Die Welt - 05.03.2020

(Joyce) #1

D


urch den Staub zu den
Sternen. Dieses „per as-
pera ad astra“, durch das
Rohe zum Erhabenen, das
ist natürlich auch ein
ewig aufklärerisches Ludwig-van-Beet-
hoven-Narrativ. Doch gerade anlässlich
des Jubiläumsjahres zum 250. Geburts-
tag greift man es nicht mehr aktiv auf.
Heute soll die Haltung wegführen vom
mürrischen Titanen hin zum empfind-
samen Menschen mit seinen auch für
die Nachgeborenen teilbaren Gefühlen.
Trotzdem will der Klassikbetrieb aber
nicht nur den üblichen Musikkanon ab-
spulen, sondern innovativ sein, mit und
um Beethoven Neues kreieren.

VON MANUEL BRUG

Also gibt es einen Telekom-Compu-
ter, der mal wieder die Skizzen einer 10.
Sinfonie weiterkomponiert. Und Rudolf
Buchbinder, in Österreich berühmter
Beethoven-Interpret, hat elf zeitgenös-
sische Komponisten, darunter Krzysz-
tof Penderecki, Max Richter und Jörg
Widmann, gebeten, neue Diabelli-Varia-
tionen für ihn zu schreiben. Am besten,
spektakulärsten funktionieren solche
Unternehmungen freilich, wenn man
Beethoven auf die Bühne bringt, aus
dem Konzertsaal herausholt. Dumm
nur, dass er selbst und unter Schmerzen
mit dem „Fidelio“ nur ein einziges Mu-
siktheater-Projekt vollenden konnte.
Diese Oper hat man in Bonn, der ei-
nen Beethoven-Metropole, in der der
liebe Ludwig das erste Drittel seines 56-
jährigen Lebens verbracht, aber noch
wenig Bedeutendes komponiert hat, be-
reits im Repertoire; in einer bewusst
konventionellen, garantiert weltweit

Tournee-fähigen Inszenierung. Als ver-
gifteten Geburtstagsgruß hat man frei-
lich eine weitere, zum schnellen Ver-
brauch bestimmte Inszenierung bei
dem Regie-Agitator Volker Lösch be-
stellt. Und der liefert, wie erwartet, mit
seinem „Fidelio“ Agitprop der groben
Art als Bilderflut in einer Green Box.
Das Befreiungsopus aus dem spani-
schen Gefängnis mutiert mit dazwi-
schen montierten Zeitzeugnissen zur
Anti-Erdogan-Oper unter dem Motto
„Kommando Beethoven zur Sichtbar-
machung von politischen Gefangenen
in der Türkei“. So weit, so platt.
Doch man holt an der Bonner Oper
auch den Bildungsbürger ab. Das ge-
lingt viel manierlicher und besser. Die
optische Klammer setzt dabei die in-
zwischen 76-jährige Choreografin und
Regisseurin Reinhild Hoffmann, Tita-
nin des deutschen Tanztheaters. Deren
schlackenlos nüchterner Bewegungs-
stil eint sehr fein zwei ganz unter-
schiedliche Projekthälften: Da ist zum
einem das noch nicht einmal eine Stun-
de lange Oratorium „Christus am Öl-
berge“ von 1803, ein Außenseiter des
Beethoven-Repertoires. Das entstand,
die Wissenschaft ist uneinig, im Um-
fffeld des „Heiligenstädter Testaments“,eld des „Heiligenstädter Testaments“,
jenem berühmt-berührenden Zeugnis,
in dem der 32-Jährige seine letzten
Dinge regelt, über seine Menschen-
scheu und erstmals auch über seine
Taubheit spricht.
Ein Künstlerbekenntnis der besonde-
ren Art. Aber nicht das wählte der Kom-
ponist Manfred Trojahn als Einleitung
dieses intensiven Abends, sondern ein
anderes, ebenfalls berühmtes, auch wie-
nerisches. 100 Jahre später verfasst, auf
ein 200 Jahre früheres, fiktives Ereignis

verweisend: „Ein Brief“ von Hugo vom
Hofmannsthal, vom Dichter Lord Chan-
dos angeblich an seinen Mentor Francis
Bacon gerichtet, von seinem Ende als
Schreiber berichtend, mit der Sprache
als Ausdrucksmittel ringend und auf der
Suche nach einer neuen Poetik.
Trojahn komponierte den Halbstün-
der für eine Beethoven-Besetzung und
den herausragenden Bariton Holger
Falk. Der trägt das in einer transluziden
Prosodie vor, halb gesungen, halb ge-
sprochen, unaffektiert, bannend und
berührend. Die Hoffmann inszeniert
ihn ganz naturhaft und doch tänzerisch
auf einem Riesenfolianten, umweht von
welkem Laub. Mythologische Gestalten
tauchen als Projektionen auf, das Buch
klappt hoch, das Lesebändchen schlän-
gelt sich. Und immer kämpft da einer
mit seiner Kunst und seiner Sendung.
Der zweifelnde Christus (schmel-
zend: Kai Kluge) des zweiten Teils,
jetzt tanzen Folkwang-Schüler als Jün-
ger in grauen Unisexkleidern körper-
hafte Reigen, er hat schon resigniert,
gibt sich in seinen letzten Stunden im
Garten Gethsemane in Gotteshände,
erwartet Ende und Erlösung. Viel
transzendenter klingt Beethovens
tröstliche Musik, Dirk Kaftan und das
Beethovenorchester spielen sie mit
konzentrierter Kraft. Über allem
schwebt, die biblischen Gestalten tre-
ten aus dem hochgestellten Folianten,
die zauberhaft sopranklare Stimme des
Seraphs von Ilse Eerens. Das Ende ge-
hört freilich Holger Falk, diesmal mit
den ersten Worten des „Heilgenstädter
Testaments“: „O ihr Menschen die ihr
mich für feindselig störrisch oder mi-
santropisch haltet oder erkläret, wie
unrecht thut ihr mir...“

Nach wie vor im Fokus: Beethoven,
der vergebliche Frauenfreund. Ziemlich
spekulativ, aber natürlich clever ver-
sucht es das Theater Regensburg. Da
lässt sich der estnische Tonsetzer Jüri
Reinvere drei Stunden lang, weder
klanglich noch szenisch sonderlich er-
giebig, über „Minona“ aus – die angeb-
liche uneheliche Tochter aus der mögli-
chen Verbindung mit der Vielleicht-
„Unsterblichen Geliebten“ Baronin Jo-
sephine von Stackelberg. Sehr viel Le-
gende und kaum Substanz, historisch
wie bühnenpraktisch.
Die andere Beethoven-Stadt, Wien
natürlich, will – neben diversen „Fide-
lio“-Fassungen – auch ein Bühnenevent.
„Egmont“ soll es sein, berühmt weniger
als Goethe-Drama von 1785 über den
Freiheitskampf der protestantischen
Niederlande gegen die katholischen
Spanier, denn als Beethoven-Bühnen-
musik dazu von 1810. Noch niemals wur-
de daraus eine Oper, das vollzieht jetzt
der versiert vielbeschäftigte Christian
Jost mit seinem routiniert gern den
Kitsch rammenden Librettisten Chris-
toph Klimke im beethovenkontaminie-
ren Theater an der Wien.
Leider ist es nur eine glänzend be-
setzte, aber brave Pflichtübung gewor-
den. Jost und Klimke handeln den Fünf-
akter unter erheblichen Inhaltsverlus-
ten in 90 Minuten zwischen flirrend-
schrundigen Instrumentalflächen und
Sprechgesang ab. Der Konflikt reduziert
sich auf den gutgläubig naiven Grafen
Egmont (mit Edgaras Monvidas kaum
vorhanden) und den bösen Herzog Alba
(als Schurke immer gut: Bo Skovhus),
der auch noch ahistorisch die Egmont
zugeneigte Regentin Margarete von Par-
ma (Angelika Kirschschlager murmelt
sie mit letzten Stimmresten als ver-
brauchte Lebefrau) meucheln lässt. Eg-
monts Gefährtin Klärchen mutiert hier
zu Clara, sopranstark gesungen von Ma-
rian Bengtsson, aber auch sie bleibt ein
passives Weibchen, am Ende der Todes-
engel. Und Theresa Kronthalers wacker
AAAlba-Sohn Ferdinand schlackert nichtlba-Sohn Ferdinand schlackert nicht
nur politisch zwischen den Lagern.
Nichts klingt besonders, neuartig,
verstörend, außerordentlich. Christian
Jost verlässt sich auf sein Handwerk,
geriert sich allzu well-made-spielend als
Andrew Lloyd Webber der Avantgarde
light. Der immer eine szenische Akzep-
tanzlösung findende Keith Warner in-
szeniert das als Ancien-Regime-Kos-
tümparade zwischen schwarzen Wän-
den und weißen Kisten. Schwarze Pa-
pierkraniche flattern poetisch, als
Symbol gescheiterter Utopien kullern
Artisten von ihren Strapaten. Der ver-
sierte Michael Boder am Pult des ORF
Radio-Symphonieorchesters und der
vokalmachtvolle Arnold-Schoenberg-
Chor veredeln zudem die Produktions-
werte, ohne dass es sich mit Kunst-
mehrwert auszahlt.
Dann doch lieber wieder zurück zu
Beethoven in den Konzertsaal. Da ge-
lingt nämlich dem klugen, suchenden
israelischen Dirigenten Omer Meir
Wellber Spannendes. Mit dem Leipziger
Gewandhausorchester, wo die Sinfo-
nien erstmals unter Mendelssohn zy-
klisch erklangen, sucht er Beethoven als
Fremden. Und kreiselt ihn ungewöhn-
lich ein. Mit dem – Mendelssohn/Beet-
hoven ist hier Saisonschwerpunkt –
kaum zu hörenden, frühen Mendels-
sohn-Konzert für Violine, Klavier und
Orchester, das in einer Bearbeitung für
Mandoline erklingt, dem Instrument
russischer Juden, das diese mit nach Is-
rael brachten und das heute in unzähli-
gen Mandolinenorchestern präsent ist.
Südlich und sehnsuchtsvoll klingt so
das oft noch schematisch-charmante
Opus des 14-Jährigen.
Nach der Pause wieder ein Brief: „Der
ewige Fremde“ ein Monolog von Joshua
Shobol, in dem der Theaterautor einen
skurrilen Traum Beethovens, der sich in
Jerusalem wiederfand und über seinen
Verleger Haslinger einen Kanon
schrieb, ins Gegenteil verkehrt. Der aus
seinem Lebensumfeld gerissene Kom-
ponist wird durch einen an fremden Ge-
staden strandenden Immigranten er-
setzt. Die 1954 geborene Ella Milch-She-
riff gibt dem orientalisch brodelnde Tö-
ne zwischen Oboen-Muezzin und Mah-
ler-Märschen. Und der weißhaarige
Schauspieler Eli Danker, der auf dem
Podium herumläuft, kniet, sitzt, liegt,
der gibt den als gebrochen aufbegehren-
den „Ewigen Juden“, der sich am Ende
einen Turban bindet und ins Publikum
entflieht. Worauf attaccaeine straffe,
klangdurchdachte Version der 4. Sinfo-
nie Beethovens anhebt, jener am we-
nigstens gespielten der Reifezeit, die
laut Meir Wellber ebenfalls „Immigran-
ten“-Status genießt.
Zumindest eine originelle, nachden-
kenswerte Sichtweite, der das glorios
aufspielende Gewandhausorchester so-
wie ein begeistertes Publikum gerne
folgt. Das Beethoven-Jubiläum, hier war
es mal nicht Pflichtstück, sondern le-
bendiger Programmaustausch.
Bitte mehr davon!

Suche nach dem


GÖTTERFUNKEN


Wie gehen Opernbühnen und Orchester im Jubiläumsjahr mit Ludwig


van Beethoven um? Eine neugierige Reise nach Bonn, Wien und Leipzig


KKKai Kluge verzweifelt in Bonn als „Christus am Ölberge“ ai Kluge verzweifelt in Bonn als „Christus am Ölberge“


THILO BEU

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05.03.20 Donnerstag,5.März2020DWBE-HP


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DWBE-HP


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22 FEUILLETON DIE WELT DONNERSTAG,5.MÄRZ2020


ANYA TAYLOR-JOY
IST

EIN FILM VON AUTUMN de WILDE


AB 5. MÄRZ IM KINO


ERLEBEN SIE JANE AUSTENS ZEITLOSEN KLASSIKER
IN EINER MODERNEN UND LEBENSPRÜHENDEN VERFILMUNG

G


erade erst hat der Prinz den
Gipfel bestiegen, da beginnt er
schon, mit Blick auf sein Reich,
einen kleinen Schwank aus seinem Le-
ben zu erzählen. Der Gipfel, der ist ei-
gentlich nur eine weiträumige Grünflä-
che auf einem Berg, den man nach dem
Zweiten Weltkrieg aus den Trümmern
und dem Schutt der deutschen Historie
aufgeschüttet hatte, und die Geschich-
te, die der Prinz erzählt, ist die Ge-
schichte von seiner alten Base. Hier, auf
dem Drachenberg, da hat er sich mit sei-
ner Gang getroffen, damals, als das alles
losging mit den Frauen und der Musik,
und damals, als aus zwei Städten gerade
ein einziger riesiger Abenteuerspiel-
platz wurde.

VON DENNIS SAND

Der Berg neben dem Drachenberg ist
der Teufelsberg, und auf dem Teufels-
berg sieht man noch immer die Über-
reste einer alten CIA-Abhörstation, die
die Amerikaner im Kalten Krieg betrie-
ben haben. Damals, so erzählt es der
Prinz, habe er einen Freund gehabt, und
der Vater dieses Freundes war Dirigent
des Orchesters, das in dem Teufelsberg-
bunker gespielt hat, und alles dort war
so geheim, dass man sogar zwei Cafete-
rias hatte, damit die Mitarbeiter nicht
von den anderen Mitarbeitern wussten,
die in der Station arbeiten. Auf der dem
Drachenberg gegenüberliegenden Flä-
che, wo man nachts seine Autos parkte
und Musik hörte und Alkohol und Dro-
gen herumreichte, erzählte man sich
von diesen Mysterien.
Die Geschichte, die Prinz Pi erzählt,
vereint alle Elemente, die in Prinz-Pi-
Geschichten immer wieder vorkom-
men: die leicht sehnsüchtige Beschwö-
rung einer Vergangenheit, mit einem
Schuss Pathos, einer Prise Melancholie
und einer Essenz von geheimnisvoller
Mystik, die das eigentliche Leben er-
höht. Es sind wahre Legenden, die Pi er-
zählt, und so hat er auch sein neues Al-
bum genannt: „Wahre Legenden“.
Prinz Pi, bürgerlich Friedrich Kautz,
ist in einem Stadium seiner Karriere an-
gekommen, in dem er niemandem mehr
etwas beweisen muss. Also veröffent-
licht er nun, ohne großen Promotion-
aufwand, gleich zwei neue Alben.
Gleichzeitig. Eines als Prinz Pi („Wahre
Legenden“), das andere als Prinz Porno
(„Mit Abstand“), und führt erstmalig
die unterschiedlichen Facetten seiner
eigenen Existenz zusammen. Wenn
man verstehen will, warum diese beiden
Alben den Zeitgeist 2020 einfangen, oh-
ne sich dem Zeitgeist anzubiedern,
dann muss man verstehen, wie aus
Friedrich Kautz erst Prinz Porno und
schließlich Prinz Pi wurde, und der Dra-
chenberg, die alte Base, ist ein guter
Schlüssel zu diesem Verständnis.
Wenn ihm die Dinge in der Welt, der
Stadt, in seinem Kopf zu viel wurden,
wenn er sich überfordert fühlte, dann
ist er hier hochgekommen, erzählt Pi,
denn „hier hatte ich zumindest die Illu-
sion, alles für eine kurze Zeit überbli-

cken zu können“. Aufgewachsen in ei-
ner nicht so reichen Familie in dem an-
sonsten aber sehr reichen Stadtteil Zeh-
lendorf, war er für die Kids aus dem
Viertel immer der Junge, der nicht mit-
halten konnte, während er für alle ande-
ren (bis heute) fälschlicherweise als der
Bonze aus Zehlendorf galt, der er ja gar
nicht war.
VVVerbunden fühlte er sich aber amerbunden fühlte er sich aber am
meisten mit den Boys von der Straße,
mit denen er nachts auf dem Drachen-
berg abhing, alte Westküsten-Platten
hörte, erst Eazy-E und Snoop Dogg,
später dann die Fugees, TuPac und Big-
gie entdeckte und anschließend loszog,
um sich die Straßen der Stadt auf seine
Art zu erobern. Zunächst mit Graffiti,
schließlich mit Battlerap. Er erschuf
Prinz Porno, eine Kunstfigur, mit der er
seine Andersartigkeit musikalisch ka-
nalisieren konnte. Doch egal, wie viel
Respekt er sich als Prinz Porno erarbei-
te, er blieb dennoch für die meisten
Gettokids immer zugleich auch noch
der Friedrich vom humanistischen
GGGymnasium.ymnasium.
Irgendwann begriff er aber, dass er
diese Brüche, dieses Sich-zwischen-
den-Welten-Bewegen zu seinem Mar-
kenzeichen machen konnte. Der intel-
lektuell überlegene Studentenrapper,
der mittlerweile Grafikdesign an der
Kunsthochschule Weißensee studierte
und seinem Faible für Ästhetik frönt. Er
benennt sich in Prinz Pi um, erweitert
sein Themenspektrum, wird lyrisch
tiefgründiger, gesellschaftskritischer
und existenzieller. Während Prinz Por-
no auf Ausgrenzung trotzig nach Art der
Straße reagiert, beginnt Prinz Pi, seine
eigene Rolle zu hinterfragen, richtet
den Blick auf das Innere statt auf das
Äußere, verhandelt auch Themen wie
Depression, Ängste und Einsamkeit in
seiner Musik.
Die Sonne verschwindet hinter den
schweren Wolken. Es ist Mittagszeit,
und in einem sehr roten Ferrari bringt
uns Friedrich Kautz zurück in die Ge-
genwart. Kautz ist Autoliebhaber oder,
wie er sagt, ein Freund der schönen
Dinge, ein Ästhet. Marken sind ihm
egal, Formvollendung aber doch sehr
wichtig, das ist wohl etwas, worauf er
sich auch mit seinen beiden Kunstfigu-
ren einigen könnte.
Der Ferrari hält im Parkhaus des Ka-
DeWe, und der Spaziergang, der schon
zu einer kleinen Reise geworden ist, en-
det im sechsten Stock, in der Feinkost-
abteilung irgendwo zwischen „Lutter &
Wegner“ und „Austernbar“, in einer
kleinen Ecke von dem Lieblingsfischlo-
kal des Prinzen. Das Fischlokal ist sein
ganz persönlicher Beobachtungsposten.
„Und außerdem“, sagt der Prinz, „trifft
man hier immer irgendwen, den man
kennt.“ Anwälte. Akademiker. Clan-
chefs. Rapper. In der neuen Zeit, in der
wir leben, da existiert das ja alles neben-
einander, greift ineinander und ist kein
Widerspruch mehr. Und die zwei Alben
des Friedrich Kautz, die sind nicht nur
ganz große Kunst, sondern auch der
Soundtrack dieser neuen Zeit.

Der Wanderer auf


dem Drachenberg


Rapper Friedrich Kautz alias Prinz Pi alias Prinz Porno


bringt gleich zwei neue Alben. Ein Spaziergang mit ihm


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