Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

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kollektiv? Wie stark ist der Leim, der diese


Gesellschaft zusammenhält?


Tatsächlich trifft das Virus auf westliche

Gesellschaften, die in den vergangenen


Jahren ohnehin schon immer fiebriger ge-


worden sind, ängstlicher, unruhiger. Kli-


mawandel und Digitalisierung rütteln an


vielem, was bisher so fest schien: an der


Art, wie wir leben, arbeiten, einander wahr-


nehmen.


Die Geschichte des Coronavirus ist, ge-

nau genommen, eine Horrorstory, in


der Mittelalter auf digitalisierte High-


tech-Gegenwart trifft. Und wahrscheinlich


ist es deshalb so wirksam.


Gegenüber allem, was aus „dem Osten“


komme, aus Asien, gebe es nach wie vor


eine besondere Angst, sagt der Pesthisto-


riker Bergdolt. „Das ist eine uralte europäi-


sche Haltung, die auch im 14. Jahrhundert


zum Tragen kam und vielleicht auch heu-


te noch wirkt – damals kam die Pest auch


aus Asien.“


Und die Geschichte dieses Virus klingt


ja mittelalterlich: entstanden auf einem


Markt in China, auf dem Tiere, die mit Fle-


dermäusen Kontakt hatten, Menschen an-


gesteckt haben. Geht es archaischer, geht


es dunkler? Und selbst in China, jenem


Land, das die digitale Überwachungstech-


nik perfektioniert hat, mit künstlicher In-


linien lahm, von denen normalerweise
täglich 4200 neue Fahrzeuge rollen. Und
genau das könnte bald passieren, ausgelöst
durch die Corona-Krise. Ständig versuchen
die VW-Logistiker, alle Lieferanten im
Blick zu behalten, doch hundertprozenti-
ge Sicherheit ist für einen Autokonzern
wie Volkswagen unmöglich.
Denn die Zulieferer von VW ersetzen das
Lager: Sie verpflichten sich, genau im
Arbeitstakt des Werkes alle Teile fristge-
recht zu bringen. Ihre Laster stehen auf
dem Parkplatz der Lkw-Control vor
Leuchttafeln. Sobald die Nummer ihres
Kennzeichens auf einem Display von Rot
auf Grün springt, fahren die Trucker bis
fast ans Band, an das die Teile direkt gelie-
fert werden. Beispiel Reifen: Etwa 17 000
davon werden täglich an die Fahrzeuge ge-
schraubt. Sechs Zulieferer produzieren sie
nach genauen Vorgaben von VW. Einer da-
von ist Continental aus Hannover. Dort
gibt es zwar einen kleinen Vorrat, um Eng-
pässe auszugleichen und die Lieferkette
nicht sofort abreißen zu lassen. Aber lan-
ge reicht der nicht. Denn auch Conti hat
wieder Zulieferer, die Stahl und Gummi
liefern, Chemikalien zur Abstimmung der
Rolleigenschaften, Felgen und Ventile und
inzwischen auch Elektronik zum Messen
des Drucks.

telligenz und allem Drum und Dran, aus-
gerechnet in jenem China also, entrinnt
dieses Virus, siegt Mittelalter gegen digi-
tale Moderne – und macht sich sogar die
modernen Vehikel zunutze. Denn von Chi-
na ist das Virus durch die Adern der globa-
lisierten Weltwirtschaft gewandert, ent-
lang der Handelswege und Reiserouten,
unsichtbar und unaufhaltsam.
Das Virus führt uns vor Augen, wie sehr
wir inzwischen über alle Kontinente hin-
weg aufeinander angewiesen sind, wie
verflixt verknüpft, verflochten – und ver-
wundbar unsere Art zu leben und unser
Wohlstand geworden sind. Es gibt ein Wort
dafür, das vor Corona nur Fachleute inter-
essierte: Lieferketten.
Auf einmal wird uns klar, dass Corona
auch unseren Wohlstand und unsere Jobs
infizieren kann. Corona wird sehr real.
Es gibt einen Ort, an dem sich diese Ab-
hängigkeit tagein, tagaus materialisiert.
Wir fahren nach Wolfsburg ins Volkswa-
genwerk, genauer gesagt auf den Parkplatz
der „Lkw-Control“ am westlichen Werks-
tor, genau vor den Montagehallen.
Ein VW-Golf wird aus etwa 4000 Teilen
zusammengesetzt. Aber Vorräte gibt es im
VW-Werk nicht. Schon eine einzelne Spe-
zialschraube fürs Fahrwerk, die nicht
kommt, legt den Betrieb an den Montage-

Eine Krankenschwester der Uniklinik Essen auf dem Weg in die Isolier-
station – hier könnten auch Corona-Patienten versorgt werden

5.3.2020 29
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