Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
KULTUR

82 FOCUS 9/2020

D


ie wohl eindrucksvollste
Szene der Justin-Bie ber-
Serie „Seasons“ auf You-
Tube zeigt den kanadi-
schen Musiker, wie er in
einer blauen Sauerstoff-
kammer sitzt, die man
sich als eine Mischung aus
Gummiröhre, Schlafsack und Zelt vorstel-
len muss. Vor ihm hockt seine Frau Hailey
und erklärt ihm, dass er seine Tabletten
wieder zu spät nehmen würde. Aber er
habe sie doch längst genommen, protes-
tiert Bieber, worauf seine Gattin erwi-
dert, ja, die 2-Uhr-Tabletten schon, aber
nicht die 3-Uhr-Tabletten. Schuldbewusst
schluckt er seine Pillen und legt sich rück-
lings in die Kammer, Hailey schließt von
außen den Reißverschluss, und die Kam-
mer mit dem 25-jährigen Popstar darin
bläst sich auf. Auf Wiedersehen, grausa-
me Welt!
Mehr als vier Jahre ist es her, dass
Bieber mit „Purpose“ ein Album veröf-
fentlicht hat, vor beinahe drei Jahren gab
er im Juli 2017 in London sein vorläufig
letztes Konzert. Eigentlich standen noch
Termine in Nordamerika und Asien auf
dem Programm, doch nach 150 Shows
war Bieber mit seinen Kräften am Ende
und tauchte ab. Wie er heute weiß, litt er
an Lyme-Borreliose und Pfeifferschem
Drüsenfieber, wobei es gewiss nicht hilf-
reich war, dass er seine immer gravieren-
deren Depressionen und Angstzustände

Vom Kinderstar zum


Pop-Prinzen: das Leben


Justin Biebers in Bildern


versuchte, mit Ecstasy, codeinhaltigem
Hustensaft, halluzinogenen Pilzen sowie
Pillen aller Art in den Griff zu bekom-
men. Zeitweise sei sein Drogenkonsum
so besorgniserregend gewesen, erzählt
Bieber in der Doku-Serie, dass Leute sei-
nes Teams nachts in sein Schlafzimmer
geschlichen sind, um zu schauen, was sein
Puls so macht.
Inzwischen hat sich Bieber wieder
aus der Deckung gewagt. Anfang Janu-
ar veröffentlichte er seine kuschelige
Comeback-Single „Yummy“, zu Deutsch
„lecker“, in der es im Kern um die kulina-
rischen Aspekte ehelicher Freuden geht.
Jetzt hat er mit „Changes“ sein fünftes
Album vorgestellt, es ist das mit Abstand
beste. Er sei auf dem Weg der Besse-
rung, heißt es, doch sieht man sich das
knapp 45-minütige Interview an, das er
zum Album-Release mit Zane Lowe von
Apple Music geführt hat, wirkt er so mit-
genommen und zerbrechlich, dass man
ihm einen Teller warme Suppe bringen
möchte. Wie ein Mensch gewordener
Fluchtimpuls windet er sich auf dem Stuhl,
wippt unkontrolliert mit Kopf und Ober-
körper vor und zurück, zappelt mit den
Beinen und ist kaum in der Lage, seinem
Gegenüber in die Augen zu schauen.
Als Lowe ihn fragt, ob er seine Kollegin
Billie Eilish – sie hatte ihr Kinderzimmer
früher mit Bieber-Postern tapeziert, er
sang vergangenes Jahr auf dem Remix
ihres Hits „Bad Guy“ – vor den Folgen des

schnellen Ruhms schützen möchte, lau-
fen plötzlich die Tränen. „Es war schwer
für mich, in diesem Geschäft so jung zu
sein und nicht zu wissen, an wen ich mich
wenden sollte“, sagt er. Alle hätten ihm
erzählt, dass sie ihn liebten und ihm im
nächsten Moment den Rücken zugekehrt.
„Ich möchte einfach nicht, dass sie den
Boden unter den Füßen verliert und das
durchmachen muss, was ich durchge-
macht habe. Das wünsche ich nieman-
dem.“ Wenn sie ihn brauche, sei er nur
einen Anruf entfernt.

Erwachsen werden vor den Augen der Welt
Bevor er entdeckt wurde, war Bieber im
Grunde ein ganz normaler Junge aus
bescheidenen Verhältnissen, der mit sei-
ner alleinerziehenden Mutter Pattie Mal-
lette in einer Sozialwohnung in Stratford/
Ontario lebte. Wenn er sich die Zeit nicht
gerade mit Fußball und Hockey vertrieb,
spielte er Gitarre, Schlagzeug, Klavier und
Trompete. Wie das ging, hat er sich selbst
beigebracht, die Instrumente standen ja
im Gemeindehaus herum. Als er zwölf
war, hatte Bieber die Idee, sich als Stra-
ßenmusiker zu versuchen, und setzte sich
mit der Gitarre auf die Stufen des Thea-
ters in Stratford. 3000 kanadische Dollar
kamen dabei zusammen, womit er den
ersten Familienurlaub überhaupt finan-
zieren konnte, es ging nach Disneyland.
Danach kam er auf den Geschmack
und trat öfter auf. Damit die in Kanada

„Down To Earth“ Bieber, 1994
geboren, verdient sich als Straßen-
musiker seinen ersten Urlaub

„Love Me“
Radio Disney feiert
den 15-Jährigen als
„Rising music
sensation“. Eine
Debüt-EP erscheint

„My World“
Der US-Sänger
Usher lernt Bieber
2008 im Studio
kennen. Er vermit-
telt ihn an das La-
bel Island Records

„Bigger“
Kino-Biopic mit ge-
rade mal 16 Jahren:
„Never Say Never“

„First Dance“ In den USA unterschreibt er einen
Plattenvertrag und gibt sein erstes TV-Interview

2007

2008

2009

2009

2011
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