120 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Kultur
Grußwort an die Sozialistische Internatio-
nale formulierte: Nichts kommt von selbst.
In diesem Sinne möchte Piketty durchaus
zu politischem Engagement und Kampf
um Gerechtigkeit anstiften, denn sein
Buch zeigt: Das bringt wirklich etwas. Die
Begriffe der Wirtschaftswissenschaften
sind keine naturwissenschaftlichen Grö-
ßen, sondern folgen politischen, ja ideolo-
gischen Vorgaben. In seiner Welt sind die
Gesellschaften am produktivsten, in denen
das Vermögen möglichst gut verteilt ist,
hingegen stagnieren jene, in denen sich
die Oligarchen breitmachen.
Aber er beschreibt diese Entwicklungen
nicht nur, er formuliert auch Verbesse-
rungsvorschläge. Unter den von ihm emp-
fohlenen Maßnahmen findet sich eine, die
zunächst utopisch erscheint, aber so be-
gann ja manch eine historische Reform –
es ist sein Konzept der universellen Erb-
schaft. Piketty schlägt vor, jedem Erwach-
senen zum 25. Geburtstag ein staatliches
Geschenk in Höhe von 60 Prozent des
Durchschnittsvermögens zukommen zu
lassen, das wären in Deutschland nach
Schätzungen der Credit Suisse knapp
120 000 Euro, direkt aufs Konto – genug,
um eine Immobilie anzuzahlen, etwas zu
gründen oder eine Ausbildung zu finan-
zieren. Das Geld dafür wird durch Steuern
erhoben, so bleibt Kapital jung, und es
kommt Bewegung in die Gesellschaft.
Und Piketty hat noch jede Menge ande-
rer Vorschläge in petto: Einer betrifft die
Parteienfinanzierung, überhaupt das Geld
für den demokratischen Zirkus. Hier folgt
er Vorschlägen der Wirtschaftswissen-
schaftlerin Julia Cagé. Sie entwarf ein Sys-
tem der geldwerten Gutscheine, die allen
Wählerinnen und Wählern zustehen und
die sie nach Belieben auf politische Kräfte
verteilen können – andere Spenden sind
hingegen streng begrenzt. In einer Fuß -
note weist Piketty darauf hin, dass Profes-
sor Cagé seine Partnerin ist, was sie aber,
wie er ironisch bemerkt, nicht daran hin-
dere, gute Bücher zu schreiben, und ihn
nicht, diese kritisch zu reflektieren.
Piketty scheut auch vor einem Welt -
parlament nicht zurück. Das könnte für
Klima- und Gerechtigkeitsfragen zustän-
dig sein, die nationalen Parlamente darun-
ter für regionale Angelegenheiten. Mit
dem Nationalstaat hat er so seine Proble-
me, denn der beschränkt den Horizont der
politischen und juristischen Möglichkeiten.
Darin liegt auch der zentrale Vorwurf, den
er den linksliberalen Parteien wie den So-
zialdemokraten und Sozialisten macht. Sie
hätten sich schüchtern an nationale Belan-
ge gehalten, statt sich, wie es die großen
Digitalkonzerne und die Börsen vorma-
chen, international zu vernetzen.
Überhaupt, Politik. Piketty wirkt in sei-
ner immensen Neugier nur selten fassungs-
los, außer wenn er auf den Zustand der
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Seit Samer Tannous mit seiner Familie aus Damaskus
ins beschauliche Städtchen Rotenburg an der Wümme zog,
versucht er, die Deutschen zu verstehen. Doch sei es beim
Arbeiten, Essen oder Feiern – die Missverständnisse
scheinen grenzenlos. Gemeinsam mit seinem Freund
Gerd Hachmöller hat er sich deswegen daran gemacht,
deutsche Schrullen und arabische Eigenarten zu erklären und
zu zeigen, wie das Zusammenleben über Kulturgrenzen
hinweg gelingen kann.
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