Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

FOTOS: BRADLEY SECKER/STERN(2); JULIAN BUSCH 4


Grenze. Die Türkei, ihrerseits in Angst vor
noch mehr Flüchtlingen, verlegte verstärkt
Militär nach Idlib und unterstützt die Re-
bellen gegen Assad, moderate Gruppen
ebenso wie radikale Islamisten. Das As-
sad-Regime kämpfte sich voran, unter-
stützt von der russischen Luftwaffe. Ihr
Krieg nimmt auf Zivilisten keine Rück-
sicht, nimmt ihren Tod in Kauf.
Am Donnerstag vor einer Woche traf ein
Luftschlag des Regimes eine türkische Ein-
heit in Idlib. Mindestens 36 Soldaten star-
ben dabei. Nach einer Krisensitzung befahl
Erdoğan einen Gegenangriff, wie Assad ihn
seit Beginn des Krieges nicht erlebt hat. Mit
dem Öffnen der Grenze zu Griechenland
wiederum wollte Erdoğan vor allem die
Europäer dazu bringen, bei Russland gegen
die Angriffe auf Idlib zu protestieren – und
er wollte seine Macht demonstrieren.
In Idlib startete die türkische Luftwaffe
gleichzeitig einen Drohnenkrieg gegen As-
sads Armee und ihre Verbündeten – mit
Ausnahme der Russen. Putin lässt Erdoğan
freie Hand, noch. Vermutlich ist aber auch
der russische Präsident überrascht, wie
heftig die türkische Reaktion ausfällt. Und
auch darüber, wie überlegen die türkischen
Drohnen der Luftabwehr des Assad-Re-
gimes sind.
Ein Hisbollah-Kämpfer aus dem Liba-
non, der in Idlib für Assad kämpft, postet
ein Video, während er in Deckung auf der

Erde liegt. „Wir werden hier geerntet“, sagt
er in seine Handykamera. Er meint: ver-
nichtet. Man sieht die Panik in seinem
Gesicht. „Wir können uns nur noch ver-
stecken“, sagt ein russischer Journalist in
einem anderen Clip. Er sollte eigentlich
über den letzten großen Sieg für Assad und
Putin berichten, nun erobern die Rebellen
Dörfer und Städte zurück, während die
Türkei ihnen den Weg frei bombt.

Für viele Syrer ist Erdoğan ein Held


In Idlib haben sich die Menschen seit Jah-
ren nicht mehr so sicher gefühlt, zumin-
dest für den Moment. Sie kannten das
Gefühl gar nicht mehr, ohne Lebensgefahr
zu sein. Die türkische Armee holt reihen-
weise Hubschrauber und sogar Kampfjets
des Regimes vom Himmel, sie zerstört
so viel Luftabwehr und Artillerie des Re-
gimes, als wäre es für sie ein leichtes Spiel.
Für die Syrer, die seit Jahren unter Assads
Terror aus der Luft leiden, ist es eine späte
Genugtuung. Eine bittere auch: Wäre der
Westen vor Jahren so entschieden gegen As-
sad vorgegangen, könnten Zehntausende
Menschen noch leben. Vielleicht hätte es
auch die Flüchtlingskrise 2015 nie gegeben.
Die türkische Drohnenflotte lässt
Erdoğan triumphieren. Für die Menschen
in Idlib ist er ein Held.
Währenddessen stehen in Istanbul wei-
ße Busse bereit. Unklar, woher sie kommen,

wer für sie bezahlt hat. Sie passen jeden-
falls in Erdoğans Strategie. Flüchtlinge, die
schon lange in Richtung Europa weiter-
wollten, nutzen die Gelegenheit, steigen
ein zur Gratisfahrt an die griechische
Grenze, drei Stunden entfernt. Dass Grie-
chenland den Grenzübergang dagegen
komplett geschlossen und Bereitschafts-
polizisten losgeschickt hat, um ihn zu „ver-
teidigen“, wie es heißt: Das hören die Men-
schen erst, als sie ankommen.
Die türkischen Grenzer winken sie
durch, ins Niemandsland zwischen Türkei
und Griechenland. Vor dem Schild mit der
griechischen Aufschrift: „Kalos irthate –
willkommen“ liegt Stacheldrahtzaun, da-
hinter steht die Polizeikette. Sie kommen
nicht weiter. Es sind wenige Syrer unter ih-
nen, dagegen viele Afghanen, Iraner, Uigu-
ren aus China, Palästinenser, Somalier.
Erdoğan spiele mit ihrem Schicksal, em-
pören sich die Europäer. Ein älterer Uigu-
re steht im Niemandsland und sagt, es stö-
re ihn nicht, eine Schachfigur zu sein.
„Hauptsache, ich schaffe es nach Europa.“
Bis zum Abend gibt es kein Essen, erst
spät bringt der türkische Rote Halbmond
den Menschen Sandwiches, Kekse, Wasser.
Sie verbringen die Nacht in der Kälte. Man-
che machen Feuer, an denen sie sich wär-
men können. Ein paar Meter vor ihnen
liegt Europa, es wäre ein Leichtes für die
EU, die Menschen aufzunehmen. Es

Weil sie nicht über die Grenze kommen, campieren die Flüchtlinge notdürftig unter einer Plane

MIT EIN PAAR SÄTZEN


UND BUSSEN TREIBT ERDOğAN


EUROPA IN DIE HYSTERIE


5.3.2020 49
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