B
eim Aufräumen bin ich auf mein
Abiturzeugnis von 1979 gestoßen
und auf mein Magisterzeugnis von
- Irgendwann waren das mal
wahnsinnig wichtige Dokumente,
auf die man jahrelang hingearbei-
tet hatte, für die man sich die Nächte um die
Ohren gehauen hat, sie schließlich stolz
entgegennahm und sorgsam in
Plastikhüllen packte. Jetzt sind
sie zwei gelbliche Blatt Papier
mit Stempel und unleserlicher
Unterschrift von irgendwem,
ohne jeglichen Belang. Alt-
papier.
Kurz habe ich überlegt, ob
ich die beiden Blätter wegwer-
fe, aber dann habe ich sie doch
wieder in die Mappe mit den
Schriftstücken gelegt, die man
nun mal hortet, ohne genau zu
wissen, warum eigentlich. Wird
man sie je wieder brauchen?
Natürlich nicht. Wozu also auf-
heben?
Wenn ich’s recht bedenke,
habe ich nichts davon je benö-
tigt, niemand hat die Zeugnis-
se je sehen wollen – nicht mal
zu einer Zeit, als ich noch jung
genug war, um Lebensläufe
schreiben zu müssen. Die
Daten genügten, 1979, 1987, mit
der eilfertigen Erklärung dazu:
jaja, überlange Studienzeit, ist
klar, aber Auslandsaufenthal-
te, Stipendien, wissenschaft-
liche Hilfskraft, Uniwechsel, so
Zeug. (Stimmte auch alles, aber
in Wahrheit vor allem: gebum-
melt und gelebt.) Schon damals
habe ich gelernt: Für Lebens-
entscheidungen hat man sich
gefälligst zu rechtfertigen, wenn sie nicht
ins Raster passen.
Das Raster war damals allerdings noch
etwas grobmaschiger, bilde ich mir ein. In-
zwischen gilt vermutlich als asozial, wer
nicht binnen drei Jahren nach dem Abi
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht
oder verdammt gute Gründe wie karriere-
relevante Auslandspraktika vorweisen
kann, sollte es länger gedauert haben.
Was mir aber mal wieder klar geworden
ist: was für ein himmelweiter Unterschied
zwischen Lebenslauf und gelebtem Leben
besteht. Da gibt es zum einen die Angaben,
die man halt so in eine Bewerbung schreibt
- Schulabschluss, Ausbildung, Noten, Kar-
riereschritte, Dreisprachigkeit, Führer-
schein Klasse 3, ehrenamtliche Tätigkei-
ten –, und zum anderen all das, worauf
es wirklich ankommt. Also all die Fähig-
keiten, Talente, Kapazitäten, Stärken,
Schwächen, Leidenschaften, Besonder-
heiten, an die dereinst in einem Nachruf
erinnert werden würde.
Als im voriges Jahr mein Vater starb und
der Trauerredner zu uns kam, um über
sein Leben zu reden, haben wir ihm ganz
bestimmt keine Zeugnisse vorgelegt, son-
dern erzählt, was für ein irre
freundlicher, offener Typ das
war, dass er Italien liebte und
gern wandern ging, wie
schlecht in der Regel seine
Witze waren und wie sehr wir
seine schlechten Witze ver-
missten.
Als ich seine alten Mitarbei-
ter nahezu geschlossen in der
Trauerhalle sitzen sah, kamen
mir fast die Tränen: Irgendwas
hatte mein Vater im Leben
richtig gemacht, eine ganze
Menge offenbar. Ich habe je-
dem der Trauergäste ein Töpf-
chen mit Schneeglöckchen in
die Hand gedrückt, verbunden
mit der Bitte, sie irgendwo ein-
zupflanzen, im eigenen Garten
oder heimlich im Park. All die
Anrufe, Fotos, Whatsapp-Nach-
richten in den vergangenen
Wochen – „Sie blühen! Ich den-
ke gerade an ihn“ – sagen mir,
dass da einer in Erinnerung ge-
blieben ist, und zwar in guter.
Das heißt natürlich nicht,
dass man nun die Schule
schmeißen oder sein Studium
vertrödeln sollte (wobei ...),
weil die Zeugnisse irgendwann
ja doch Makulatur sind. Aber
gelegentlich vielleicht ein klei-
nes bisschen darüber nachden-
ken, welches Leben man gelebt haben
möchte und an was sich die anderen eines
fernen Tages erinnern sollen – damit kann
man gar nicht früh genug anfangen. 2
Wir sammeln Auszeichnungen und
Urkunden, die belegen sollen, was wir können.
Wer wir sind, verraten andere Dinge
Zeugnisse des Lebens
68 5.3.2020
KOLUMNE
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WINNEMUTH
Die Bestsellerautorin Meike Winnemuth („Bin im Garten“) schreibt alle zwei Wochen im stern
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ILLUSTRATION: TINA BERNING/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ