seine Führungsbeamten. Die Jagd auf Ra-
dikale war wie eine Sucht.
Doch diese Sucht zehrte an Cems Kräf-
ten. Er war ständig müde und schlief kaum.
Er ging aus dem Haus, ohne seiner Frau
zu sagen, wann er wiederkommen werde.
Sie hatte sich längst abgewöhnt, Fragen zu
stellen. Er hätte ihr sowieso keine vernünf-
tigen Antworten gegeben, sagt sie heute.
Die Belastung war enorm. Aber Cem
konnte nicht aufhören. Er sehnte sich nach
der Anerkennung seiner VP-Führer, nach
dem Adrenalin im Einsatz. Und Geld gab
es auch. Die Polizei machte sich Cems Ge-
fallsucht und Hilfsbereitschaft zunutze.
Man schmeichelte ihm, weil man ihn
brauchte. Niemand war so vielseitig ein-
setzbar wie er. Einen Auftrag abzusagen
kam für ihn nie infrage.
Lange merkte Cem nicht, wie ihm die
Anstrengung zusetzte, stets ein doppeltes
Spiel zu spielen. »Du musst dich ständig
verstellen«, sagte er später. »Dein Kopf
wird andauernd durchgefickt.« Doch eine
professionelle Fürsorge erfuhr er in seiner
aktiven Zeit nie. Er war eben kein Polizist,
sondern nur ein Hilfsarbeiter.
Die Tage und Nächte im Milieu bargen
eine weitere Gefahr. Wenn Cem zu Hause
war, bemerkte er, wie er die radikalen Ge-
danken der Islamisten verinnerlicht hatte.
Irgendwann herrschte er seine Frau an, sie
dürfe keine Musik mehr hören und solle
sich ordentlich kleiden. Sie sagte, er habe
nicht alle Tassen im Schrank. »Du wirst
verrückt in einem solchen Einsatz«, sagt
Cem heute. »Du musst aussehen wie die,
reden wie die, lernen, was die lernen. Ir-
gendwann bist du wie die.«
Er war nicht nur mittendrin in der Sze-
ne, sondern längst ein Teil von ihr. Umge-
ben von Menschen, die nicht nur ständig
von Allah sprachen, sondern auch davon,
töten zu wollen. Und die Polizei drängte
Cem, diesen Männern noch viel näher zu
kommen. »Ich musste die Leute aus dem
Verkehr ziehen«, beschreibt er seine Mis-
sion. »Ich musste die wirklich wegmachen.
Ich musste es schaffen, dass sie mir noch
mehr vertrauen, noch mehr erzählen.«
Die Raststätte Geismühle liegt an der
Autobahn 57 zwischen Düsseldorf und
Krefeld. Murat Cem setzt sich an einen
der Holztische unter den Bäumen. Es ist
der Platz, an dem er meist auf seine VP-
Führer gewartet hat, um ihnen Bericht
zu erstatten. Und wo er gezwungen war,
wenigstens für ein paar Minuten zur Ruhe
zu kommen.
»Manchmal habe ich mir gedacht: wozu
das alles?«, sagt er. Er habe sich überlegt,
wie es wohl wäre, wenn er zu den Islamis-
ten überliefe. Der Stress wäre vorbei ge-
wesen, er hätte nicht mehr lügen, nicht
mehr fürchten müssen, vor Müdigkeit am
Steuer einzuschlafen. Er wäre frei gewesen,
vielleicht sogar er selbst.
14
Anis Amri sagte, er könne
eine Kalaschnikow
»für 1500 Euro in Napoli«
besorgen.
Meistens rissen ihn seine VP-Führer
aus den trüben Gedanken. Cem berichtete
ihnen, so detailgetreu er konnte. Er ver-
suchte, nichts wegzulassen, auch nichts,
was ihm unwichtig erschien. Die Gesprä-
che hatten etwas Reinigendes für ihn. Sie
hätten ihm immer wieder klargemacht,
sagt er, auf welcher Seite er stehe. Die VP-
Führer waren wie große Brüder für ihn,
wie echte Freunde, von denen Cem längst
keine mehr hatte.
Am 13. November 2015 sprach der
V-Mann mit einem Islamisten aus dem
Hildesheimer Kreis um Abu Walaa über
mögliche Anschläge. Die Planungen dazu
liefen längst, sagte der Mann; von Hand-
granaten auf Polizeireviere sprach er, von
der Idee, Beamte mit einem falschen Not-
ruf in einen Hinterhalt zu locken, um sie
zu erschießen. Schalldämpfer für die Waf-
fen hätten sie schon, sagte er, es sei nun
an der Zeit, etwas mit »Gewehren zu ma-
chen«. In »ein bis zwei Wochen« könne
es losgehen. Gegen 20 Uhr trennten sich
Cem und der Islamist aus Hildesheim, wie
aus Polizeipapieren hervorgeht.
Gut eine Stunde später zündete in Paris
ein IS-Terrorist eine Bombe vor dem Stade
de France, wo gerade die deutsche gegen
die französische Fußballnationalmann-
schaft spielte. Kurz darauf zogen seine
Komplizen durch die Stadt und ermorde-
ten 130 Menschen. Es war ein Massaker.
Am nächsten Tag berichtete Cem seinem
VP-Führer von dem Gespräch am Abend
zuvor in Hildesheim. Das Protokoll seiner
Aussage erreichte sehr schnell die höchsten
Stellen. So floss es in eine geheime Lage -
bewertung ein, die der damalige Bundes -
innenminister Thomas de Maizière (CDU)
drei Tage später, am 17. November, zu lesen
bekam. An diesem Abend musste der Poli-
tiker eine schwierige Entscheidung treffen.
In Hannover sollte ein Freundschafts-
spiel der deutschen Fußballnationalmann-
schaft stattfinden. Von einem franzö sischen
Geheimdienst hatten die deutschen Behör-
den eine Warnung vor einem Anschlag
auf die Partie erhalten. Hinzu kamen nun
die bedrohlich klingenden Berichte des
V-Mannes Murat Cem.
Der Innenminister flog schließlich nach
Hannover und sagte das Länderspiel ab.
Die genauen Gründe behielt er für sich.
»Ein Teil dieser Antworten würde die
Bevölkerung verunsichern«, sagte de Mai -
zière. Es war eine rätselhafte Äußerung,
die Angst machte, statt zu beruhigen.
Was de Maizière wohl meinte: Mitten
in Deutschland gab es zu dieser Zeit eine
Islamistenzelle, der die Polizei einen An-
schlag ähnlich dem in Paris zutraute. »Die
haben die Verdächtigen damals sofort
hochgenommen«, sagt Cem. »Aber man
konnte ihnen nichts beweisen. Gar nichts.«
Am Abend des abgesagten Fußball-
spiels traf der V-Mann den Islamisten
Amri zum ersten Mal. Cem fuhr ihn mit
dem Auto vom Duisburger Hauptbahnhof
in die Dortmunder Moschee von Boban
S., auch Bilal Ö. aus Dinslaken war dabei.
Cem konnte sich mit Amri allerdings
zunächst kaum unterhalten, wie er sei-
nem VP-Führer erklärte. Der Tunesier
sprach fast nur Arabisch, was Cem nicht
beherrschte. So brauchte es Bilal Ö. als
Übersetzer. Amri möchte »hier was ma-
chen«, sagte Ö. Cem sah Amri an. Der
Tunesier nickte bestätigend. Cem meldete
es nach dem Treffen seinem VP-Führer,
der schrieb einen Bericht.
Eine Woche später saßen die drei wie-
der in Cems Toyota. Diesmal nutzten sie
ein Übersetzungsprogramm auf dem Han -
dy, um sich zu verständigen. Cem wollte
die beiden Islamisten aus der Reserve lo-
cken. Deshalb raunte er, auch er wolle
unbedingt »in Deutschland was machen«.
So erinnert er sich an die Fahrt.
Um glaubwürdig unter den Extremisten
zu sein, sollte Cem sich »allzeit anschlags-
bereit« zeigen. Das hatte die Polizei ihm
aufgegeben. Damit er den schmalen Grat
zur Anstiftung einer Straftat aber nicht
überschritt, hatten die Beamten ihm fol-
gende Sprachregelung vorgeschlagen: Er
sei grundsätzlich bereit, im Sinne Allahs
etwas in Deutschland zu machen. Zu kom-
pliziert, fand Cem, zu gekünstelt. Er im-
provisierte. Und Amri biss an.
Der Tunesier erzählte freimütig von ei-
ner Kalaschnikow, die er »für 1500 Euro
in Napoli« besorgen könne, ein »russisches
Fabrikat«. Wenn Murat das Geld habe,
könnten sie sofort nach Italien fahren.
»Lass mich überlegen, aber warum nicht?«,
antwortete Cem. Er wollte Zeit gewinnen,
um die heikle Mission mit seinen VP-Füh-
rern zu besprechen.
Den Beamten berichtete er: »Anis macht
auf mich einen sehr radikalen Eindruck,
er will unbedingt für seinen Glauben
kämpfen.« Es war der 24. November 2015,
keine zwei Wochen nach den Anschlägen
in Paris und ein gutes Jahr, bevor Amri in
Berlin töten würde.
Wieder eine Woche später, wieder sa-
ßen sie im Auto des Spitzels. Anis Amri
hielt Murat Cem einen blauen Pass unter
die Nase. So erinnert sich der V-Mann heu-
te, und so steht es in seiner Vernehmung
von damals. Mit dem Dokument werde er
nach Frankreich fahren, um Kalaschni-
Titel