Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Jan Christoph Wiech-
mann (l.) war 2017 dabei,
als Präsident Morales
eine Linie einweihte. Fotograf
James Whitlow Delano fuhr zuletzt mal
mit einer Seilbahn in einem US-Skigebiet –
da kostete der Trip allerdings 40 Dollar

Bolivien. In der Station Quta Uma weiter


unten steigen Professoren zu den Arbeitern


in die Gondel. In der Station Supu Kachi


sind es Aymara-Frauen in weiten bunten


Röcken und mit Bowlerhüten. Sie treffen


bei der nächsten Station Chuqui Apu auf


Manager, für die es auch mit dem Sportwa-


gen nicht schneller zur Arbeit geht.


Selbst für den Krankentransport wird


die Seilbahn genutzt, wenn der Kranken-


wagen in den verstopften Straßen der


Metropole mal wieder feststeckt. Und für


Touristen ist sie ohnehin der beste Weg, um


die Region zu entdecken. Die Fahrkarte


kostet umgerechnet nur 39 Cent.


So lautet das Motto des Teleféricos auch:

„Uniendo nuestras vidas“. Unsere Leben


einend. Die Seilbahn ist zu einem Symbol


für den sich entwickelnden Andenstaat ge-


worde. Sie dient nicht nur als Transport-


mittel und Touristenattraktion, sondern


als Versuch der nationalen Vereinigung. Sie


verbindet das „Flachland“, 3200 Meter, mit


der Hochebene. Den reichen Süden von La


Paz mit der armen Peripherie El Altos. Die


Gegenden der weißen Bewohner (14 Pro-


zent der Bevölkerung Boliviens) mit denen


der Ureinwohner (60 Prozent). Doch die


chronische Spaltung des Landes konnte


auch der Teleférico nicht überwinden.


Ganz unterschiedliche Ansichten


Seit Evo Morales 2006 ins Amt kam, hat er


das Land so geprägt wie kein Präsident vor


ihm. Der ehemalige Coca-Bauer hat nicht


nur den Teleférico bauen lassen, sondern


vor allem Schlüsselindustrien verstaatlicht


und die Rechte der Ureinwohner gestärkt.
Er hat – höchst umstritten – Kinderarbeit
genauso legalisiert wie den Anbau und Ver-
kauf von Coca, Rohstoff für Kokain, was
sich nahe der Station Inalmama (weiße Li-
nie) auf dem riesigen Coca-Markt von Vil-
la Fatima besonders gut beobachten lässt.
Die Analphabetenrate Boliviens ist seit
2005 von 13 auf 3,12 Prozent gefallen, die
Armutsrate um ein Drittel. Der Anteil der
Frauen im Parlament beträgt 53,1 Prozent
und gehört zu der höchsten der Welt.
Das einst ärmste Land Südamerikas ist
nicht nur indianischer geworden, sondern
auch gerechter. Aber, so sagen Kritiker: auch
autoritärer, korrupter. Morales besetzte das
Verfassungsgericht mit ihm geneigten
Richtern. Bei den Wahlen im vergangenen
Oktober wurden ihm Fälschung und Betrug
vorgeworfen. Der dienstälteste Präsident
Lateinamerikas musste sich dem Druck des
Militärs beugen und floh ins Exil nach Me-
xiko und dann Argentinien.
Auch im Teleférico erlebt man die sehr
unterschiedliche Sicht auf Morales: Für
viele Arme, vor allem aus El Alto, symboli-
siert er noch immer den Aufbruch, die so-
ziale Revolution, die Entkolonialisierung
des indianischsten aller lateinamerik-
anischen Länder. Für die Reichen aus dem
Süden La Paz’ und die Bewohner des Flach-
lands um Santa Cruz symbolisiert er die
Autokratie, einen gefährlichen Sonderweg,
sie nennen ihn abfällig „Ego“ Morales.
Am 3. Mai wird Bolivien einen neuen
Präsidenten wählen. Morales darf dann
nicht antreten. Gegen den Sozialisten wird
wegen des „Verdachts auf Aufwiegelung“
und „Terrorismus“ ermittelt, die jetzige
rechtskonservative Übergangsregierung
hat einen Haftbefehl gegen ihn erlassen.
Wenigstens Senator wollte er dann wer-
den, doch auch das wird ihm verweigert,
weil er nicht mehr in Bolivien lebt.
In den Umfragen jedoch führt der Kan-
didat seiner Partei MAS, Luis Arce, der Mo-
rales nach einem Wahlsieg zur Rückkehr
in seine Heimat verhelfen könnte.
Der ewige Junggeselle, der als Familien-
stand angibt: „verheiratet mit Bolivien“,
könnte dann auch die elfte und letzte Seil-
bahnlinie wieder einweihen.
Die Farbe: Gold. 2

Ein Fußballplatz in El Alto.
Darüber eine der zehn
Linien des Teleférico, die
zusammen eine Länge von
rund 32 Kilometern haben

ATTRAKTION


FÜR TOURISTEN


UND PROJEKT


DER NATIONALEN


VEREINIGUNG


62 5.3.2020

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