Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

A


m Dienstagmorgen lässt sich das Co-
ronavirus-Problem von Köln noch
auf einer halben DIN-A4-Seite zu-
sammenfassen. So lang ist um zehn Uhr
die Excel-Tabelle, in der Infor-
mationen zu den sechs Corona-
virus-Infizierten der Stadt auf-
gelistet sind: Name, Symptome,
Erkrankungsbeginn und, ganz
wichtig, die Anzahl der engen
Kontaktpersonen.
Johannes Nießen, 62, seit ver-
gangenem Sommer Leiter des
Kölner Gesundheitsamts, hat in
den Achtzigerjahren im Bonner
Gesundheitsamt angefangen.
Damals galt es, die Aids-Epide-
mie einzudämmen. Nießen lern-
te, mit ratlosen Poli tikern um-
zugehen, mit verängstigten Bür-
gern, verzweifelten Infizierten
und überforderten Ärzten.
Danach war er 24 Jahre lang
in Hamburg tätig, im Regal
hinter seinem Kölner Schreib-
tisch liegt eine Schiffermütze. In
Hamburg hat er Sars und Ebo-
la, die Schweinegrippe und den
Ehec-Ausbruch 2011 bewältigt,
dem 53 Menschen in Deutsch-
land zum Opfer fielen. In seinem
Zuständigkeitsbereich starb da-
mals ein Kind, das hat er bis heu-
te nicht vergessen.
Zwar verläuft Covid-19 bei
vier von fünf Patienten milde.
Doch die Tödlichkeit des neu -
artigen Coronavirus ist nach al-
lem, was man bislang weiß, min-
destens doppelt so hoch wie bei
der saisonalen Grippe.
Nießen weiß, was jetzt von ihm und sei-
nen rund 300 Mitarbeitern erwartet wird:
Das neue Virus soll nicht – oder jedenfalls
nicht so schnell – vom nur 60 Kilometer
entfernten Kreis Heinsberg auf die Mil -
lionenstadt übergreifen.
Dazu müssen sie hier im Gesundheits-
amt irgendwie den Überblick behalten.
Damit nicht plötzlich wie in Italien und
Iran von einem Tag auf den anderen
klar wird, dass das Virus schon längst
überall ist.


Die Mitarbeiter des Amts telefonieren
nahezu ununterbrochen. »Das Wichtigste
ist, die Nerven zu behalten«, sagt Nießen.
In seinem Büroschrank steckt eine Matrat-
ze. Falls es ernst wird und er hier über-
nachten muss.
Um 13 Uhr treffen sich die elf Mitarbei-
ter der Abteilung für Infektions- und Um-
welthygiene zu ihrer zweiten Konferenz
des Tages. Sie sind dafür zuständig, die
Kölner Infizierten und deren enge Kon-
taktpersonen zwei Wochen lang zu Hause
zu isolieren. Zu diesem Zeitpunkt sind es
nur etwa 80 Menschen, doch die Abtei-
lung stößt schon an ihre Grenzen. Denn
häusliche Quarantäne heißt: Ordnungsver-
fügung zustellen, Tagebuch über Sympto-
me schreiben lassen, einmal pro Tag per

Telefon nachfragen. Und ständig ungeahn-
te Probleme lösen.
Eine Frau, die isoliert werden muss, sei
wohnungslos, sie übernachte bei einem
Bekannten in dessen winziger Wohnung
auf der Couch. Sie benötige dringend ein
eigenes Zimmer. Doch wo soll das herkom-
men? Nießen verspricht, unverzüglich den
Leiter des Wohnungsamts anzurufen.
Ein Infizierter war beim Zahnarzt, als
er schon ansteckend war. Muss die Praxis
jetzt geschlossen werden?

Andere schicken bereits Rechnungen,
weil sie einen Verdienstausfall erlitten hät-
ten. Wer soll das bezahlen?
Ein Krankenhaus, berichtet zum Schluss
der Sitzung eine Mitarbeiterin, habe sich
beschwert: Hausärzte in der Gegend näh-
men keine Abstriche für den Coronavirus-
Test vor, sondern schickten die Patienten
in die Klinikambulanz. Nießen seufzt.
Dass viele niedergelassene Ärzte keine
Schutzkleidung haben, oft nicht einmal
Mundschutz, und deshalb keinen Rachen-
abstrich vornehmen wollen, ist eines der
vordringlichen Probleme, mit denen er
zu kämpfen hat.
In der Stadt wurde ein Infektionsschutz-
zentrum eingerichtet, in einem leer stehen-
den Gebäude auf dem Gelände der Uni-
klinik. Dort sollen Ärzte ihre
Patienten hinschicken, wenn
sie selbst keine Abstriche ma-
chen können. Doch das reiche
nicht aus. »Die Niedergelasse-
nen müssen testen, sie haben
schließlich einen Versorgungs-
auftrag«, sagt Nießen.
Gemeinsam mit Jürgen Za-
strow, Hals-Nasen-Ohrenarzt
und Vertreter der Kreisstelle
der Kassenärztlichen Vereini-
gung Köln, hatte Nießen eine
Infoveranstaltung für die rund
2500 niedergelassenen Ärzte
Kölns geplant. Doch am Diens-
tagnachmittag wird sie abge-
sagt. Zu groß ist die Gefahr,
dass ein Teilnehmer sich als in-
fiziert herausstellt und dann
Hunderte Kölner Ärzte für
zwei Wochen in Quarantäne
müssen.
Weil so viele Infektionen
mild verlaufen, ist eine ausrei-
chende Zahl von Tests ent-
scheidend, um das Virus erfolg-
reich zu bekämpfen. Nießen
würde gern stichprobenartig
auch Erkältungspatienten un-
tersuchen lassen. So könnte
er vielleicht wichtige Hinwei -
se gewinnen, wie weit sich
Co vid-19 schon verbreitet hat.
Doch es gibt zu wenige Ärzte,
die testen wollen. Und die Co-
ronavirus-Kits reichen, wenn
nicht nachgeliefert wird, nur noch für
zwei Wochen.
Nießen wünscht sich mehr Unterstüt-
zung. Am Dienstag sitzt er erschöpft in
seinem Büro und sagt: »Der Tag hat sich
anders entwickelt, als ich gedacht habe.«
In der Nacht von Dienstag auf Mitt-
woch verdoppelt sich die Zahl der bestä-
tigten Coronavirus-Fälle in Köln, auf 12.
Am Donnerstagabend sind es 15.
Veronika Hackenbroch

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 107


Wissen

»Nerven


behalten«


MedizinWie das Kölner
Gesundheitsamt versucht,
die Millionenstadt vor
dem Coronavirus zu schützen.

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
Behördenleiter Nießen
In seinem Büroschrank steckt eine Matratze
Free download pdf