Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

S


echs Uhr morgens, das erste Boot.
Am Ufer bricht eine Frau zusam-
men, sie kommt aus Herat, Afgha-
nistan, es sind ihre ersten Schrit-
te auf europäischem Boden. Ihr
Sohn, zwei Jahre, fängt sofort an zu
brüllen. Seine Schwester, kaum größer als
er, hebt ihn hoch, dann fixieren die Kinder
einen Punkt in der Ferne. Es ist die Sonne,
die aufgeht. Ein normaler Tag auf Lesbos
beginnt. Er wird nicht normal enden.
Ahnen die 53 Menschen auf dem Boot,
die gerade Europa erreicht haben, die ohne
Schwimmwesten über die wellige Ägäis ge-
kommen sind, dass der ganze Kontinent an
diesem Morgen auf sie starrt? Gleich kom-
men TV-Teams an mit ihren Kameras, hal-
ten den Kindern Mikrofone vor den Mund;
die Kinder blinzeln ins Scheinwerferlicht.
„Wir haben die Grenzen geöffnet“, hatte
der türkische Präsident Erdoğan zwei Tage
zuvor gesagt, und in Europa bangt man:
Meint er es diesmal ernst? Wie viele
Flüchtlinge erreichen jetzt die griechi-
schen Inseln? Ein Satz geistert durch die
Medien: 2015 darf sich nicht wiederholen.
Deutsche Polizisten sind nach Lesbos
gekommen, sie gehören zur EU-Grenz-
schutzagentur Frontex. Am Ufer kontrol-
lierten sie in der Nacht die Pässe zweier
freiwilliger Helfer. Um sich verdächtig zu
machen, reicht es, die Flüchtlinge mit Was-
ser und Wärmedecken zu versorgen und

Erste Hilfe zu leisten, den Kindern Wärme-
folie um Kopf und Füße zu wickeln. Später
werden Vermummte Jagd auf die Helfer
machen, werden sie attackieren.
Die Afghanin, die am Ufer zusammen-
gebrochen ist, steht auf. Ihr Sohn hört auf
zu schreien, für sie geht es jetzt nach Mo-
ria. In das Flüchtlingslager, in dem statt
2800, die das Lager fasst, mittlerweile rund
20 000 Menschen leben. Sie erwartet die
Registrierung im „Reception Centre“, des-
sen Name nach einem Hotel klingt und
irreführender nicht sein könnte.
Tatsächlich lassen die Bilder dieser Tage
an 2015 denken, auch wenn die Zahlen
nicht annähernd zu vergleichen sind. Aber
ähnlich ist die Mischung aus Panik und
Hilflosigkeit, mit der Europa auf die
Flüchtlinge schaut. Nicht nur auf den
Inseln kommen die Menschen an, sie cam-
pieren auch vor dem griechischen Grenz-
posten zur Türkei bei Edirne, an der Land-
grenze. Sie haben Erdoğan geglaubt, dass
sie in die EU weitergehen dürften; nun ste-
cken sie fest im Niemandsland zwischen
der Türkei und Griechenland, einem Strei-
fen Land, wenige Dutzend Meter breit.
Über 13 000 Menschen sollen es sein,
die da vor dem Eingang zu Europa lagern.
Griechische Polizisten halten sie mit Trä-
nengas auf Abstand. So harren sie weiter
aus, so gut wie ohne Versorgung, bei null
Grad in der Nacht. Sie leiden. Doch Europa

spricht über Grenzsicherung, nicht über
humanitäre Hilfe. Mehr als vier Jahre sind
vergangen seit der großen Krise, Jahre, in
denen man wusste, dass jederzeit wieder
Tausende Menschen vor den Grenzen ste-
hen könnten. Doch die Politik hat keine
Antwort gefunden auf die Frage, wie Euro-
pa mit den Flüchtlingen umgehen will.
Bis jetzt galt der Pakt, den die EU mit der
Türkei 2016 vereinbart hat. Wichtigster
Punkt: Die EU hilft der Türkei mit Geld für
die dort lebenden Flüchtlinge, damit die-
se die Grenzen dichthält. Doch Erdoğan
sagt schon lange, das Geld reiche nicht, die
mindestens 3,6 Millionen „Gäste“, wie er sie
genannt hat, sind für ihn ein Faustpfand
gegen Europa. Mit ihnen kann er drohen.
Der Deal gilt nur noch auf dem Papier.
Es geht jetzt um Politik, um Druck. Die
Menschen aus vielen Ländern, die auf Les-
bos ankommen, stehen am Ende einer Ket-
te von Ereignissen, die in Syrien ihren
Anfang genommen haben, genauer gesagt
in der verbleibenden Rebellenprovinz, in
Idlib. Dort findet die letzte große Schlacht
des Krieges statt, seit das Regime von Ba-
schar al-Assad seine Offensive begann.
In Idlib leben mehr als drei Millionen
Menschen; viele von ihnen sind in den ver-
gangenen Jahren aus anderen Rebellenge-
bieten des Landes hierhergekommen. Seit
das Regime auch Idlib angreift, flohen fast
eine Million an die geschlossene türkische

Die Bewohner von Lesbos protestieren
gegen den Bau eines neuen Flüchtlingslagers.
Es kommt auch zu Gewalt


Die Landgrenze zu Griechenland im Nordwesten der
Türkei: Über dem Posten steht übersetzt „willkommen“.
Rein kommt hier aber niemand

48 5.3.2020
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