Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

D


ie schlechte Nachricht zuerst: Die
Lage ist eher semi. Die Atmosphäre
ist vollgestopft mit Emissionen, die
Ozeane quellen von Plastik über, das
Land ist zugestellt mit Autos und
Kraftwerken. Die Menschheit ist
Weltmeister geworden in der wohldokumentierten
Zerstörung ihres eigenen Lebensraums. Und es ist kei-
nesfalls überraschend, dass wir uns dieser ökologischen
Tragödie noch nicht entgegengestellt haben: Uns fehlt
schlicht die Vorstellung, wie Alternativen aussehen
könnten. Die gute Nachricht: Es muss nicht so bleiben.
Bisher gab es wenig Gründe, sich neue gesellschaftli-
che Zukünfte auszumalen. Entweder, weil es ohnehin
immer neue Prophezeiungen vom Ende der Mensch-
heit gab. Oder weil man sich in den großen Entwicklun-
gen der vergangenen Jahrzehnte einfach auf das Positi-
ve konzentrierte. Als die Wiedervereinigung kam und
der saure Regen ausblieb, der Atomausstieg besiegelt
war und die ersten Solarerzählungen kursierten, schien
das vorzeitige Armageddon abgewendet. Sieg für den
Westen, Freude im Wohlfahrtsstaat.
Der jüngere Teil unserer Gesellschaft kennt keine
andere Welt als diese. Die wiedervereinigte, wohlstän-
dige, in der alles merkelianisch-beständig besser wird.
Momente der Fragilität gibt es nur stark konzentriert.
Mal eine kriselnde Bank, ein Bundesland, eine Partei.
Und im Mittleren Osten ist ohnehin immer irgendwas.
Warum sollte man sich also Vorstellungen von einer
anderen Welt machen? Läuft doch, weiter so.

Als Konsequenz dieser kollektiven imaginativen
Resignation verschärfen wir kontinuierlich die (ökolo-
gischen) Krisen. Wir lagern die sichtbaren Probleme aus
(indem wir Plastikmüll nach China schicken) und rela-
tivieren die weniger sichtbaren („nicht die Luft in den
Städten ist zu dreckig, die Grenzwerte sind zu hoch“). In
seltenen Momenten zivilisatorischer Höchstleistungen
entscheiden wir uns dann in einem mutigen Schritt,
Plastikstrohhalme zu verbieten.
Aber wie könnte man auch von Menschen erwarten,
dass sie die Unbequemlichkeiten, die mit allen großen
Gewohnheits- und Gesellschaftsveränderungen ein-
hergehen, auf sich nehmen, wenn sie nicht wissen,
wofür? Wenn Sehnsuchtsorte inexistent und hoff-
nungsvolle Alternativen zum Status quo nicht imagi-
niert und besprochen werden?
Das Träumen müsste als Kernkompetenz gehandelt
werden. Noch wird es aber radikal vernachlässigt. Als
ich das letzte Mal aufgefordert wurde zu träumen, war
ich in der dritten Klasse. Damals lagen wir auf kalten
Gymnastikmatten und machten Traumreisen. In mei-
ner Erinnerung ging es dabei meistens um Tiere und
Berge und Wolken. Danach kam traumtechnisch erst
mal gar nichts. Später ging es noch mal um die Zukunft,
da sollte man allerdings weniger träumen, sondern nur
werden, und nicht mal das Werden allein genügte. Es
ging um das Was, um Ergebnisse. Und vor allem ging
es ausschließlich um einen selbst. Die Frage ist, wo du
dich siehst in fünf oder zehn Jahren, nicht, wo du die
Welt siehst. Es geht darum, was du einmal sein und
besitzen willst, nicht, in was für einer Gesellschaft du
einmal leben möchtest. Mein Auto, mein Haus, mein
Job. Ideen über die potenziellen Großartigkeiten einer
tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformation
haben da keinen Platz.
In einer Gesellschaft, die sich besser mit Traumata
als mit Träumen auskennt, in der Zukunft in der ersten
Person Singular gesprochen wird, werden wir die gro-
ßen ökologischen Krisen nicht überwinden können.
Es sei denn, wir beginnen wieder damit, die Vorstel-
lungskraft zu trainieren, allein und kollektiv. Es sei
denn, wir fangen an, uns imaginativ zu befreien von den
scheinbaren Sachzwängen des fossilen Kapitalismus.
Es sei denn, wir beenden das gesellschaftliche Traum-
verbot.
Man stelle sich nur vor, wir würden Politik machen
für Menschen statt für Jahresendbilanzen. Wir würden
die Gesundheit des Einzelnen ernster nehmen als die
Interessen der Pharmaindustrie. Wir würden der Natur
zuhören. Nicht nur Spielplätze, sondern ganze Lebens-
räume kindersicher, menschensicher machen.
Man stelle sich vor, wir würden in aller Ernsthaftig-
keit die Frage beantworten, was für eine Art Wachstum
uns eigentlich guttut, und uns verabschieden von einer
industriellen Maschinerie, die uns erzählt, wir müssten
uns sechs Tage die Woche glücklichkaufen. Und am sieb-
ten dann online.
Was wäre das für eine Welt? Wir haben als Mensch-
heit schon so viele Unmöglichkeiten möglich gemacht.
Uns des gesellschaftlichen Träumens zu ermächtigen
könnte eine weiter sein. Dann kriegen wir auch noch
den Rest hin. Augen auf, Augen zu. 2

WIR BRAUCHEN


MEHR TRÄUME


5.3.2020 63

KOLUMNE


AUF DEM WEG NACH MORGEN


Luisa Neubauer


An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel unsere Kolumnisten
Luisa Neubauer, Richard David Precht, Harald Welzer und Aleida Assmann


Die 23-Jährige ist die bekannteste
Aktivistin der deutschen
„Fridays for Future“-Bewegung

FOTO: RETO KLAR/FUNKE FOTO SERVICE
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