Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
mehr als die Neuer scheinungen von
John Grisham, Stephen King und Mar-
garet Atwood zusammen.
Eigentlich sind Überraschungserfolge
in dieser Dimension ausgestorben. Die
Belletristikverkäufe sinken seit Langem,
kurzfristig erfolgreich sind die mit viel
Werbung in den Markt gedrückten
Blockbuster, doch auch sie verschwinden
immer schneller aus den Bestsellerlisten,
sobald der Marketingdruck nachlässt.
Für Delia Owens’ Buch gab es kein
Marketing, der Verlag hatte 28 000
Exemplare gedruckt. Es erzählt von ei-

nem Mädchen, das allein in den Sümp-
fen von North Carolina lebt, nachdem
es von seinen Eltern und Geschwistern
verlassen wird. Das vom Fischfang und
Muschelsammeln lebt und möglicher-
weise Chase Andrews getötet hat,
Highschool-Quarterback und Aufreißer
aus der nächstliegenden Kleinstadt. Es
war noch nicht einmal klar, was für ein
Genre das sein sollte, es war Natur -
literatur, Mordthriller und Coming-of-
Age-Roman in einem.

Die ersten Monate passierte nichts.
Doch dann stiegen die Verkäufe, sechs
Monate nach Veröffentlichung, im Ja-
nuar 2019, hatte es Platz eins der
Bestsellerliste erreicht und blieb dort
67 Wochen lang. Das war eine komplet-
te Anomalie. Dann meldete sich aus
Hollywood die Schauspielerin Reese
Witherspoon, sie war begeistert und
nahm den Roman in ihren Buchklub
auf. Außerdem hat sie Owens die Film-
rechte abgekauft und sitzt gerade am
Drehbuch für eine Hollywoodverfil-
mung. Owens hat Witherspoon in Los
Angeles besucht, sie soll die Schauspie-
lerin und ihre Leute beim Drehbuch-
schreiben beraten.
Das Buch ist in inzwischen 41 Län-
der verkauft, im Juli ist es auf Deutsch
unter dem Titel »Der Gesang der Fluss-
krebse« erschienen. Ende April kommt
Owens für drei Lesungen nach
Deutschland; nach Hamburg, Potsdam
und Berlin.
Die Erzählung beginnt Anfang der
Fünfzigerjahre gar nicht so weit entfernt
von dem Hotel, in dem wir uns treffen,
an der Küste North Carolinas, dort, wo
Sümpfe in den Atlantik übergehen.
Owens verfolgt zwei parallele Erzähl-
stränge, der erste, der 1952 einsetzt, er-
zählt von der sechsjährigen Kya, deren
Familie von der Mutter wegen des prü-
gelnden alkoholkranken Vaters verlas-
sen wird. Nach und nach verlassen auch
die um einige Jahre älteren Geschwister
die Hütte im Marschland, einer Art
Sumpfgebiet, doch »Marschland ist ein
Ort des Lichtes, wo Gras im Wasser
wächst«, wohingegen »Sumpfwasser
still und dunkel ist, es hat das Licht
mit seinem schlammigen Schlund
verschluckt«.
Als Kya zehn ist, kommt eines Tages
auch der trinkende Vater nicht mehr
heim, der, wenn er nüchtern war, seiner
Tochter das Fischen beigebracht hat.
Kya lernt, sich selbst zu versorgen. Ein

Foto: Thomas van Veen für SPIEGEL Bestseller 5


A


ls Delia Owens im Jahr 2009 ih-
ren Roman beginnen wollte, war
sie eine Zoologin, die drei Sachbücher
über Wildtiere in Botswana und Sambia
geschrieben hatte. Sie lebte jetzt nach
22 Jahren in Afrika seit einiger Zeit auf
einer Ranch in Idaho, wo sie außer ih-
rem Mann und den Pferden oft wochen-
lang niemanden sah. Der nächste Dok-
tor war anderthalb Stunden entfernt,
das nächste Restaurant drei Stunden.
Sie wollte einen Roman über Isola-
tion schreiben.
Doch der Lektor bei ihrem Verlag
Houghton Mifflin Hartcourt war schon
vor einiger Zeit an einem Gehirntumor
gestorben. Alle Agenten, mit denen sie
Jahrzehnte zuvor mal gearbeitet hatte,
waren in Rente gegangen oder hatten
Karriere gemacht. Owens glaubte, sie
wollten sicher nichts von einer Biologin,
die jetzt mit über 60 Jahren noch Ro-
mane schreiben wollte.
»Sie haben noch nicht einmal auf
meine Briefe geantwortet.«
Delia Owens macht eine kurze Pau-
se. Durchs Fenster sieht sie die Blue
Ridge Mountains. Sie ist aus der Ein-
samkeit Idahos nach North Carolina ge-
zogen, wo es im Durchschnitt 20 Grad
wärmer ist. Als Treffpunkt hat sie ein
altes Grand Hotel vorgeschlagen, das
es schon gab, als die Plantagenbesit zer
noch Sklaven hielten. Die Berge hier
sind nicht schroff, sondern lieblich.
Dann sagt Owens, lächelnd: »Ich
schätze, dass sie das jetzt bereuen.«
Sie meint die Agenten. Das Buch,
das sie damals schreiben wollte, hat sie
dann erst mal ohne Agenten und Verlag
geschrieben. Neun Jahre später er-
schien es schließlich in den USA, im
Sommer 2018. Ein Romandebüt mit 70.
Sie gab ihm den merkwürdigen Titel
»Where the Crawdads Sing«. Bis heute
hat es sich allein in den USA mehr als
viereinhalb Millionen Mal verkauft.
Das sind, auf das Jahr 2019 bezogen,


Titel

Aus der Wildnis


KarrierenEine unbekannte Frau veröffentlicht mit 70 Jahren ihren Debütroman, er trägt


einen merkwürdigen Titel, wird nicht beworben – und entwickelt sich zum
Weltbestseller: die Geschichte von Delia Owens und ihrem »Gesang der Flusskrebse«.

»Die Natur
unterscheidet nicht
zwischen richtig
und falsch.«

Delia Owens:Der Gesang der Flusskrebse.
Hanserblau; 464 Seiten; 22 Euro.
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