Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

zu Besitz und Eigentum. Frei nach Rilke
kann man sagen: Wer jetzt kein Haus erbt,
der kauft sich keines mehr.
Und das ist keine ganz neue Entwick-
lung. Seit fast vier Jahrzehnten dominiert
eine Erzählung unser wirtschaftliches Le-
ben: Wer tüchtig unternimmt, gründet und
sein Kapital frei bewegen kann, schafft
Reichtum. Und von dem haben über kurz
oder lang alle etwas, wenn der Staat nur
die Finger davon lässt. In dieser Zeit gab
es Wachstum, unfassbare technologische
Entwicklungen, die Armut sank, und vie-
les verbesserte sich – aber die Ungleich-
heit, die nahm eben auch zu.
Einigermaßen schüchtern schraubten
linksliberale Politiker und gemäßigte Wis-
senschaftler an diesen Effekten herum,
aber seit dem wohlverdienten Fall der


Mauer traut sich niemand, die ganze Sache
fundamental zu kritisieren oder gar, etwas
Neues zu denken und vorzuschlagen, je-
denfalls niemand außerhalb linker Polit-
sekten, die noch Lenin, Mao oder Hugo
Chávez verehren.
Nach solch einem Milieu sieht es nicht
aus, wenn man die Gänge der Paris School
of Economics entlangspaziert. Keine Pos-
ter, keine Graffiti, bloß die üblichen Aus-
hänge, die Entspannungskurse für gestress-
te Büroangestellte anpreisen. Der Bau im


  1. Arrondissement ist erst wenige Jahre
    alt und wurde wohl auch errichtet, um sei-
    nem prominentesten Beschäftigten ein an-
    gemessenes Umfeld zu bieten. In einem
    der oberen Stockwerke ist das Dienstzim-
    mer von Thomas Piketty.
    Kein Vorzimmer, keine Titel am Na-
    mensschild neben der Tür – dass der Öko-
    nomieprofessor auch ein Weltstar ist, be-
    weist er durch radikales Understatement.
    Auf die Minute unserer Verabredung be-
    endet er ein Interview via Skype, die An-
    fragen kommen permanent und aus der
    ganzen Welt. Die politische Konjunktur
    von Umverteilungspolitikern wie Bernie
    Sanders und Elizabeth Warren passt per-
    fekt zu seinem anhaltenden Erfolg. Er ist
    in den Tagen zuvor durch London getourt,
    um mit seinen Ansichten die City zu gru-
    seln, nun hat ihm auch der »New Yorker«
    ein Porträt gewidmet, und auf Amazon
    Prime Video läuft derzeit eine dokumen-
    tarische Fassung seines Welterfolgs »Das
    Kapital im 21. Jahrhundert«.
    Dieses Buch hat sich weltweit mehr als
    zwei Millionen Mal verkauft. Darin ver-
    tritt er die These, dass der Ertrag aus Ka-
    pital, als r bezeichnet, regelmäßig größer
    ist als das allgemeine Wachstum, als g be-
    zeichnet, und er fasste das in die Formel
    r > g. Übersetzt hieß das: Wenn der Staat –
    oder die Geschichte – nicht für einen Aus-
    gleich sorgt, werden die Reichen einfach
    immer reicher. Sein neues Buch »Kapital
    und Ideologie« erscheint in der kommen-
    den Woche auf Deutsch, begleitet von ei-
    ner Lesereise und zahlreichen öffentlichen
    Auftritten. Es ist mit über 1300 Seiten ein
    Buch im Sumoformat. In ihm geht es aber
    nicht in erster Linie um Zahlen oder For-
    meln, sondern um Geschichten.
    Man erfährt hier etwas über die Ent-
    wicklung des indischen Kastenwesens und
    die Probleme des russischen Zarenreichs.
    Es ist zudem eine Analyse der politischen
    Entwicklung der wichtigsten westlichen
    Staaten in den vergangenen Jahrzehnten
    und eine Leistungsschau reformistischer
    Maßnahmen, bei der die Einführung der
    betrieblichen Mitbestimmung in der Bun-
    desrepublik besonders gut abschneidet.
    Die Epochen und Kulturen wechseln, Pi-
    kettys Leitfrage bleibt dieselbe: Wie recht-
    fertigte sich die damalige Ungleichheit und
    was half, diese zu überwinden?


Piketty bemüht sich, jede dieser Recht-
fertigungen ernst zu nehmen, so wie wir
heute den Neoliberalismus ernst nehmen.
Denn auch in den Feudalgesellschaften der
frühen Neuzeit ging man ja davon aus,
dass die Unterschiede im Vermögen und
in der Möglichkeit, welches zu erwerben,
auf guten, ja notwendigen Grundlagen ba-
sierten. Man hielt die Ständeordnung, in
der der Adel für den Krieg, der Klerus für
das Seelenheil und die Bauern für den Rest
zuständig waren, für eine göttliche Ord-
nung. Doch was kam danach, nachdem
die Französische Revolution die Idee des
Gottesgnadentums abgeräumt hatte?

Für Piketty ist die Sache klar: Man er-
hob, aus lauter Furcht, nun sei gar nichts
mehr heilig, den privaten Besitz zum irdi-
schen Gott. Besonders erschüttert war er
während der Forschung zu diesem Buch,
als er das Ende der diversen Sklavenhalter-
systeme untersuchte. Danach stand näm-
lich nicht die Sorge um die einst versklavten
Menschen im Vordergrund, sondern vor
allem das Problem der Entschädigungen.
»Die damaligen Politiker dachten sich:
Wenn wir jetzt anfangen zu enteignen,
dann wissen wir ja nicht, wo das noch en-
den soll.« Haiti etwa zahlte bis in die Mitte
des 20. Jahrhunderts Entschädigungen für
freigelassene Sklaven. Piketty distanziert
sich auch von der Vermutung, es seien mo-
ralische, aufklärerische Gedanken gewesen,
die zum Ende der Sklaverei führten. Viel-
mehr seien die Aufstände der Sklaven wirk-
sam, also kostensteigernd gewesen, sodass
man das ganze System aufgab.
In der Welt von Piketty verhält es sich
so, wie es Willy Brandt in seinem letzten

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Kultur

CARL DE SOUZA / AFP

JOEL SAGET / AFP
Ökonom Piketty
120 000 Euro für jede und jeden
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