Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
KOLUMNE

FOCUS 9/2020 7

Eine Wahlniederlage kann für einen
Politiker eine traumatische Erfahrung sein
JAN FLEISCHHAUER Illustration von Silke Werzinger


te diese Einschätzung vorbildhaft auf den Punkt, als sie zum
Vergleich von AfD und Linkspartei schrieb, dass man Faschis-
mus und kostenlose Kitaplätze nicht gleichsetzen könne.
Ich vermute, dass vielen Menschen bei SED mehr einfällt
als kostenlose Kitaplätze, korrigieren Sie mich, wenn ich
falschliegen sollte. Außerdem kann eine Partei trotz sozialer
Wohltaten ein Verein sein, den man besser nicht wählt. Was
den Ausbau des Sozialstaats angeht, kann man auch den
Nationalsozialisten keinen Vorwurf machen. Eine Reihe von
sozialen Errungenschaften, auf die wir bis heute stolz sind,
verdanken wir dem „Führer“, angefangen beim Kindergeld
oder dem Mieterschutz.
Jede Partei hat ihren Narrensaum, bei der Linken ist der
Saum allerdings besonders reich verziert. Zwei Namen: Die
Vizechefin der Fraktion der Linken im Bundestag, Heike
Hänsel, ist ein so glühender Fan des venezolanischen Dikta-
tors Maduro, dass der „Spiegel“ sie neulich als „Vertreterin
einer verrückten Sekte“ einstufte. Über die stellvertretende

Parteivorsitzende Janine Wissler kann man auf ihrer
Wikipedia-Seite lesen: „Janine Wissler lehnt den Kapi-
talismus als ‚unmenschliches, grausames System‘ ab.
Das Einführen einer ‚klassenlosen Gesellschaft’
könne nicht durch ‚Parlamente und Regierun-
gen‘ geschehen.“
Mag sein, dass Leute wie Hänsel oder Wissler
in der Linkspartei nicht viel zu sagen haben. Ich
will trotzdem nicht von Politikern regiert werden,
die auf Pilgerfahrt nach Caracas gehen oder darüber
nachsinnen, wie man das parlamentarische System
aushebeln könne. Nennen Sie mich altmodisch: Ich
habe es einfach lieber, wenn an der Regierung Par-
teien beteiligt sind, die kein Fall für den Verfassungs-
schutz sind.

E


ine gewisse Doppelbödigkeit gehört zum
politischen Geschäft. Aber wer die Toten von
Buchenwald exhumiert, um sich gegenüber
dem politischen Gegner in Szene zu setzen,
muss sich strengere Maßstäbe an moralische Konsistenz
gefallen lassen. Ausgerechnet bei der Vergangenheitsbe-
wältigung nimmt es die Linkspartei selbst nicht so genau.
Die DDR ein Unrechtsstaat? Das könne man so nicht sagen,
findet Ramelow. Schießbefehl an der Grenze? Nicht wirk-
lich bewiesen, sagt er. Wer weiß, vielleicht lernen wir dem-
nächst, dass die Mauer eigentlich gar keine Mauer war.
Ich habe für solche Verrenkungen sogar Verständnis. Wer
viele Ehemalige in den eigenen Reihen hat, tut gut daran,
sie nicht zu verärgern. Das war bei der CDU bis in die sieb-
ziger Jahre nicht anders, weshalb man auch dort verlässlich
die schützende Hand über die alten Kameraden hielt. Nur
sollte man sich dann vielleicht nicht zu sehr ins Zeug legen,
wenn es um die Verfehlungen bei anderen geht.
Im Netz machte über das Wochenende ein kurzer Videoclip
Karriere, in dem zu sehen ist, wie Ramelows Staatskanzleichef
Benjamin-Immanuel Hoff wenige Tage vor der Ministerprä-
sidentenwahl erklärte, weshalb es kein Beinbruch sei, wenn
eine rot-grüne Minderheitsregierung ihre Gesetze mithilfe
von Stimmen aus der AfD durchbringe. Zwei Wochen später
gilt jede Unterstützung durch die AfD als unentschuldbarer
Tabubruch.
Ich glaube, dass Ramelow in China ein sehr glücklicher
Mensch wäre. In China gibt es weder freche Journalisten
noch eine Öffentlichkeit, die einen mit alten Äußerungen
oder Ankündigungen in Verlegenheit bringen könnte.n

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Instagram: jfleischhauer
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