110 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Wissen
D
ie Laute, für die sich Markus Wöhr
interessiert, sind nicht für seine Oh-
ren bestimmt. Nur mit speziellen
Mikrofonen kann der Verhaltensneurowis-
senschaftler jene Rufe hörbar machen, die
Ratten und Mäuse in seinen Labors an der
Syddansk Universitet im dänischen Oden-
se von sich geben.
Ein Großteil der Nagersprache spielt
sich im Ultraschallbereich ab; die Frequen-
zen liegen teilweise weit über dem, was
das menschliche Gehör wahrnehmen
kann. Belauschte man mit Wöhrs Mikro-
fonen einen Trupp der nachtaktiven Tiere,
wäre ein wildes Durcheinander von quiet-
schigen Lauten zu vernehmen. Ratten ha-
ben einander offenbar viel zu sagen.
Nur was? Schon länger ist bekannt, dass
Ratten- und Mäusebabys in einem be-
stimmten Frequenzbereich nach ihrer Mut-
ter rufen – woraufhin diese den fiepsenden
Nachwuchs ins Nest schleppt. Schmerz
oder Angst drücken die Tiere mit tiefen
Tönen aus. Angenehme Empfindungen
hingegen bedeuten vergleichsweise hoch-
frequente Laute – diese Entdeckung brach-
te Forscher dazu, Ratten zu kitzeln und
ihr Ultraschallgekicher aufzuzeichnen.
Um solche Lacher zu erzeugen, hat Psy-
chologe Wöhr schon für Wissenschafts -
sendungen im Fernsehen Ratten gekitzelt
(»Am besten geht das bei Tieren im Alter
von drei bis sechs Wochen«). Doch vor
allem sind es ernsthafte Fragen, die er
mit der Analyse der sogenannten Ultra-
schallvokalisationen (USV) zu beantwor-
ten hofft.
Psychische Leiden beim Menschen – da-
runter Autismus, Schizophrenie und De-
pressionen – haben auch genetische Ursa-
chen. Genveränderte Mäuse und Ratten
sollen als Modellorganismen dienen, um
diese Krankheiten zu ergründen. Dazu ist
es aber notwendig, das Seelenleben der
Nager richtig zu deuten. Und speziell die
Vielfalt der Nagerlaute, glauben die For-
scher, sagt viel über die Emotionen der
Tiere aus.
Lange ließ sich das Befinden von Mäu-
sen und Ratten nur anhand von Beobach-
tungen und Verhaltenstests beurteilen.
»Aussagen darüber zu treffen, wie es ei-
nem Tier wirklich geht, ist sehr schwie-
rig«, sagt Wöhr. Die Lautäußerungen
hingegen spiegelten den emotionalen
Zustand unverfälscht wider – und seien
dank neuer Technologien jetzt viel besser
zu verstehen.
Wöhr hat ein bestimmtes Gen im Vi -
sier, das bei verschiedenen psychischen
Leiden verändert ist. Die Verhaltens -
forscherin Elodie Ey vom Pariser Institut
Pasteur wiederum erforscht mit ihrem
Team eine Gruppe anderer Gene, die
bei der Entstehung von Autismus eine
Rolle spielen.
Doch wie lässt sich erkennen, ob gen-
veränderte Versuchstiere tatsächlich Symp-
tome entwickeln, die hochkomplexen Stö-
rungen wie Autismus und Schizophrenie
beim Menschen ähneln? Und gar enträt-
seln, ob sich die Entstehung der Krankheit
verhindern ließe und welche Medikamen-
te helfen könnten? Kurzum: Wie stellt man
fest, was ein Tiermodell taugt?
USV-Analysen haben bereits erste Ant-
worten geliefert. So fand Wöhr heraus,
dass Ratten, die eine veränderte Kopie des
mit psychischen Störungen verknüpften
Gens tragen, als Jungtiere zwar mit Art-
genossen spielen, dabei aber weniger en-
thusiastisch fiepsen. Auch wenn ihnen mit
Wohlbefinden verbundene Laute anderer
Ratten vorgespielt werden, reagieren sie
nicht so interessiert wie Artgenossen mit
unverändertem Erbgut.
Weniger Spaß am Spiel, kaum Interesse
an Artgenossen – solche Verhaltensweisen
zeigen auch Menschen mit Depressionen
oder Autismus.
Gegenwärtig testet Wöhr, welchen Ein-
fluss eine angenehme Umgebung auf die
Gemütslage der genveränderten Ratten
hat. Womöglich kann eine erfüllte Kind-
heit – für Ratten bedeutet das Aufwachsen
in einem großen Käfig mit Artgenossen,
Spielzeug und kognitiven Herausforderun-
gen – die Ausprägung der genetisch pro-
grammierten Leiden mildern.
Auch Verhaltensforscherin Ey hat beob-
achtet, dass genmanipulierte Mäuse an-
ders mit Artgenossen kommunizieren als
Tiere, bei denen das Erbgut unangetastet
bleibt. »Ihre Rufe sind unstrukturierter,
kürzer, und sie liegen in tieferen Frequenz-
bereichen«, sagt sie.
Um nach Abweichungen von der Norm
zu fahnden, machen die Pariser Forscher
Langzeitaufnahmen, bei denen sich Ver-
halten und die zugehörigen Laute gemein-
sam analysieren lassen. Die spontanen
Lautäußerungen männlicher Mäuse, so
zeigt sich, unterscheiden sich von denen
der weiblichen; und die Mäusekommuni-
kation verändert sich, je älter die Tiere
werden.
»Dass wir diesen Tieren jetzt auch zu-
hören können, eröffnet eine neue Ebene«,
sagt Wöhr. »Der Bereich wächst enorm«,
bestätigt Elodie Ey. »Wir werden bald bes-
ser verstehen, welche Schlüsse wir aus den
Tiermodellen für den Menschen ziehen
können und welche nicht.« Ende März
wird Wöhr auf einem Kongress im hes -
sischen Marburg über seine neuesten Ex-
perimente berichten.
Es gibt noch viel, was Menschen über
die Sprache der Ratten und Mäuse lernen
müssen. Damit das schneller geht, hat Eys
Kollege Nicolas Torquet eine Plattform
entwickelt, auf der USV-Experten welt-
weit Tonaufnahmen austauschen und ver-
gleichen können. Die Datenbank werde
gut genutzt, sagt der Wissenschaftler, »sie
wächst Monat für Monat«. Sie heißt, ana-
log zu einem ziemlich populären Video-
portal, MouseTube. Julia Koch
Das Lachen
der Ratten
TiereVerhaltensforscher
entschlüsseln die Kommunikation
von Nagern. Die Erkenntnisse
sollen helfen, psychische Leiden
bei Menschen zu ergründen.
JAKOB VÖRCKEL
Laborratte bei Verhaltenstest: Die Tiere haben einander viel zu sagen