Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Diese Woche: ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN
Dr. Alexander Carpinteiro,
Oberarzt der Klinik für Hämatologie
an der Fakultät der Universität
Duisburg-Essen, Uniklinikum Essen

AUFGEZEICHNET VON BEATE WAGNER;

Symptome lag vielmehr im Immun-
system: Der Mann hatte eine „Leicht-
ketten-Amyloidose“. Bei dieser seltenen
Erkrankung kommt es zu einer Störung
von bestimmten Zellen des Abwehr-
systems: den Plasmazellen. Sie sitzen
im Knochenmark und produzieren Anti-
körper, die körperfremde Eindringlinge
bekämpfen. Die Antikörper bestehen
aus speziellen Eiweißen, sogenannten
Leichtketten und Schwerketten. Bei einer
Leichtketten-Amyloidose entsteht im
Knochenmark zunächst ein Zellklon aus

D


er schlanke Mann war seit Lan-
gem Fußball-Schiedsrichter in der
Kreisliga. An einem Tag im Herbst
bemerkte der Mittsechziger wäh-
rend eines Spiels, dass ihm zuneh-
mend die Luft wegblieb. Im Früh-
jahr darauf wurden seine Unterschenkel
dicker. Zudem litt er häufig unter Verstop-
fung. Der Mann ging zum Hausarzt, der
aufgrund der Luftnot und der Wasserein-
lagerungen in den Beinen die Verdachts-
diagnose „Herzschwä che“ stellte. Auf ei-
ner kardiologischen Station untersuchten
die Ärzte den Patienten um-
fassend, fan den aber keine
klare Ursache für eine Herz-
schwäche und entließen ihn.
Einen Monat später stürzte der
Mann und war kurz bewusst-
los. Seine Frau rief den Notarzt.
Was war der Grund für die
Bewusstlosigkeit? Eine Rhyth-
musstörung im Herzen? Oder
ein Problem im Gehirn? Der
Notarzt vermutete einen
Krampfanfall. In einer neu-
rologischen Klinik erhielt der
Patient Medikamente – und
wurde wieder entlassen.
Doch sein Zustand ver-
schlechterte sich: Der Mann
konnte nur schwer atmen,
Hände und Beine waren ange-
schwollen. Überall im Körper
lagerte sich Wasser ein. Auf
Anraten eines niedergelasse-
nen Kollegen wurde er zu uns in
das Uniklinikum Essen über-
wiesen. Wir wollten eine neue
Verdachtsdiagnose abklären,
weil wir die Ursache der Erkran-
kung nicht primär am Herzen
vermuteten. Doch dann erlitt
der Mann auf Station einen
Herzstillstand. Er wurde wie-
derbelebt. Auf der Intensiv-
station pflanzten Kollegen ihm
einen kleinen Schrittmacher
mit Defibrillator ein, einem
Gerät, das das Pumporgan unterstützt,
wenn der Herzschlag versagt.
Danach gingen wir mit Kernspin, Herz-
ultraschall und Gewebeprobe unserem
Verdacht nach und stellten fest: Die eigent-
liche Erkrankung lag wirklich nicht im
Herzen selbst, sondern zeigte sich nur in
dem Organ. Die Ursache der verschiedenen

Plasmazellen. Dieser Zellhaufen gibt dann
Leichtketten-Eiweiße ab, die sich in ver-
schiedenen Geweben ablagern. Dadurch
werden die Betroffenen krank. Bei unse-
rem Patienten war vor allem das Herz in
Mitleidenschaft gezogen worden: Er litt an
Herzschwäche und Rhythmusstörungen;
Letztere hatten die kurze Bewusstlosig-
keit und den Herzstillstand ausgelöst. Die
Leichtketten-Amyloidose kann auch an-
dere Organe und Strukturen betreffen:
Sie kann zu einer Niereninsuffizienz füh-
ren, zu Verdauungsproblemen, zu Sensi-
bilitätsstörungen in Beinen
und Armen oder das autonome
Nervensystem schädigen.
Oft wird die Leichtketten-
Amyloidose nicht oder nicht
schnell genug erkannt. Das ist
problematisch, denn die Krank-
heit schreitet zügig voran. Selbst
Verzögerungen von einem Mo-
nat oder zwei Monaten können
die Prognose wesentlich ver-
schlechtern. Auch unser Pa-
tient hatte schnell abgebaut:
War er vor dem erstmaligen
Auftreten der Luftnot noch
topfit, konnte er schon wenige
Monate später keine Treppe
mehr steigen.
Wir behandelten ihn mit
Medikamenten, die den Zell-
klon auflösen sollten – ähnlich
wie bei einer Chemothera-
pie. Bei der Krankheit ist ent-
scheidend für die Prognose,
wie gut und schnell der Kör-
per die eingelagerten Eiweiße
abbauen kann. Die Therapie
wirkte: Schon bald war der
Zellklon nicht mehr nachweis-
bar, und die Herzschwäche
besserte sich langsam. Heute
geht es dem Mann deutlich
besser. Der Plasmazellklon
scheint nachhaltig zurück-
gedrängt zu sein, die Wahr-
scheinlichkeit, dass er wie-
derkommt, ist gering. Der Patient wird
regelmäßig kontrolliert. 2

Ein Mann bekommt über Wochen immer


schlechter Luft. Schließlich wird er kurz bewusstlos.


Ein Arzt findet heraus, was ihn außer Gefecht setzt


Außer Atem


84 5.3.2020

DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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