Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1

LEBEN


Fotos: Arno Burgi/dpa, imago images

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D


er Name Michael Schuma-
cher fällt. Einen Augen-
blick lang schwebt er über
der Brücke, unter der Fran-
cesco Friedrich gerade sei-
nen Zweier-Bob die Start-
rampe hinunterschiebt.
Die kleine Zuschauergruppe, die das
diskutiert, steht Ende Januar am Rand
des Eiskanals in Königssee und schaut
voller Bewunderung beim Training für
den bevorstehenden Weltcup zu.
Vier Tage später wird Friedrich wie-
der mal die Konkurrenz im Zweier-Bob
dominieren, 24 Stunden darauf auch im
Vierer gewinnen. Er hat 37 Weltcup-Sie-
ge. Dazu Olympiagold in beiden Schlit-
ten, vier EM-Titel und neun WM-Siege,
von denen er zuletzt fünf in Serie holte.
Und die Sache mit Schumacher?
Gelingt Friedrich bei der WM in Alten-
berg der sechste Titel, würde er dem
Status nach mit dem Rekord-Weltmeis-
ter der Formel 1 gleichziehen. Dann
ist auch er Legende. Und sein Rekord
vermutlich einer für die Ewigkeit, denn
sechs WM-Titel am Stück sind noch
keinem Piloten in der fast 100-jährigen
Geschichte des Bob-Sports gelungen.
Bedeutet ihm das was? Friedrich steht
im dicken Trainingsanzug nach seinem
Übungslauf am Eiskanal und über-
legt, was er mit der Frage anfangen
soll. Plötzlich arbeitet sich eine kleine
Gefühlswelle in seine Gesichtszüge.
Ihm kommt das Wort Altenberg in den
Sinn. Altenberg ist Friedrichs sportliche
Heimat. Auf der berüchtigten Strecke
im Kohlgrund, 40 Kilometer südlich sei-
ner Heimatstadt Pirna gelegen, hat er
mit 15 das erste Mal in einem Bob ge-
sessen.
Ausgerechnet in Altenberg könnte
der 29-Jährige in die Geschichtsbücher
seines Sports rasen. An diesem Wochen-
ende im Zweier, eine Woche darauf im
Vierer. „So eine Heim-WM in der Kons-
tellation wird es nie wieder geben“, sagt
er und lächelt. „Das ist fast gleichzuset-
zen mit Olympischen Spielen.“
Für Friedrich ist das eine erstaunlich
emotionale Aussage. Der „King of Bob“
ist kein Monarch großer Gesten. Zur
Selbstbeschreibung fällt ihm „ruhig“
ein. Oder: „Ich kann viel wegstecken,
bevor mich was aus der Ruhe bringt.“
Friedrich ist eher der freundliche
Familienvater von nebenan, heimisch
in den unaufgeregten Verhältnissen:
verheiratet, zwei Kinder, ein Hund, ein
Haus. Nicht einmal sein Vorname ent-
springt einer Extravaganz, sondern der
Liebhaberei seiner Eltern für klingende

Namen, wie er erklärt. Ohnehin kommt
er nur selten mit ihm in Berührung. „Die
meisten nennen mich Franz.“
Der ist tatsächlich so, sagt René Spies.
Franz sei ein Ausbund an Beschei-
denheit. „Sehr, sehr geerdet“, versichert
der 46 Jahre alte Bundestrainer aus
Winterberg. Er hat auch noch nie erlebt,
dass sein Ausnahmekönner nach einem
Sieg mal über die Stränge geschlagen
hat. „Ich bin ja schon froh, wenn die
Jungs nach einer WM abends ein Bier
trinken“, sagt er. „Aber das gibt’s ei-
gentlich nicht. Francesco ist das Gegen-
teil von einem Feierbiest.“
Friedrich ist ein absoluter
Vollprofi. „Auf allen Gebie-
ten“, sagt Spies, „und an
jedem Detail arbeitet er
professioneller als andere.“
Das sei „der große Unter-
schied“. Und das nicht nur
zu den aktuellen Konkur-
renten, sondern auch zu sei-
nen Bob-Vorgängern wie
den Mehrfach-Olympiasie-
gern Wolfgang Hoppe und
Meinhard Nehmer, Harald
Czudaj, Christoph Langen
oder André Lange. Nicht,
weil sie schlechtere Fahrer
gewesen wären, beteuert
Spies, sondern weil sich
niemand von denen so lan-
ge an der Spitze gehalten
hat wie Franz.

Jüngster Weltmeister
aller Zeiten
2013 gewann Friedrich auf
seiner Heimstrecke in Al-
tenberg seinen ersten Weltcup im Zwei-
er. Im selben Jahr wurde er mit 23 erst-
mals Weltmeister. Jünger war kein Fah-
rer vor ihm und gut möglich, dass es
auch nach ihm keiner mehr sein wird.
Gerd Leopold jedenfalls hält das für
sehr wahrscheinlich. Der 61-Jährige
ist Stützpunkttrainer in Altenberg und
Co-Bundestrainer der Nationalmann-
schaft. Mit 19 wurde ihm der Quer-
einsteiger aus der Leichtathletik zuge-
teilt. Leopold weiß also ziemlich genau,
wer was draufhat – und vor allem, wer
was daraus macht. „Viele verschwen-
den ihr Talent“, sagt er. „Heute öfter als
früher.“
Allein das mache Friedrich zu einem
„Jahrhunderttalent“. Sein Zögling habe
in den vergangenen Jahren das Maxi-
mum herausgefeilt aus dem, was ihm an
Rohmaterial zur Verfügung stand. Mit
15 wurde Friedrich in Altenberg vorstel-

lig. Bei seiner ersten Fahrt flog der Teen-
ager aus Kurve fünf. Den zweiten Lauf
brachte er ins Ziel. Also durfte er blei-
ben und zusammenfügen, was Leopold
für eine seltene Mischung aus „Leiden-
schaft, Einsatzbereitschaft, Bescheiden-
heit und Perfektionismus“ hält.
Friedrich stellt auch das auf eine Stufe
mit Schumacher, der mit der gleichen
Leidenschaft für die Details seine sieben
WM-Titel herausgefahren hat. Wie in
der Formel 1 reicht im Bob-Sport fahre-
risches Können allein nämlich nicht aus.
Jede Kurve perfekt zu treffen „macht
nur ein Drittel einer Fahrt
aus“, erklärt Friedrich. Das
zweite Drittel beeinflussen
die Kufen, das im Schlitten
verbaute Material und die
Aerodynamik, das dritte
der Start.
Friedrich beherrscht sie
alle drei. Vor drei Wochen
in St. Moritz etwa verlor er
das erste Rennen im Zwei-
er seit zwei Jahren, spä-
ter auch die Entscheidung
im Vierer. Die Crew war
krank, Friedrichs Adduk-
toren schmerzten, trotz-
dem waren sie die Start-
schnellsten. Zudem hat er
letzten Winter mit 157,06
Stundenkilometern einen
neuen Geschwindigkeits-
rekord aufgestellt. „Alles,
was er tut, ist außerge-
wöhnlich“, sagt Leopold.
Sein Schützling winkt
ab. Legende? Einzigartig?
Francesco Friedrich kann
mit solchen Begriffen nichts anfangen.
„Es bedeutet mir nicht so viel“, sagt
er, zumal er ja noch mittendrin steckt.
2022 sind die nächsten Winterspiele in
Peking. Dort will er Langes Rekord ein-
stellen, dafür muss er weitere zwei Mal
Gold gewinnen. Acht Weltcup-Siege auf
Langes 45 fehlen ebenfalls noch, der
Rekord aber dürfte schon kommenden
Winter fallen.
Als Schlusspunkt schwebt Friedrich
2023 vor. In St. Moritz soll Ende sein. Er
liebt Lebenskreise, die sich schließen.
So wie jetzt in Altenberg. Die WM in
der Schweiz wäre dann seine letzte, am
selben Ort zehn Jahre nach der ersten.
„Erst danach“, sagt Friedrich, „lohnt es
sich, darüber nachzudenken, ob ich zur
Legende tauge.“ Ein Lächeln huscht
über sein Gesicht. „Oder auch nicht.“ n

MARTIN HENKEL

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Ich kann viel
wegstecken, be-
vor mich was aus
der Ruhe bringt

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Francesco Friedrich,
Bob-Pilot
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