Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

S


elbst Pablo Escobar konnte sich der
Magie dieses Ortes nicht entzie-
hen, obwohl er ursprünglich nur
rein beruflich hier war. Von den
Wachtürmen seiner Operations-
basis kann man noch die überwu-
cherte Landepiste im Dschungel erkennen,
die der einst größte Drogenhändler der Welt
sich hat bauen lassen für die bequeme An-
reise zur Casa Magna, seinem großartigen
Haus. Escobar ließ sich ein Schlafzimmer
über zwei Ebenen einrichten, teure Kunst
herbeischaffen und einen unterirdischen
Swimmingpool bauen. Von dort führt eine
Röhre ins Meer, wo stets ein U-Boot zur
Flucht bereitgestanden haben soll, wie ehe-
malige Angestellte erzählen.
Escobars Casa Magna war das erste Haus
am Strand von Tulum, im Südosten der
Halbinsel Yucatán, bis heute Mexikos
Einfallstor Nummer eins für Drogen aus
Kolumbien. Der Sand davor ist tief, fast so
weiß wie reines Kokain – und so feinkör-
nig, dass er beim Gehen von den nackten
Füßen rieselt wie die Lasten des Alltags
von der Seele. Vor allem in einsamen Mo-
menten wie jetzt, am frühen Montagmor-
gen. Die rote Sonne erhebt sich kreisrund
aus dem türkisfarbenen karibischen Meer.
Pelikane stürzen sich auf ihre Beute im
Wasser, mit ihren langen Schnäbeln vor-
aus. Die Wellen rauschen sanft.
Nebenan, vor dem Hotel „Los Amigos“,
zündet die Yogalehrerin Brenda González,
33, unter einem Dach aus Palmwedeln San-
delholzkerzen und Räucherstäbchen an.
Sie setzt sich im Lotossitz vor ihre Schüler,
singt die Eröffnungsmantras ihrer ersten
Stunde des Tages, reibt die Handflächen
aneinander, legt sie vor die Augen und ani-
miert zur Meditation: „Tief einatmen. Hört
in euch hinein, schaut, was euch beküm-
mert. Beim Ausatmen schickt ihr alles
nach draußen, was euch bedrückt.“
Es gibt wohl wenige Orte auf dieser Welt,
die dafür so geeignet sind wie Tulum. Der
einstige Hippie-Strand ist noch immer ein
paradiesisches Fleckchen. Kein Haus hö-
her als die Palmen, mitunter unsichtbar
hinter dichten Mangro ven versteckt. Nur
ein paar Hundert Meter südlich beginnt
das Biosphärenreservat von Sian Ka’an,
Unesco-Welterbe. Krokodile und Manatis
tummeln sich dort in glasklaren Lagunen.
Zehn Kilometer nördlich stehen die Ma-
ya-Ruinen von Tulum, der einzigen Sied-
lung dieser Hochkultur direkt am Meer.
Dazwischen liegt eines der angesagtes-
ten Urlaubsziele Lateinamerikas. Ein Ma-
gnet für Hipster und Sinnsucher aus aller
Welt, ein Refugium für Liebhaber der fei-
nen Lebensart mit Sinn für Kunst, Mystik,

gutes Essen, Spiritualität. Eingebettet in
fast kitschiger Schönheit und wie geschaf-
fen für die Bilder des Instagram-Touris-
mus, dessen Opfer Tulum zu werden droht.
Der Südostwind bläst die warme Luft wie
ein Ventilator vom Meer herüber. Während
Yogalehrerin Brenda bei Dehnungsübungen
bewusstes Atmen lehrt, schiebt sich der Ver-
kehr an der schmalen Strandstraße zwischen
teuren Boutiquen, kunstvoll gestalteten Ho-
teleingängen, Palm- und Mangrovenhainen
nur langsam voran. Alles muss herbeige-
schafft werden. Gemüse, Personal, Trinkwas-
ser und Diesel für die Stromgeneratoren.

Mentale Entgiftung
Ein Mast der Stromleitung, die Escobar zu
seinem Haus hatte legen lassen, verrottet
neben der staubigen Piste. Bis heute hat nur
ein Hotel Stromanschluss. Trotzdem kom-
men Promis wie Cameron Diaz oder Cindy
Crawford zum Bikini-Boot- oder Yo-
ga-Camp nach Tulum – Trainingslager für
die Traumfigur. Rund 1000 Dollar lassen
sich Gäste des Hotel Azulik die Nacht kos-
ten, obwohl es keine Klimaanlage gibt, da-
für aber mentale Entgiftung und Dinner bei
Kerzenschein. In Restaurants wie dem
„Noma“ kann das schon mal 750 Dollar kos-
ten, ohne Trinkgeld. In Escobars einstigem
Zweithaus, der Casa Malca, seit fünf Jahren
ein Hotel, fotogafieren sich Touristen in der
„Bar Filosofía“ beim 20-Dollar-Drink.
Aus dem Aussteiger-Eldorado ist ein In-
fluencer-Treffpunkt geworden. Wer am
Strand schläft, hat Geld. Hippies dienen nur
noch als Kulisse. Als Verkäufer von selbst
gemachtem Kunsthandwerk. Als Inspira-
tion für die Hippie-Chic-Mode, die in teu-
ren Boutiquen zahlreiche Kunden findet.
Nur in Bezug auf den Marihuana-Konsum
wird Tradition unverfälscht gewahrt. Hier
fackeln mehr Joints ab als anderswo
Zigaretten, vor allem bei den Gästen der
Techno-Clubs. Yogalehrerin Brenda singt
bereits die Abschlussmantras, als sich die
Gäste der letzten Party wie Zombies zum
Schlafen zurückziehen.
Nun wird es Zeit für Brenda, sich mit dem
Fahrrad durch den Verkehr zurück nach Tu-
lum zu schlängeln. Die Yogamatten stecken
wie bunte Mikadostäbe im Korb am Len-
ker. Übergroße SUVs mit schwarzen Schei-
ben sind unterwegs. Ab und zu kommt ein
gepanzerter Hummer der Militärpolizei
entgegen. Ein Soldat mit Panzerweste und
automatischem Gewehr im Anschlag steht

Yogalehrerin Brenda González am Los
Amigos Beach (o.). Am Strand von Tulum
wird Fisch gegrillt (M.). Die Cenote
Aktun Chac-Mool steht Besuchern offen (u.)

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REISE

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