommt man
ein ganz anderes Bild. Die Städte waren
Brutstätten für alle möglichen Arten von
Krankheiten, die die Menschen als Jäger
und Sammler nicht kannten. Erst der
sesshafte Mensch begann, Kriege zu füh-
ren. Vorher gab es wenig, für das es lohnte,
Krieg zu führen: kein Eigentum in heuti-
gem Sinne, keine vererbbaren Königs-
throne. Die wunderbaren Felszeichnungen
der Urmenschen widmen sich überhaupt
nicht dem Krieg. Hätte es damals schon
welche gegeben, wäre so ein einschneiden-
des Ereignis auch festgehalten wurden.
Das Übel begann mit dem Eigentum.
Sie klingen wie ein Kommunist oder
Hippie.
Wenn Sie wollen, dann nennen Sie mich
einen Hippie, aber mir geht es nicht dar-
um, eine Kommune zu gründen. Ich mag
auch diese Etiketten nicht, genauso wenig
wie den Gegensatz zwischen Kapitalismus
und Kommunismus. Unsere heutige zu-
tiefst kapitalistische Welt ist doch voll von

102 5.3.2020

KULTUR

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