Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
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Ausstellungen
Plastiktüten als
schöne Kunst

 Sie sind billig, grell, prak-
tisch, auch eine Plage für Land-
schaft und Meere – und somit
ambivalente Zeugnisse unserer
Kulturgeschichte. Kaum droht
durch die Sorge um eine nach-
haltige Lebensweise, in der
Verbraucher zu Beutel oder
Korb greifen, sich ihrer ganz
zu entledigen, retten sich die
Plastiktüten in die Ausstellung.
Die Berliner Kunstbibliothek

widmet der Plastiktasche eine
eigene Schau. In »Tüte? Na,
Logo! Plastiktragetaschen der
1960er- bis 1980er-Jahre«
kann man sie alle bewundern,
die blaue Horten-Tüte, die
1961 von dem Kaufhaus zum
ersten Mal in Deutschland aus-
gegeben wurde, das orange-
braun-gelbe Tchibo-Exemplar,
die rot-gelbe Rewe-Tüte und
den Klassiker von Aldi, den
Günter Fruhtrunk einst gestal-
tete, und den Lars Eidinger
kürzlich in einer Lederausfüh-
rung gentrifizierte. Wie die
grafischen Muster der Tüten

und die Logos der Unterneh-
men entstanden, kann man
sich auch gleich ansehen: In
der parallel stattfindenden
Ausstellung »Marken:Zeichen«
werden die Arbeiten der bei-
den Grafikdesigner Anton
Stankowski und Karl Duschek
gezeigt. Die beiden waren für
viele bekannte Firmenemble-
me verantwortlich, darunter
jenes der Deutschen Bank.
Was ist bei der Gestaltung
eines Logos wichtig? »Geo -
metrie«, lautete Duscheks
Antwort. »Quadrat, Dreieck,
Punkt oder Kreis.« EVH

Performance
Wie es in Syrien
begann

 Immersive Performance,
das bedeutet: Das Publikum
soll die Theatersessel ver -
lassen, sich als Teil des Ge -
schehens fühlen und den
Abend mitgestalten. Das
glückt aber nicht immer, The-
ma, Inszenierung und Schau-
platz müssen schon beson-
ders gut passen. Ein solcher
Fall ist die immersive Per -
formance »Revolutionary
Souq«, die vom 12. bis 15.
März im Kulturzentrum auf
Kampnagel in Hamburg statt-
finden wird. Es geht darin um
den Anfang des Konflikts in
Syrien, der sich schnell zum
Krieg ausweitete und seither
Leid und geopolitisches
Chaos verursacht. Es ist eine
Katastrophe, die so komplex
ist, dass es kaum mehr mög-
lich scheint, sie zu entwirren.
Umso schlüssiger, sich dem

Anfang zu widmen. Was
zum Krieg werden sollte,
begann, so die Performance,
am 15. März 2011 mit einer
friedlichen Demonstration
auf dem Suk al-Hamidija,
dem bekanntesten Basar in
Damaskus. Der Protest auf
dem Suk wurde niederge-
schlagen, der Markt fortan
kontrolliert, der tägliche
Betrieb unter Beobachtung
gestellt.
Als Besucher in Hamburg
kann man nun für vier Tage
in den Basar eintauchen.
Neben den Marktständen
erzählen syrische Exilkünst-
ler ihre Geschichten, in Thea-
teraufführungen, Konzerten
und Filmvorführungen. Einer
der Kuratoren, Anas Aboura,
gehörte 2011 selbst zu den
ersten Protestierenden auf
dem Suk al-Hamidija, seit
2015 ist er in Hamburg. Sel-
ten hat die Form der immer -
siven Performance so viel
Sinn ergeben. Kunst als Be -
gegnung, ganz wörtlich. XVC

Kulturgeschichte


Benebelt


von Chanel No. 5


 Wahre Größe verlangt nach
Legenden – das gilt auch für
große Düfte. Über die Entste-
hung des wohl berühmtesten
Parfüms der Welt, Chanel
No. 5, sind viele Legenden
und Geschichten in Umlauf.
Inzwischen besteht kein Zwei-
fel mehr, dass Chanel No. 5
aus einem russischen Parfüm
entwickelt wurde, dem Bou-
quet de Catherine aus dem
Hause Rallet von 1913.
In seinem neuen Buch über
den »Duft der Imperien«
erzählt auch der Osteuropa-
historiker Karl Schlögel diese
schöne Geschichte. Er erzählt
sie sogar noch schöner.
Schlögel meint, in der Welt
des Bolschewismus eine Nähe
zum erfolgreichsten Duft des
Kapitalismus entdeckt zu
haben. Das populärste Riech-
wasser der Sowjetzeit, das
heute noch hergestellte Par-
füm Rotes Moskau, sei eng
mit Chanel No. 5 verwandt,


behauptet er. »Auf den Basa-
ren russischer Städte« und in
den »Boutiquen und Parfüme-
rien in der Rue Saint-Honoré«
in Paris habe er herausge -
funden, »dass beide auf eine
gemeinsame ursprüngliche
Komposition zurückgehen,
komponiert von franzö -
sischen Parfümeuren im
Zarenreich«.
Belegt ist zwar, dass der
französisch-russische Parfü-
meur Auguste Michel Mitte
der Zwanzigerjahre das Rote
Moskau gemixt hat. Vor der
Oktoberrevolution hatte
Michel für das in der Duft -
herstellung bedeutende Haus
Brocard gearbeitet – den
größten Konkurrenten des
Hauses Rallet. Offen bleibt in
dem Buch, wie beides mit -
einander verbunden sein soll.
Ein führender Kenner der
Frühgeschichte von Chanel
No. 5 ist Philip Kraft, Chemi-
ker beim Schweizer Konzern
Givaudan, dem weltweit größ-
ten Hersteller von Düften
und Aromen. Kraft teilt auf
Anfrage mit, er wisse nichts
über einen gemeinsamen
Ursprung von Chanel No. 5
und Rotes Moskau. Die je -
weiligen Vorläuferdüfte
hätten »geruchlich und kom-
positorisch nichts gemein« –
das eine »aldehydig im Top«,
wie dann auch Chanel No. 5,
das andere hingegen mit
»Orangenblüte im Top«. Kraft
hält es für »eine Verwechs-
lung, die Herrn Professor
Schlögel da leider unterlaufen
ist«. DIP

BENOIT TESSIER / REUTERS

SHEROUK ELSHESHAI
Aboura

DIETMAR KATZ / KUNSTBIBLIOTHEK / SMB
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Sechzigerjahren
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