Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

FOTOS: DAVID GANNON/AFP; MARTIN GERTEN/DPA


Ob ich morgen noch an meinem Schreib-
tisch sitze, weiß ich nicht. In einer internen
E-Mail ordnet die stern-Chefredaktion an,
dass alle ihre Laptops mit nach Hause neh-
men, um von dort aus im Notfall arbeiten
zu können. Unser Verlag schreibt an alle
3000 Mitarbeiter, dass sie bis Ende Juni
keine Krankschreibung brauchen, wenn sie
sich schlecht fühlen. Bleibt um Himmels
willen zu Hause!, heißt das. Denn das Co-
ronavirus ist mitten im deutschen Alltag
angekommen, es kann jederzeit die Kolle-
gen, die Familie oder mich selbst treffen.
Vielleicht hat meine Kollegin Lisa (Name
geändert) das Virus aus Mailand mit-
gebracht, sie hatte dort die Modeschauen
besucht. Am Freitag kam sie zurück, saß
mit Kollegen in Konferenzen und in der
Kantine. Am Mittwoch fühlte sie sich „wie
bei einer Grippe ohne Fieber“. Sie blieb zu
Hause und rief ihren Hausarzt an. Der
lehnte eine Behandlung ab. Sie wählte die
Corona-Medizinhotline 116117. Am Freitag
bekam sie Durchfall. Sie rief wieder 116117
an. Am Freitagmorgen um 8.10 Uhr stand
sie am Hintereingang zur Infektiologie,
Haus O 28 am Universitätsklinikum in
Hamburg zum Corona-Schnelltest. Sie
musste bis 8.55 Uhr mit sieben anderen
Menschen, die Symptome hatten, draußen
in der Kälte vor der Patientenschleuse war-
ten. Drei Krankenschwestern aus der be-
nachbarten Kinderklinik standen eben-
falls dort. Bei ihnen auf der Station war drei
Tage zuvor der erste Corona-Fall in Ham-
burg aufgetreten.
Hinter der Schleuse machte eine Kran-
kenschwester in grüner Schutzkleidung
mit einem Wattestäbchen einen Abstrich
bei Lisa, erst im Rachen, danach tief in bei-
den Nasenlöchern. Anschließend begann
das Warten. Zuerst saß meine Kollegin mit
fünf anderen Verdachtsfällen in einem
etwa 30 Quadratmeter großen Raum.
Gegen 11.30 Uhr waren sie schon zehn. Um

12.30 Uhr sagte ein Arzt, der Ansturm wer-
de zu groß, das Ansteckungsrisiko steige.
Lisa wurde nach Hause geschickt, man gab
ihr vier Schutzmasken mit. Vor der Patien-
tenschleuse der Infektologie warteten da
bereits 15 Leute. Sie standen weit ausein-
ander, die Schlange der womöglich Infi-
zierten reichte bis auf die Straße.
Virologen schätzen, dass 25 bis 70 Pro-
zent der Bevölkerung eines infizierten
Landes die neue Krankheit bekommen
werden. 80 Prozent der Fälle, so vermuten
die Experten, verlaufen mild, 15 Prozent
müssen in Hospitälern behandelt werden,
fünf Prozent intensivmedizinisch.
Für Deutschland bedeutet das im opti-
mistischen Fall konkret: rund 20 Millio-
nen Menschen infizieren sich mit Corona,

Die Suchanfragen bei Google für „Atem-
schutzmaske“, „Vorrat“ und „Quarantäne“
erreichen seit vergangener Woche Höchst-
stände. Nach „Desinfektionsmittel“ wur-
de genauso oft gesucht wie nach „Laura
Müller“, der Freundin vom Wendler, die
sich mal wieder nackt zeigt.
Mein Reporterkollege Rolf-Herbert
Peters lebt in der Nähe von Köln. Ende
vergangener Woche kam er mit seiner
Familie aus dem Skiurlaub zurück. Am
Samstagmorgen wollte er in einem Dis-
counter in Bergheim rasch einkaufen, den
Kühlschrank und die Vorräte auffüllen.
Er traf auf eine Kleinstadt in großer Auf-
regung. Am Morgen hatten Zeitungen und
Lokalsender gemeldet, Corona sei in Berg-
heim angekommen.
Zwei Mitarbeiter der örtlichen Knapp-
schafts-Versicherung haben das Virus. Ein
Ehepaar, das viele hier kennen. Der Mann
war bei der Karnevalsfeier in Heinsberg, 60
Kilometer entfernt, die als Urquelle der
Virusseuche in Nordrhein-Westfalen gilt.
Das Knappschaftsbüro liegt fünf Auto-
minuten entfernt vom Lidl, wo sich an die-
sem Morgen der Parkplatz besonders
schnell füllt. An den Kassen haben sich
lange Schlangen gebildet. Die Einkaufs-
wagen sind voll – die Regale leer. Mehl, Zu-
cker, Öl, Toilettenpapier, Brot, Nudeln und
andere Nahrungsmittel sind kaum mehr
zu bekommen. Die Leute hamstern. Ein
Kassierer trägt eine Atemschutzmaske.
Das Virus ist das Thema Nummer eins
zwischen den Regalen. Fragt man nach, sa-
gen die Leute: „Ja, wir kaufen heute mehr
ein. Wer weiß, was kommt.“ Marco, Mitte
40, trägt einen schwarzen Kapuzenpulli
mit der Aufschrift „Already late“ („Spät
dran“). Sein Einkaufswagen quillt über vor
Waschmittel, Getränken, Dosennahrung
und Toilettenpapier. Marco ist nicht sein
richtiger Name, er will anonym bleiben. Er
sagt: „Ich habe immer Vorräte für 14 Tage
im Haus – aber heute habe ich noch etwas
draufgepackt.“
Dann schiebt er den schweren Einkaufs-
wagen hinüber zu seinem Mercedes-Trans-
porter. Es dauert zehn Minuten, bis er die
Ware verstaut hat. Er startet das Fahrzeug


  • und fährt zum Aldi nebenan. Es fehlt ihm
    noch so viel: Margarine zum Beispiel und
    Öl. Aber auch das, muss er feststellen, ist
    ausverkauft.
    In den Zentralen der Handelskonzerne
    werden Notfallpläne vorbereitet. Bei Lidl
    zum Beispiel ist es der „Business Continui-
    ty Plan“. Dabei wird festgelegt, wie man den
    Ablauf in Lagern und Filialen auch in Kri-
    senzeiten sicherstellen kann. Gerät ein
    Zentrallager in eine Quarantänezone,


drei Millionen müssten ins Krankenhaus,
eine Million erkrankt schwer. Wie viele
sterben werden? Eine Zahl zu nennen wäre
reine Spekulation.
Anfang dieser Woche melden 66 Län-
der Corona-Fälle. Vermutlich steht die
Menschheit am Beginn einer Pandemie.
Eine Pandemie ist viel mehr als eine
grassierende Krankheit, sie ist eine außer
Rand und Band geratene Seuche, in diesem
Fall – eine Virusattacke auf die ganze Welt.
Und sie stellt nationale Gesundheitssys-
teme, Regierungen, Politiker, Manager,
Unternehmen und die Wirtschaft auf die
Probe. Mehr noch: Corona wird zum Test
für die Globalisierung – und zum Stress-
test für ganze Gesellschaften. Die Fragen
dieser Tage sind: Bekommen wir das Virus
unter Kontrolle? Begrenzen wir die Schä-
den für die Wirtschaft? Und auch: Bekom-
men wir unsere Angst in den Griff, die
alles nur noch schlimmer macht?
Schon jetzt schwingt bei jedem Hände-
druck die Frage mit: Wo war mein Gegen-
über in den vergangenen zwei Wochen? In
Italien? Im Tropical Island? Oder beim Kar-
neval in Heinsberg?

„Angst macht vor allem das,
was unbekannt ist, was neu ist und
von außen kommt.“
Klaus Bergdolt,
Pest- und Pandemieforscher

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BEKOMMEN


WIR UNSERE


ANGST IN DEN


GRIFF?


5.3.2020 27
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