Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

halbe Stunde gedauert, ich fragte mich, was
ich falsch gemacht hatte. Zäsurwunsch.
Das mit den Selbstauslöschungsgedan-
ken hatte einige Monate vorher begonnen.
Lange haderte ich mit mir, was ich tun soll-
te. Etwas in mir sagte, dass es gut wäre,
meiner Frau Friederike davon zu erzählen.
Etwas in mir sagte, dass ich ihr das auf kei-
nen Fall antun durfte. Aber ich hatte schon
damals das Gefühl, dass in den Schatten
von Scham und falscher Rücksichtnahme
blöde Entscheidungen lauern könnten.
Eines Abends, wir hatten gerade Theo
und seinen kleinen Bruder Wolf ins Bett
gebracht, begann ich zu erzählen. Ich fühl-
te mich wie in einer Telenovela. »Schatz,
ich muss dir etwas sagen ...« Ich schämte
mich dafür, sie mit meinem Gedan-
kenmüll zu belasten.
»Okay«, sagte sie an diesem
Abend, »kann ich was tun?« Dann
legten wir uns schlafen. Eine merk-
würdige Reaktion. Ich war ver-
wirrt, aber auch froh: Sie war nicht
in Panik ausgebrochen, nicht wü-
tend geworden, es hatte keinen
Streit gegeben, und wir hatten
auch nicht begonnen, gemeinsam
loszuheulen, wie schrecklich diese
Krankheit ist. Das hätte ich wohl
am wenigsten ertragen.
Ein paar Tage danach kam ich
nach Hause – es war später gewor-
den als verabredet – und fand Frie-
derike wach im Bett. Sie hatte ge-
weint.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ich habe gedacht, dass du dich
umgebracht hast.«
»Warum hast du denn nicht an-
gerufen?«
»Ich wollte nicht nerven.«
Ich kapierte, dass meine De -
pressionen nicht nur für mich die
Hölle waren, sondern auch für die
anderen.
Beim ersten Mal dauerte es, bis
ich verstanden hatte, was mit mir
los war. Bald beschloss ich, offen
über meine Situation zu reden. Heu-
te glaube ich, das machte es auch
für Friederike leichter. Ich mag mir
nicht ausmalen, was es für sie be-
deutet hätte, das alles mit sich allein
ausmachen zu müssen. Noch heute
bin ich froh und manchmal verwundert, dass
sie vor all dem Mist nicht einfach Reißaus
genommen hat. Ich weiß, dass das nicht
selbstverständlich ist. Und ich weiß, dass sie
das weiß. Ich bin ihr unendlich dankbar.
Man könnte sagen, ich bin ein Depressi-
ver in einer luxuriösen Position: Ich habe
einen Job, ein Zuhause, einen Freundes-
kreis. Ich habe eine Familie, die mich auch
dann noch liebt, wenn ich es gerade selbst
nicht kann. Man könnte sagen: Ich habe
überhaupt keinen Grund, depressiv zu sein.


In der Klinik traf ich Menschen mit wirk-
lich schlimmen Problemen. Manche waren
durch ihre Erkrankung arbeitslos geworden,
verarmt und an den Rand der Gesellschaft
gedriftet. Manche waren körperlich schwer
erkrankt, hatten finanzielle Probleme oder
waren in höllischen Beziehungen mit Part-
nern und Partnerinnen oder ihren Eltern
verheddert. Viele waren allein. Weil sie seit
Jahren von der Welt zurückgezogen lebten.
Oder weil sie schlicht nie jemanden hatten.
Es gab verzweifelte Tage, an denen
dachte ich: Mist, warum habe ich eigent-
lich kein richtiges Problem? Es gab Tage,
an denen ich mir vorstellen musste, wie
tief ich erst fallen würde, wenn ich alles
verloren hätte.

Mittlerweile ist es fünf Jahre her, dass
die Depressionen mein Leben, wie ich es
kannte, gesprengt haben. Es begann mit
einer Flasche Wein, die ich in schnellen
Zügen austrank, dem Gefühl, dass ich
nicht mehr kann, und einem Zusammen-
bruch mit Heulkrämpfen und Stürmen von
Selbstverachtung. Eigentlich hätte ich den
damals erst anderthalbjährigen Theo vom
Kindergarten abholen müssen. Stattdessen
lallte ich ins Telefon, dass ich nicht mehr
könne. Theos Tante kam und kümmerte

sich um ihn, eine Freundin holte mich zu
sich und beruhigte mich, während ich stun-
denlang weinte und die Scherben meines
Lebens beklagte.
Als ich mich wieder beruhigt hatte,
dachte ich: Ich brauche wohl ein paar Tage
Pause. Irgendwann dachte ich: vielleicht
auch zwei Wochen. Irgendwann nannte
ich meinen Zustand Burn-out, weil das
heroisch und nach Selbstaufopferung
klang.
Aber es wurde immer schlimmer. Ich
wurde immer müder, ich stumpfte immer
mehr ab. Mein kleiner Sohn, meine Frau,
meine Freunde, Dinge, die mir mal wichtig
waren, die Welt um mich herum berührte
mich immer weniger.
Irgendwann sagte ein Freund,
der Psychologe ist: Klar kannst du
jetzt wieder zur Arbeit gehen und
hoffen, dass alles wieder in Ord-
nung ist. Aber dann wird es dich
wahrscheinlich in einem Jahr noch
viel schlimmer erwischen. Irgend-
wann dachte ich, dass ich mich mei-
ner Familie so nicht mehr antun
konnte, und ging ins Krankenhaus.
Seitdem war ich dreimal in der
Klinik, insgesamt etwas mehr als
vier Monate. Ich war einige Wo-
chen in einer Tagesklinik, habe
mehr als 100 Stunden Psychothe-
rapie hinter mir und unzählige Pil-
len genommen, um mein Gemüt
zu stabilisieren. Ich nehme sie
immer noch, zwei morgens, zwei
abends. Alle ein bis zwei Wochen
sehe ich meinen Therapeuten.
Und trotzdem verwechsle ich
manchmal die Symptome einer Er-
kältung mit dem Beginn einer neu-
en Depression.
Ich bin immer noch krank.
Oder besser: Mir fällt manches
schwerer als anderen. Ich muss
aufpassen, dass ich mich nicht zu
viel in meinem Kopf aufhalte,
weil meine Gedanken dann
manchmal destruktiv und selbst-
verletzend werden. Ich muss
mein Denken im Blick behalten
und die okayen Gedanken von de-
nen unterscheiden, die nicht hilf-
reich sind. Ich finde es nicht mehr
so schlimm, mit der Gefahr zu le-
ben, in eine neue Depression zu fallen.
Denn ich weiß, wenn ich es selbst nicht
hinkriege, kann ich mir Hilfe holen, viel-
leicht noch ein viertes Mal ins Kranken-
haus gehen. Und ich weiß, dass ich das
nicht aus Schwäche machen werde, son-
dern weil es mir hilft. Weil die Psychiatrie
manchmal der beste Ort für mich ist. Für
mich und für alle, denen ich etwas bedeu-
te. Klingt doch schon fast nach einer Ge-
schichte, oder?

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 129


PRIVAT

Blick aus Klinikfenster

Burn-out, das klang heroisch,
nach Selbstaufopferung.
Aber es wurde immer schlimmer.
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