Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Franziska Grillmeier
lebt seit 2018 auf
Lesbos, Raphael
Geiger (M.) war oft
zu Recherchen dort. Beide sind immer wieder
beschämt angesichts des Leids auf europäi-
schem Boden. Der Fotograf Bradley Secker
fuhr an die türkisch-griechische Landgrenze

SCHWARZES
MEER

TÜRKEI

BULGARIEN

Lesbos

Ikaria

GRIECHENLAND


Edirne

Istanbul


Ägäis

Ikariia

SC

TÜRKEITÜÜÜRKRK

CHWARZES
MEER

IstanbIstaIsta ul


GRIECHENLAND

Ev

ro

s

BULGARIEN

Edirne

Türkisches
Territorium
westlich
des Flusses

Grenzzaun

10 km

50 km

TÜRKEI
Chios

sind wenige Tausend, nicht Hunderttau-
sende. Es wäre eine humanitäre Geste.
Aber gegen die Angst, damit ein zweites
2015 auszulösen, hat so ein Vorschlag kei-
ne Chance mehr. Diese hier sollen es auf
keinen Fall schaffen, sonst, so die Befürch-
tung, kommen noch viele mehr.
Es geht um die Nachrichtenhoheit, die
griechische Regierung will ein Signal sen-
den: Unsere Grenzen sind geschlossen. Die
EU unterstützt sie dabei. Jeder, der sich der
griechischen Grenze nähert, bekommt
eine SMS aufs Handy, mit einer Warnung:
„Versuchen Sie es nicht.“ Derweil verkün-
det der türkische Innenminister, dass es
mehr als 100 000 Flüchtlinge nach Grie-
chenland geschafft hätten. In Wahrheit
sind es wenige Hundert, die abseits des
Grenzübergangs illegal griechischen Bo-
den erreichen. Erdoğans Ziel: Noch mehr
sollen sich auf den Weg machen. Der Druck
auf Europa soll steigen.
Auf Twitter genießen Erdoğans Anhän-
ger schon ihren zumindest moralischen
Sieg. Die Türkei kämpfe gegen den Massen-
mörder Assad, schreibt ein User, die Grie-
chen an ihrer Grenze gegen Flüchtlinge.
„Wir sind nicht verpflichtet, die Leute bei
uns zu halten“, schreibt der türkische
Außenminister. „Aber Griechenland ist ver-
pflichtet, sie als Menschen zu behandeln.“
Europa offenbart ein hässliches Gesicht,
und die Türken zeigen mit dem Finger da-
rauf. Wie Erdoğan sehen die Europäer die
Menschen an den Grenzen als Zahl, als
Masse. Und als Bedrohung. Nur deswegen
funktioniert Erdoğans Spiel: weil Europa
Angst hat vor den Schutzsuchenden. Am
Dienstag besuchte EU-Kommissionsprä-
sidentin von der Leyen die griechisch-tür-

kische Grenze, am Donnerstag treffen sich
die EU-Außenminister. Die Rede ist von
europäischer Solidarität, die nichts ande-
res bedeutet als gemeinsame Abschottung.

Auf Lesbos entlädt sich die Wut


Lesbos versinkt im Chaos, der Ärger schlägt
um in Wut. Aufgebrachte Griechen blo-
ckierten die Zufahrtsstraße zum Flücht-
lingslager Moria, Anwohner wollen verhin-
dern, dass die Flüchtlinge von den nassen
Stränden ins Lager gebracht werden. In den
Tagen zuvor schon herrschte Ausnahme-
zustand, die Menschen protestierten gegen
die Pläne der Regierung in Athen. Die will
geschlossene Lager errichten, aus denen die
Flüchtlinge direkt abgeschoben werden
sollen. Um an Grundstücke zu kommen,
sollen die Besitzer enteignet werden.
Bauern fällten Bäume, um den Spezialein-
heiten der Polizei den Weg zu versperren,
Studenten demonstrierten gemeinsam mit
Priestern. Sie fühlten sich alleingelassen
von der Regierung, aber auch von der EU,
die den Inselbewohnern die ganze Last zu-
schiebe. Lesbos hatte genug.
Am vergangenen Sonntag entlädt sich
die Wut auf die Menschen auf den Booten.
Am Hafen eines kleinen Dorfs empfängt
ein Mob ein ankommendes Schlauchboot.
Eine Menge versammelt sich am Kai, die
Menschen im Boot schauen verängstigt.
„Go back!“, schreit ein Mann. Ein Kind im
Boot fängt an zu schreien, einer im Mob
äfft es nach. „Warum kommt ihr?“, brüllt
ein anderer. „Die Grenzen sind geschlos-
sen.“ Sie treten das Schlauchboot weg vom
Kai. Als zwei Journalisten die Menge fil-
men wollen, schlagen Männer auf sie ein.
Jemand schreit: „Ins Meer! Ins Meer!“

Die Wut ist so groß, dass jedes Mitgefühl
verloren geht, egal, wie schwer das Schick-
sal die Flüchtlinge auf der Insel trifft.
Das kleine Mädchen Attifa etwa ist
wohl die jüngste Bewohnerin des Lagers
Moria, geboren wurde sie vor einer
Woche. Nach nur einer Nacht im Kran-
kenhaus kamen Mutter und Kind wieder
zurück hierher, ins Zelt Nummer T4141,
ein gequetscht zwischen der Holzhütte
der Nachbarsfamilie und einem bren-
nenden Kohlehaufen, der sie warm hal-
ten soll. Vergangene Nacht hat es stark
geregnet, eine Solarleuchte klemmt am
Zelteingang. „Elektrizität haben wir
keine“, sagt der Vater, „nicht einmal
Milchpulver können wir hier in warmes
Wasser rühren.“ In der Nacht zuvor spül-
te es das Brennholz hinweg, das er gesam-
melt hatte. Er kann seine Familie nicht
mehr warm halten.
Auch von einem anderen Kind hätte
man berichten können, von einem Kind,
das die Ankunft in Europa nicht mehr er-
lebt hat. Es war Montagmorgen, das Ufer
von Lesbos war schon in Sichtweite. Mehr
als 45 Flüchtlinge drängten sich auf dem
Boot. Sie ließen es absichtlich kentern, um
sich retten zu lassen. Doch für das Kind
kam die Hilfe zu spät. Sein Tod wurde zu
einer Randnotiz in den Nachrichten.
Für Erdoğan waren es erfolgreiche Tage.
Nicht mal die Tatsache, dass sich einige
Flüchtlinge bald wieder auf den Weg zu-
rück machten, konnte daran noch etwas
ändern. Erdoğan hatte nur wenige Worte
sagen und ein paar Busse schicken müs-
sen, um Europa in die Hysterie zu treiben.
Die griechischen Männer, die mit ihren
Füßen das Boot vom Kai wegstießen, han-
delten, als wären sie eine Metapher auf die
europäische Politik. Das tut Europa: Es
stößt die Menschen weg. 2

Die Flüchtlinge in den griechischen Lagern
brauchen dringend Unterstützung. Wir leiten
Ihre Hilfe weiter. Bitte spenden Sie an:
IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01
BIC DEUTDEHH
Stichwort „Lesbos“; http://www.stiftungstern.de

DIE GRENZEN ZWISCHEN


DER EU UND DER TÜRKEI


Im Nordwesten
grenzen die
EU-Staaten
Bulgarien und
Griechenland an
die Türkei. Im
Ägäischen Meer
liegen mehrere
griechische Inseln,
darunter Lesbos,
nur wenige Kilo-
meter entfernt
vom türkischen
Festland

50 5.3.2020
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