Interview:
Bert Gamerschlag
FOTO: ANDREW MILLIGAN/AP
Nicht nur im Wetter jagt ein Tief das ande-
re; die Zeiten sind überhaupt turbulent in
Schottland. Fragt man die Leute auf der
Straße, wie sie zu einer Unabhängigkeit
vom Vereinigten Königreich stehen, gibt es
zwei Haltungen. Die einen sagen: „Hach,
ich bin da eher so neutral.“ Und die ande-
ren: „Ich bin für eine Abstimmung.“ Letz-
tere aber sind in deutlicher Mehrheit. Um-
fragen sehen das Lager jener, die rauswol-
len, bei über 50 Prozent, Tendenz steigend.
2014 gab es schon einmal ein Votum, 55
Prozent stimmten damals zwar für einen
Verbleib im Vereinigten Königreich. Doch
das war vor dem Brexit – den aber lehnen
die Schotten mehrheitlich ab.
Nicola Sturgeon ist „First Minister“, Pre-
mierministerin Schottlands. Sie empfängt
in einem elegant nüchtern gehaltenen
Büro im modernen Parlamentsgebäude.
Das steht gleich neben dem mittelalter-
lichen „Holyrood Palace“, wo die Queen
wohnt, wenn sie in Edinburgh weilt; was
aber eher selten vorkommt. Sturgeon ist
Vorsitzende der Schottischen Nationalpar-
tei SNP und selbst eine Art politisches
Sturmtief. Sie hält Boris Johnson in London
mächtig unter Wind. Der tut, als ignoriere
er sie. Bei den Brexit-Verhandlungen, so
sagen Sturgeons Berater, werde Edinburgh
nicht einmal konsultiert, ja das Verhalten
Londons grenze an Verachtung. Dabei wol-
len die Schotten gehört werden. Sie fühlen
sich als Europäer und wollen dies auch
gern bleiben. Sturgeon ist freundlich im
Ausdruck, konzentriert im Ton und präzi-
se in der Aussage. „Take a seat“, sagt sie,
„would you like coffee?“ Und los geht’s.
Warum soll es ein neues Unabhängig-
keitsvotum für Schottland geben, wo es
doch schon eines gab und dies zudem das
Attribut „entscheidend“ trug?
Die Lage hat sich seit 2014 dramatisch ver-
ändert. Die Änderung heißt Brexit. Schott-
land ist ein Teil Europas, und das wollen
wir auch bleiben: EU-Bürger. Da aber das
rum wollen wir unsere Dinge allein regeln,
unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen
und die für uns richtigen Beziehungen
pflegen. Leider werden wir zurzeit in eine
Richtung gezwungen, in welche die Mehr-
heit unserer Bevölkerung nicht will.
Wie soll das rechtlich gehen, wenn Boris
Johnson – was er kann – seine Zustim-
mung einfach verweigert?
Johnson wird sie nicht dauerhaft verwei-
gern können, wenn die Zustimmung zur
Unabhängigkeit weiter steigt. Das ist den
meisten in seinem Umfeld auch klar. Mei-
ne Aufgabe ist es darum, unsere Sache zu
verfechten und die Argumente für die Un-
abhängigkeit gut zu führen.
Es wird also eine politische und keine
rechtliche Entscheidung?
Wir schließen die Anrufung der Gerichte
nicht aus, aber diese Angelegenheit sollte
am Ende politisch ausgehandelt werden.
Wovon will Schottland eigentlich leben?
Wir sind ein reiches Land, nicht allein in
finanzieller Hinsicht, sondern auch, was
unsere Landschaft betrifft, unsere Talen-
te sowie das Können und die Begabung der
Bürger. Einige EU-Länder von uns ähnli-
cher Größe sind teils noch wohlhabender,
dabei haben sie nicht einmal unsere Res-
sourcen. Unser ganzes Vermögen zu zeigen,
davon hält uns etwas zurück – und dieses
etwas heißt Westminster.
Schottland hat mehr als Whisky und
Wolle?
Hallo? Zunächst mal: Unser Whisky ist kei-
ne Kleinigkeit, er ist einer unserer wich-
N
Vereinigte Königreich der EU so bald kaum
wieder beitreten wird, müssen wir eben
unabhängig werden.
Das „entscheidende“ Votum war also
doch nicht entscheidend?
Die Lage ist jetzt eine andere. Außerdem ist
Demokratie kein einmaliger Akt. Die Men-
schen müssen sich auch umentscheiden
dürfen, sonst ist die Demokratie keine. Bei
der Abstimmung 2014 hatten die Gegner
der Unabhängigkeit argumentiert, ein Aus-
tritt aus Großbritannien werde zum Aus-
tritt aus der EU. Gerade das wollten die
Schotten mehrheitlich aber nicht. Dieses
Argument zog, und wir blieben bei Eng-
land, aber durch den Brexit sind wir am
Ende doch raus aus der EU, in der wir aber
bleiben wollen. Darum heißt es nun: Wol-
len wir Teil des Landes von Boris Johnson
bleiben – oder ein kleines, fortschrittlich
weltoffenes Land und Teil von Europa sein?
Wer dürfte bei einem zweiten Votum
abstimmen?
Jeder, der in Schottland wohnt, sei er ge-
bürtiger Schotte, Engländer oder ein an-
derer Europäer. Das war schon 2014 so. Du
lebst in Schottland, und du fühlst dich hier
zu Hause? Dann hast du Stimmrecht. Aus-
landsschotten dagegen können nicht wäh-
len, denn wo zieht man die Linie? Bei we-
niger als fünf Jahren im Ausland? Bei zehn,
bei 20 Jahren? Irgendeiner würde sich im-
mer unfair behandelt fühlen.
Sind denn die Schotten noch eine eigene
Nation?
Wir leben zwar seit 300 Jahren in einer
Union mit England, Wales und (Nord-)Ir-
land, aber eine Nation sind wir immer ge-
blieben! Wir sind ein Volk von sehr eige-
ner Identität und mit einer eigenen Mei-
nung zu vielen Fragen. Und unser Blick auf
die Welt und unsere politische Kultur ma-
chen uns auch als anders erkennbar. Da-
TRINKT
WHISKY,
LEUTE!“
96 5.3.2020