Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Und immer wieder die medizinische
Versorgung: »Habe heute Morgen knapp
3 Stunden gebraucht, bis ich bei meinem
Hausarzt durchkam«, wird da geklagt.
Oder: »Versuche es seit ca einer Stunde,
über 150 mal angerufen.«
Arztpraxen schließen wegen Kontakt
mit Infizierten, die anderen sind überlas-
tet, die Nummer des ärztlichen Bereit-
schaftsdiensts, die 116 117, ebenso – das
sind die Sorgen, die auch die Berater am
Bürgertelefon in der Kreisverwaltung
registrieren. Ein zentrales Notfallzentrum
für Corona-Abstriche ist in der Turnhalle
der Gesamtschule in Gangelt eingerichtet
worden, eine zweite Diagnosepraxis öff-
nete in Erkelenz, aber die Verwirrung
über die Abläufe bei Patienten und oft
auch bei Ärzten ist groß.
Pusch fordert Hilfe von der Kassenärzt-
lichen Vereinigung und verkündet, er kön-
ne sich nicht streng an die Regeln des Ro-
bert Koch Instituts halten, könne nicht je-
den Arzt aus dem Verkehr ziehen lassen,
der Kontakt mit Infizierten hatte. Er brau-
che die Ärzte. Wer keine Symptome habe,
so finde er, solle weiterarbeiten.
Ist das klug? Ist es notwendig?
Man spricht mit der Frau eines Allge-
meinmediziners, sie ist selbst vom Fach
und sorgt sich um ihren Mann. Und um
die Kinder.
Um den Mann, weil seine Praxis noch
geöffnet ist und er nicht unendlich viele
Vertretungen übernehmen kann. Und weil
die Schutzkleidung fehlt. Also kann der
Mann sich nicht schützen und damit auch
die Kinder nicht.
Die Schutzkleidung – nach Hilferufen
ans Land wird etwas Material geliefert.
Dass es so weit kommen konnte, dass an
Dringendem gespart wurde, zeigt die Co-
rona-Krise, Pusch sieht sie inzwischen als
»Resilienztest«. Er fragt: »Wie krisenfest
ist dieses Land?«
Wie krisenfest ist sein Kreis?
In Video Nummer acht ist Pusch zu ver-
nehmen mit einer Idee, die dem bisherigen
Krisenmanagement widerspricht: Wer mit
einer infizierten Person in Kontakt war,
solle sich beobachten, ob er Krankheits-
symptome habe. Und ansonsten ganz nor-
mal seinem Alltag nachgehen. Es gehe
wohl nicht anders. Sonst, meint er, »müss-
te ich den ganzen Kreis in Quarantäne schi-
cken«. Pusch beruft sich auf seinen Prag-
matismus und eine »dynamische Lage«.
Da müsse er jetzt durch.
Es ist ein Glück sicherlich, dass der Er-
reger nicht Ebola oder das frühere Sars-
Virus ist. Dass er sich, bisher jedenfalls,
einigermaßen milde zeigt. Wie bei einer
Generalprobe für dieses Land, bei der man
hofft, dass das Stück selbst nicht so schnell
auf dem Spielplan steht.
Maik Großekathöfer, Barbara Supp

erreicht: Was ist schlimmer, das Virus oder
die Angst davor?
Sind die Vorschriften zu lax, gefährdet
der Landrat Leben und Gesundheit. Sind
sie zu strikt, liegen das öffentliche Leben
und die Wirtschaft lahm.
Pusch ließ die Schulen und Kinder -
gärten bis einschließlich der ersten März-
woche schließen, will aber nicht alle und
jeden testen lassen.
Pusch und sein Krisenstab hielten es bei-
spielsweise nicht für notwendig, jeden
überprüfen lassen, der auf der fraglichen
Karnevalssitzung in Gangelt war, Pusch
fand, dass es ausreiche, wenn er sagt:
Bleibt 14 Tage zu Hause.
Was nicht jeder versteht.
Eine Frau, die dort mitgefeiert hat und
auf ihr Testergebnis wartet, zu Hause, ringt
darum, die Vorgänge zu begreifen. Sie ist
erreichbar übers Telefon. Sie habe sich
beim Gesundheitsamt gemeldet, erzählt
sie, dort habe man sie an den Hausarzt ver-
wiesen, der wiederum meinte, sie solle sich
ans Gesundheitsamt wenden. Vom Amt
habe sie danach nichts gehört. Sie habe
über Tage gewartet und dann doch be-
schlossen, über ihre Hausärztin einen Test
machen zu lassen. Sie verstehe nicht, wa-
rum nicht alle gut 300 Menschen, die auf
der Feier waren, getestet worden seien. Ihr
Mann arbeitet im Home Office, bei ihrem
Beruf gehe das nicht. Sie habe neulich das
Bad geputzt, und dann habe ihr Mann hel-
fen wollen beim Putzen, und sie habe et-
was Merkwürdiges gesagt: »Bitte lass es.
Damit ich morgen noch was zu tun habe.«
Die soziale Überwachung, doch, die
existiere schon. Sie traue sich kaum zum
Briefkasten, aus Angst, dass die Leute re-
den. Dass sie ihr vorwerfen, unverantwort-
lich zu handeln. Neulich habe einer mit
den Fingern das Kreuzzeichen gemacht,
als er sie am Fenster stehen sah.


Das Kreuzzeichen: Bleib weg, du Aus-
sätzige. So kann man das verstehen. So
muss man es wohl verstehen. Das sind die
dunklen menschlichen Seiten, die die Krise
hervorrufen kann.
Der Mensch kann aber auch anders.
Marion Böhm kommt aus Gangelt, hat
zwei Hunde, einen Teilzeitjob, eine Face-
book-Gruppe, die sie administriert, und
ein fürsorgliches Wesen. Als sie von der
Quarantäne hörte – zeitweise waren es
etwa tausend Menschen im Kreis Heins-
berg – dachte sie: Was brauchen die? Je-
manden, der einkauft. Jemanden, der den
Hund ausführt.
Das Angebot von ihr und ein paar an-
deren lief über die Gruppe »Du bist Gan-
gelter wenn ...«, und die hat sich gewaltig
verändert, seit das Virus nicht mehr nur
in China oder Italien, sondern auch in
Heinsberg sein Unwesen treibt.
Früher war die Gruppe für Themen da
wie: Kennt jemand einen guten Glaser?
Müll liegt im Wald, ein Schaf hat sich im
Zaun verfangen, ein Hochlandrind hat ein
hübsches Kalb geboren.
Jetzt geht es darum, dass der Landrat
die Schulen und Kindergärten wieder
öffnen will und jemand schreibt: »Ich per-
sönlich finde es zu gefährlich.« Eine an-
dere Mutter stimmt zu: »Meine Kinder
bleiben zu Hause! Ich werde sie unter -
richten, bis alles eingedämmt ist, ich gehe
das Risiko nicht ein, meine Kinder zu
gefährden. Ich lasse sie krankschreiben
und gut ist.«

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SASCHA STEINBACH / EPA-EFE / REX
Regal in Supermarkt bei Heinsberg: Was ist schlimmer, das Virus oder die Angst davor?

Arztpraxen schließen
wegen Kontakt mit
Infizierten, die anderen
sind überlastet.
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