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er kleine Raum, in dem Antonio
Rüdiger, 27, auf dem Vereinsgelän-
de des FC Chelsea südwestlich
von London zum Gespräch empfängt,
ist zufällig gewählt. An der Wand hängt
ein Foto aus dem Jahr 2012. Zu sehen
sind der damalige englische Premier -
minister David Cameron, Kanzlerin
Angela Merkel und US-Präsident Barack
Obama beim G-8-Gipfel, wie sie das
Champions-League- Finale zwischen Chel-
sea und dem FC Bayern München im Fern-
sehen ver folgen. Chelsea siegte im Elf -
meterschießen. Auf dem Foto an der
Wand reißt Cameron die Arme hoch,
Obama hat den Mund offen, Merkel
wirkt wie versteinert. Die Politik hat die
Nähe des Fußballs gesucht. Und oft wer-
den in ihm gesellschaftliche Konflikte
ausge tragen.
Rüdiger, Innenverteidiger und von Bun-
destrainer Joachim Löw als Stammkraft
bei der Europameisterschaft im Sommer
eingeplant, wurde bei einem Spiel in der
englischen Premier League kurz vor Weih-
nachten rassistisch beleidigt. Rassismus,
so scheint es, ist zu einem ständigen Be-
gleiter des Fußballs geworden.
SPIEGEL:Herr Rüdiger, was macht es mit
Ihnen, wenn Sie Meldungen über Rassis-
mus lesen?
Rüdiger:Sie schockieren mich. Es lässt
mich nicht los, denn ich kann nicht verste-
hen, dass es heute noch Rassismus gibt.
SPIEGEL:Sie selbst wurden beim Spiel Ih-
res FC Chelsea gegen Tottenham Hotspur
beleidigt. Was genau ist vorgefallen?
Rüdiger:Nach einer Stunde stand ich an
der Eckfahne. Plötzlich hörte ich Affen-
laute. Daraufhin habe ich eine Affengeste
gemacht, um dem Schiedsrichter zu signa-
lisieren, was da gerade passiert ist. Die
Premier League hat uns Spieler aufgefor-
dert, es anzuzeigen, wenn etwas Derarti-
ges vorfällt. Aber nach dem Spiel konnten
die Behörden und die Verantwortlichen
von Tottenham keine Beweise finden. Und
ich frage mich: Wie kann es sein, dass da
60 000 Fans im Stadion sind, und keiner
will etwas gehört haben? So stehe ich als
Lügner da. Ich habe das Gefühl, dass von
mir erwartet wird, den Mund zu halten.
Aber ich habe dazu eine Botschaft: Das
werde ich nicht tun.
SPIEGEL:Wie haben Sie sich gefühlt, als
Sie die Affenlaute hörten?
Rüdiger:Als wäre ich kein Mensch, als
wäre ich ein Tier. Ein Affe. Ich glaube, dass
sich niemand in diese Situation reinfühlen
kann, der das noch nie erlebt hat. Gegen
Tottenham habe ich mich unfassbar allein
gefühlt. Und es hat sich ja auch bewahr-
heitet: Ich bin allein geblieben.
SPIEGEL:Weil kein Täter ausfindig ge-
macht wurde?
Rüdiger:Ja, die netten Worte von vielen
Seiten taten gut. Aber am Ende hat es kei-
ne Konsequenzen gegeben. Es wird nur
geredet, doch ich glaube an Taten. Diese
Erfahrung hat mir bestätigt, was ich schon
lange denke: Beim Thema Rassismus sind
wir dunkelhäutigen Spieler allein.
SPIEGEL:Oft sprechen nur die Betroffenen
selbst über Rassismus. Vermissen Sie an-
dere, nicht betroffene Spieler, die sagen:
So geht es nicht weiter?
Rüdiger:Ich würde mir wünschen, dass
mehr Spieler ihre Stimme erheben. Es hat
nichts mit der Hautfarbe zu tun. Wir sind
doch alle Fußballer. Deshalb verstehe ich
nicht, warum da so wenig kommt. Und
hier geht es nicht allein um Rassismus, es
geht auch um Homophobie, Antisemitis-
mus. Nur wir Betroffenen reden.
SPIEGEL:Wie haben Ihre Mitspieler nach
dem Vorfall gegen Tottenham reagiert?
Rüdiger:Es kamen einige zu mir und woll-
te mich aufbauen, aber ich wollte in die-
sem Moment einfach nur allein sein. Dann
aber kam Harry Kane zu mir, Tottenhams
Kapitän, und hat sich mehrfach bei mir
entschuldigt. Ich sagte: »Du kannst doch
nichts dafür, du musst dich nicht entschul-
digen.« Aber er wollte es als Zeichen ver-
standen wissen, dass sein Klub so nicht
denkt. Das hat mir gutgetan.
SPIEGEL:Vor zwei Wochen haben Sie er-
neut gegen Tottenham gespielt, und es hat
Pfiffe gegen Sie gegeben.
Rüdiger:Ja, das habe ich auf dem Platz
mitbekommen. Das ist traurig. Ich weiß
nicht genau, warum die Zuschauer das ge-
tan haben. Aber falls es aufgrund meiner
Äußerungen im Dezember war, dann be-
stätigt das genau das, was ich Ihnen eben
erzählt habe. Ich nehme Stellung, die Täter
werden nicht ausfindig gemacht, und am
Ende bin ich der Leidtragende.
SPIEGEL:Sie haben in Deutschland, Italien
und England gespielt. Haben Sie Unter-
schiede wahrgenommen?
Rüdiger:In England ist der Rassismus im
Social-Media-Bereich besonders krass. Als
Tammy Abraham, unser Stürmer bei Chel-
sea, einen Elfmeter gegen Liverpool ver-
schossen hatte, wurde er von einer Gruppe
eigener Fans bei Twitter rassistisch beleidigt.
Oder Paul Pogba, den trifft es auch immer
wieder. In den sozialen Netzwerken können
Leute anonym sagen, was sie wirklich den-
ken. Da kommt dann der ganze Hass raus.
SPIEGEL:In der Bundesliga wurde am
Wochen ende bei Schmähungen gegen Hof-
100 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Sport
»Ich habe mich gefühlt,
als wäre ich ein Tier«
FußballNationalspieler Antonio Rüdiger über Affenlaute
und andere Beleidigungen im Stadion
ROBIN JONES / GETTY IMAGES
Chelsea-Profi Rüdiger: »Es muss etwas passieren, sonst wird es immer schlimmer«