Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
Bert Gamerschlag fuhr mit
16 Jahren erstmals nach Schottland
und hat später in Glasgow
studiert. Seine Ferien verbringt er
gern auf der Inselgruppe der Hebriden

tigsten Exporte und eine tolle Marke. Fer-


ner haben wir Fisch und sind eine seefah-


rende Nation. Darüber hinaus hat Schott-


land Tourismus sowie Öl und Gas. Vor al-


lem aber hat es erneuerbare Energien aus


Wasserkraft und Wind, unsere Ressourcen


zählen zu den potenziell größten der Welt.


Die weltweit erste schwimmende Wind-


kraftanlage und die größte Gezeitenstrom-


anlage stehen bei uns. Klimabedingt wer-


den wir uns alle umstellen müssen. Schott-


land hat das dazu nötige Potenzial. Edin-


burgh und Glasgow sind Technologie- und


Finanzdienstleistungszentren erster Güte.


In Bio- und Umweltwissenschaften sind


wir führend! Unsere Unis und Kliniken ge-


hören zu den besten. Trinkt Whisky, Leu-


te, tut das reichlich – aber seht bitte auch,


wie viel mehr Schottland euch bietet.


Schottland würde also in die EU wollen.


Westminster mutmaßt, Spanien würde


wegen Katalonien den Beitritt eines ab-


gespaltenen Landes verhindern.


Wir wollen in die EU, ja. Eine ganze Reihe


von kleinen Staaten fühlt sich in der EU


pudelwohl. Was Spanien betrifft – die Spa-


nier haben niemals gesagt, sie würden den


Beitritt Schottlands blockieren.


Angstmacherei aus Westminster?


Ja. Solange unsere Entscheidung demokra-


tisch und rechtlich einwandfrei abläuft,


hat Spanien keine Bedenken. Ich reise viel


durch die EU – natürlich schlägt sich kein


Land offen auf eine der beiden Seiten, nicht


die schottische und nicht die britische.


Aber die Wärme, die uns entgegengebracht


wird, ist deutlich spürbar. Es besteht kein


Zweifel, dass wir in der EU willkommen


wären. Wir müssten die EU-Regeln befol-


gen und die Aufnahmeprozesse durchlau-


fen, klar, aber sehr viele maßgebliche Leu-


te sagen: Für ein Schottland, das ja bereits


40 Jahre EU-Mitglied war, wird es keine


langwierigen Prozeduren geben.


Was passiert, sollten sich Brüssel und


Westminster so zerstreiten, dass es zum


Jahresende kein geregeltes Austritts-


abkommen gibt?


Das würde heftig! Wirtschaftswachstum,


Arbeitsmarkt und Steueraufkommen wür-


den allesamt abgeschwächt, womöglich auf


viele Jahre. Anders als noch Theresa May


verfolgt die Regierung Johnson auch keine


reibungslose und enge Beziehung zur EU


mehr. Vielmehr strebt sie eine Art Freihan-


delsabkommen an, ähnlich dem mit Kana-


da – womöglich auch noch weniger. Wir


richten uns vorsichtshalber darauf ein, dass


die Verhandlungen komplett scheitern.


Selbst wenn es glimpflich verläuft, werden


wir das bekommen, was bislang als harter


Brexit befürchtet wurde. So oder so werden
die Auswirkungen beträchtlich sein.
Die schottischen Lammproduzenten
rechnen vor, sie verlören im Fall eines Aus-
tritts ohne Handelsabkommen über Nacht
drei Viertel ihres Marktes, weil das Gros
ihrer Ware nicht mehr wie bisher nach
Spanien und Griechenland gehen könnte.
Genauso ist es. Und auch Fisch ist ein Rie-
senthema. Noch sind die Fanggründe um
Britannien auf die EU-Länder verteilt.
London will da die Kontrolle zurück. Auch
ich möchte, dass Schottlands Fischer ihren
Fisch selber fangen, aber sie müssen ihre
Ware am Ende auch verkaufen können, in
Europa nämlich. Keinerlei Abkommen mit
der EU zu schließen wäre verheerend für
diese Wirtschaftszweige, das wäre das
schlimmste Szenario überhaupt.
Aber wäre eine Abspaltung nicht doch zu
schmerzhaft, nach 300 Jahren? Sich nach
40 Jahren von der EU zu trennen scheint
schon schlimm genug.
Eine Unabhängigkeit ist keine Trennung.
England und Schottland werden sich stets
dieselbe Insel teilen. Unsere Beziehungen
werden eng bleiben, nur eben als solche
zwischen gleichen Partnern und nicht mit
einem Teil, der gegen seinen erklärten Wil-
len aus der EU gezerrt wird. Klar wird es
Komplikationen und Herausforderungen
geben, aber der Vergleich zum Trennungs-
schmerz von der EU ist falsch: Es hätte nie-
mals so schlimm kommen müssen, hätten
jene, die den Brexit herbeigeführt haben,
vorher nachgedacht. Es gab bei denen null
Planungen, und über die Verhandlungs-
kompromisse und Zugeständnisse wurde
nicht offen geredet.
Die Debatten und die Wirrungen im
Londoner Unterhaus hat die Welt über
Monate fassungslos verfolgen können.
Wie anders haben wir es beim Referendum
2014 gemacht! Da haben wir ein konkretes
Vorgehen erklärt, es gab einen Haufen
Pläne, irre viel war bereits vorbereitet. So
würden wir auch das neue Referendum
organisieren. Klar, eine Unabhängigkeit
Schottlands ist kein Kinderspiel, aber der
Brexit-Kladderadatsch sollte uns nicht
abhalten. Im Gegenteil, lasst uns doch zei-
gen, wie man es besser macht. Seit dem
Zweiten Weltkrieg sind mehr als hundert
Länder unabhängig geworden. Es ist also
möglich. 2

Sturgeon mit Queen Elizabeth II auf Reisen
im Zug durch Schottland


5.3.2020 97
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