Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Lipsitch, 50, hat intensiv zum Verlauf von
Epidemien geforscht. So studierte der
Harvard-Wissenschaftler die verheerende
Grippe pandemie der Jahre 1918 bis 1920
und das Ansteckungsrisiko des Sars-Virus.
Den Covid-19-Erreger hält er für deutlich
folgenschwerer.

SPIEGEL:Herr Lipsitch, Sie sagen voraus,
dass sich bis zu 60 Prozent aller Erwach-
senen mit dem neuartigen Coronavirus
anstecken könnten. Ist das nicht Alar -
mismus?
Lipsitch:Keineswegs. Natürlich ist es eine
Prognose; und ich kann damit falschliegen.
Aber im Moment gehen wir davon aus,
dass jeder Infizierte im Durchschnitt zwei
weitere Menschen ansteckt. Und daraus
folgt, dass sich mindestens die Hälfte der
erwachsenen Weltbevölkerung infizieren
wird, bevor die Verbreitung des Corona-
virus dauerhaft stoppt. Das ist keine aus
der Luft gegriffene Schätzung, das ist
simple Mathematik.
SPIEGEL:Als im Jahr 2003 die Lungen-
krankheit Sars ausbrach, warnte die Welt-
gesundheitsorganisation ebenfalls vor
einer globalen Epidemie. Doch die Zahl
der Infizierten war am Ende deutlich ge-
ringer als beim Coronavirus.
Lipsitch:Ja, das ist korrekt. Aber das Ri-
siko war durchaus vorhanden. Bei Sars
stellte sich jedoch heraus, dass fast aus-
schließlich Patienten mit Symptomen an-
steckend sind. Das machte es einfacher,
die Ausbreitung der Viren einzudämmen.
Beim Covid-19-Erreger scheint die Lage
anders zu sein. Und wir Epidemiologen
müssen aufzeigen, was im schlimmsten
Fall passiert; das ist unser Job. Nur so kön-
nen wir ableiten, wie wir auf einen Aus-
bruch reagieren sollten.
SPIEGEL:Wenn es wirklich so kommt, wie
Sie vermuten: Wie viele Menschen könn-
ten am Coronavirus sterben?

Lipsitch:Ich möchte mich nicht festlegen,
dazu ist es zu früh. Wir kennen zwar die
Zahl der bisherigen Todesfälle sehr genau,
aber wir wissen nicht, wie viele Menschen
tatsächlich infiziert sind. Sie müssen sich
das wie einen Eisberg vorstellen: An der
Spitze befinden sich die wirklich schweren
Fälle und im nicht sichtbaren Teil, dem
Kiel, die Infizierten, die keinerlei Sympto-
me zeigen. Wie groß dieser Kiel genau ist –
und damit die tatsächliche Sterberate –,
das wissen wir mit Sicherheit wohl erst am
Ende des Ausbruchs.
SPIEGEL:Können wir das Virus überhaupt
noch aufhalten?
Lipsitch:Ich glaube, dafür ist es zu spät.
Wir sehen in den USA, aber auch in
Deutschland Fälle, bei denen wir die In-
fektionskette nicht mehr nachvollziehen
können. Das Virus hat sich also schon lokal
ausgebreitet. Es scheint so zu sein, dass
die Seuche in manchen Gebieten außer
Kontrolle geraten ist.
SPIEGEL:Muss man trotzdem alle Kontak-
te von Infizierten ermitteln und die Men-
schen unter häusliche Quarantäne stellen?
Lipsitch:Ja, in Verbindung mit anderen
Maßnahmen ist das sinnvoll. Selbst wenn
wir nicht alle Betroffenen aufspüren, kön-
nen wir so die Zahl der Ansteckungen
deutlich verringern. China hat das vorge-
macht und war damit sehr erfolgreich. Auf
lange Sicht werden sich möglicherweise

ähnlich viele Menschen infizieren wie
ohne diese Eindämmung, aber so verlang-
samen wir die Ausbreitung entscheidend.
SPIEGEL:Warum ist das so wichtig?
Lipsitch:Erstens haben Krankenhäuser
und Ärzte in allen Ländern eine begrenzte
Kapazität, und diese sollten wir nicht
sprengen. Und zweitens lernen wir mit je-
der Woche besser, welche Therapien bei
Covid-19 anschlagen, und finden mög licher -
weise wirksame Medikamente. Wenn Sie
die Wahl haben, dann erkranken Sie lieber
in sechs Monaten als heute.
SPIEGEL:Japan hat landesweit Schulen ge-
schlossen, Italien zusätzlich die Universi-
täten. Eine sinnvolle Maßnahme?
Lipsitch:Schwer zu sagen. Wir hatten es
noch nie mit einer Epidemie zu tun, bei
der die Rolle von Kindern so ungewiss war.
Infizierte Kinder zeigen kaum Symptome;
nur wissen wir nicht, ob sie trotzdem an-
steckend sind. Schulen landesweit vorsorg-
lich zu schließen halte ich daher für über-
trieben. Aber in Gebieten, in denen sich
die Krankheit unkontrolliert verbreitet, ist
das absolut angebracht.
SPIEGEL: Sie haben intensiv zur be -
rüchtigten Grippepandemie ab 1918 ge-
forscht, an der allein in den USA mehr als
650 000 Menschen starben. Was lernen
wir daraus für heute?
Lipsitch:Die amerikanischen Städte haben
damals sehr unterschiedlich reagiert. Phi-
ladelphia etwa hat erst gut zwei Wochen
nach dem ersten Grippefall Schulen ge-
schlossen und öffentliche Veranstaltungen
abgesagt, Saint Louis dagegen schon nach
zwei Tagen. Zum Höhepunkt der Epidemie
war die Sterblichkeit dann in Saint Louis
nur etwa ein Achtel so hoch wie in Phila-
delphia. Die Studie hat gezeigt, dass sich
der Verlauf deutlich bremsen und insge-
samt abschwächen ließ, wenn die Städte
früh und aggressiv eine »soziale Distanzie-
rung« eingeführt haben.
SPIEGEL:Wie lange muss man solche dras-
tischen Maßnahmen aufrechterhalten?
Lipsitch:Eine Lehre aus den Jahren 1918
bis 1920 ist, dass die Fallzahlen rasch
wieder steigen, wenn wir Maßnahmen
lockern. Dann kann eine Epidemie auf
einen zweiten Höhepunkt zusteuern. Das
Virus ist ja immer noch da. Andererseits
können wir das öffentliche Leben nicht un-
begrenzt anhalten. Da müssen wir einen
Mittelweg finden.
SPIEGEL:Werden wir auf lange Zeit mit
dem Coronavirus leben müssen?
Lipsitch:Ja, es ist wahrscheinlich, dass
das Virus bleibt. Aber es gibt Hoffnung:
Es könnte in ein oder zwei Jahren für län-
gere Zeit keine großen Ansteckungswellen
mehr geben. Denn bis dahin hat es sich
vielleicht so weit ausgebreitet, dass die
meisten Menschen immun geworden sind.
Interview: Martin Schlak

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020

Wissen

»Es ist zu spät«


SeuchenDer Epidemiologe Marc Lipsitch erklärt, warum das
neue Coronavirus so gefährlich ist – und warum man
dessen Ausbreitung mit drastischen Maßnahmen bremsen muss.

MARTIN SCHLAK / DER SPIEGEL


108

Zahl der
Neuinfektionen ohne Maßnahmen

mit nicht-
pharmazeutischen
Maßnahmen

Höhepunkt der Epidemie
abgeschwächt

Zeit seit Ausbruch der Seuche

Quellen: ECDC; EID

Endlicher Schrecken
Typischer Ablauf einer Epidemie
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