Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
FOTOS: SEBASTIAN PETERS/IMAGO IMAGES; MARCEL KUSCH/DPA

soll sofort ein anderes einspringen kön-


nen, um den Ausfall auszugleichen. Und


geriete ein Lidl-Markt in ein Sperrgebiet,


müssen die umliegenden Filialen die Wa-


renversorgung aufrechterhalten.


Obwohl Deutschland mit Infizierten-


zahlen im dreistelligen Bereich erst am


Anfang der Seuche steht, verlieren man-


che schon die Nerven.


Beim Bundesinnenministerium heißt es

auf stern-Nachfrage, es gebe keine Veran-


lassung zu Hamsterkäufen. Angela Merkel


rät zu „Maß und Mitte“ im Umgang mit


dem Virus. Was soll die Kanzlerin auch


sonst sagen? Aus ihrem Umfeld heißt es,


erst in drei bis vier Wochen werde es in


Deutschland richtig ernst.


Der Krisenstab der Bundesregierung


stockt derweil die Vorräte an Spezialanzü-


gen und Atemmasken auf, wie es heißt


„nicht nur für medizinisches Personal“.


Ob Großveranstaltungen stattfinden,


soll von umfassenden Risikobewertungen


abhängig gemacht werden. Die größte Tou-


rismusmesse der Welt, die ITB in Berlin,


wurde bereits abgesagt. Überall im Land


werden Partys, Kongresse oder Sportver-


anstaltungen verschoben oder ganz gecan-


celt. Der Maschinenbaukonzern DMG


Mori im Allgäu schickte Anfang der Woche


alle 1600 Beschäftigen nach Hause. Ein


36-jähriger Mitarbeiter hat Corona. Es ist


die erste Fabrik in Deutschland, die wegen


dem Virus stillsteht. Auch beim Wirt-


schaftsprüfer Ernst & Young gingen für ei-


nige Tage die Lichter aus. In Frankreich


musste der Louvre geschlossen werden.


Das Personal verweigerte aus Angst vor


dem Virus den Dienst. In Rom ließt der


Vatikan die Katakomben absperren. Im


muffig feuchten Klima der Gebeinhäuser


verbreite sich das Virus besonders schnell.


Es gibt inzwischen sogar Empfehlungen

für die Bestattung von Corona-Toten. Im


Gegensatz zum herkömmlichen Grippe-


virus überlebt der Erreger wahrschein-


lich bis zu neun Tagen auf Flächen. Die


Sarg-Außenflächen müssen daher desin-


fiziert werden, und der Sarg muss außen


als „infektiös“ gekennzeichnet werden. Es


wird zur Kremation geraten.


Diese Krise dringt tiefer in die europäi-

sche Gesellschaft ein, als Krisen es für lan-


ge Zeit getan haben. Es gab in den vergan-


genen Jahrzehnten immer wieder Phasen


der Angst: Die Terroranschläge vom 11.


September 2001 waren ein sehr sichtbarer


Angriff auf den westlichen Alltag, die Ter-


roranschläge 2015 in Paris, zuletzt, auch in


Deutschland, hatten spürbare Auswirkun-


gen auf das öffentliche Leben, zumindest


in den Großstädten. Und dennoch liegt die


scheinen, der mindestens ebenso gewalt-
tätig und zerstörerisch sein kann wie Krie-
ge und Terror. US-Nationalökonom Nou-
riel Roubini macht Schlagzeilen mit der
Prophezeiung, eine medizinische Krise
werde eine wirtschaftliche Krise nach sich
ziehen. Corona werde zum Beschleuniger
für den Zerfall der bisherigen Ordnung.
Roubini sagt: „Wir sind alle am Arsch.“ Wir
wissen es nur noch nicht. Der Mann ist
auch Gründer von Roubini Global Econo-
mics, einem Anbieter für Kapitalmarkt-
und Wirtschaftsinformationen, der seinen
Kunden zum Ausstieg bei Aktien und zum
Einstieg in Staatsanleihen rät.
„Diese Krankheiten lösen Urängste aus“,
sagt der Medizinhistoriker und Pest- und
Pandemieforscher Klaus Bergdolt. „Angst
macht dabei vor allem das, was unbekannt
ist, was neu ist und was von außen kommt,
etwa, wie jetzt, aus China.“
Und dieses Virus macht’s persönlich: Es
kann jeden von uns treffen: die Kanzlerin,
die Kollegin, dich, mich. In der Reaktion auf
diese Herausforderung zeigt sich deshalb
auch, wie diese Gesellschaft beschaffen ist,
wie gefestigt sie ist, wie solidarisch – oder
wie zersplittert. Reagieren wir – lokal und
global – mit Egoismen, Nationalismen, zie-
hen wir Mauern hoch, oder antworten
wir, soweit irgend möglich, gemeinsam,

letzte Krise, in der tatsächlich alle in ihrer
körperlichen Unversehrtheit gefährdet
waren, länger zurück: 1986 gab es die
Nuklearkatastrophe im Atomkraftwerk
Tschernobyl. Die letzte Seuche, die letzte
Pandemie, die Millionen Menschenleben
forderte, war die Spanische Grippe der Jah-
re 1918 bis 1920, bei der zwischen 25 und
50 Millionen Menschen starben.
Das Coronavirus ist nach allem, was
darüber bekannt ist, nicht annähernd so
gefährlich. Aber der Umgang mit dieser
Gefahr – auch der mediale Umgang damit


  • lässt das Virus schon jetzt als Feind er-


Begehrte Ware: In vielen Drogerien wie hier in
Hamburg sind Desinfektionsmittel ausverkauft

DAS VIRUS


RÜTTELT AN


DER ART, WIE


WIR LEBEN


UND ARBEITEN


28 5.3.2020

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