Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

S


eit Ulrich Becks »Risikogesell-
schaft«, das in den Wochen der Re-
aktorkatastrophe von Tschernobyl er-
schien, gab es kein deutsches Sachbuch
mehr, dessen Relevanz so sehr von der
Aktualität bestätigt worden wäre. Die
Republik wird durch eine Welle rechts-
radikaler Anschläge erschüttert und be-
schäftigt sich plötzlich mit dem Hass,
der zu solchen Taten führt. Gümüşay
führt ihre Leser an die Wurzeln des
Hasses, zum Beginn der Sprache. Sie
beginnt damit ganz behutsam, in Ge-
schichten aus der Kindheit. Sie setzt
dort an, wo die Welt und die Dinge
zueinandergebracht werden: bei den
Großeltern, und die wohnten im Fall
von Kübra Gümüşay in der Türkei. Ihre
Großmutter wies sie einmal, als sie in
der Dunkelheit auf das Meer schauten,
auf etwas hin: »Sieh nur, wie stark die-
ser yakamoz leuchtet!« Aber das Kind
konnte nichts erkennen, denn es wusste
nicht, dass »yakamoz« den Wider-
schein des Mondes auf der Meeresober-
fläche bezeichnet. Erst als man ihm das
erklärt hatte, konnte es ihn erkennen,
den hellen, schönen yakamoz da drau-
ßen. Es fällt schwer, Dinge zu erkennen,
für die man keine Wörter hat, aber es
gibt auch einen guten Ausweg: sie zu
lernen. Gümüşay bringt weitere Bei-
spiele: Das japanische Wort »komore-
bi« beschreibt das Sonnenlicht, das
durch die Blätter von Bäumen schim-
mert. Und »gurfa«, ein arabisches Wort,
steht für die Menge an Wasser, die sich
mit einer Hand schöpfen lässt. Auch
wenn man diese Wörter nie zuvor
gelesen oder gehört hat, versteht man
sofort, was sie bezeichnen, wenn es
jemand vermittelt. Doch diese Mittler-
funktion ist riskant geworden, und da-
von handelt das Buch eigentlich: die
tödliche Gefahr, in der sich die Freiheit
des Diskurses, der Sprache befinden.
Es ist nicht mehr so wie zu Beginn
des Jahrhunderts, als eine versöhnte,


technologisch immer besser vernetzte
Welt sich an den Chancen einer
posthistorischen Globalisierung freute.
Nach den Anschlägen vom 11. Septem-
ber 2001, den Kriegen in Afghanistan
und dem Irak, der Herausbildung einer
multipolaren Weltordnung und dem
Aufkommen der sogenannten sozialen
Netzwerke ist die Sprache längst zur
ausgeweiteten Kampfzone verkommen.
Belege muss man nicht lange suchen,
einen Eindruck davon gibt der berüch-

tigte Auszug der Rede der Fraktions-
vorsitzenden der AfD im Bundestag,
Alice Weidel, vom 16. Mai 2018, in der
sie erst über Straftäter mit mehrfachen
Identitäten klagt und dann feststellt,
dass »Burkas, Kopftuchmädchen und
alimentierte Messermänner« den Wohl-
stand des Landes nicht schützen wer-
den. Die Assoziierung von äußeren
Merkmalen mit kriminellen Praktiken
brachte der Rednerin zwar eine Rüge
des Parlamentspräsidenten Wolfgang
Schäuble ein, aber solche Sprachbilder
haben sich längst fest etabliert.

Gümüşay wurde 1988 in Hamburg
geboren und konnte aus eigener An-
schauung studieren, wie das Kopftuch,
das sie trägt, zur Einladung wurde, um
sie nicht mehr als Individuum und
Mensch, sondern als Repräsentantin des
Islam an sich und der Migrationsbewe-
gungen insgesamt anzusprechen und zu
deuten.
»Wenn ich, eine sichtbare Muslimin,
bei Rot über die Straße gehe, gehen mit
mir 1,9 Milliarden Muslime bei Rot über
die Straße.« Sie hat sich als Journalistin
und Aktivistin darum bemüht, diese
Zuschreibungen zu hinterfragen und
deutlich zu machen, dass es auf In -
dividualität und Kommunikation an-
kommt, wenn wir uns nicht wechsel -
seitig in einem Museum der Stereoty-
pen verlaufen wollen. Aber mit der Zeit
sah sie nicht mehr nur die Position der
anderen, sondern den Diskurs über-
haupt, die Erregungsmaschine in Talk-
shows und sozialen Netzen, als Pro-
blem.
Viel zu oft lasse man sich, um nur
möglichst heftige Emotionen zu erzeu-
gen, die Themen von der Rechten, von
Rassisten vorgeben. Die seien es, kriti-
siert sie, die »die Hausaufgaben vorge-
ben«, und dann obliegt es insbesondere
Frauen wie ihr nachzuweisen, dass ele-
mentare Rechte und Respekt auch für
sie zu gelten haben. Aber sie ist eben
nicht nur Symbol, sondern eine ganz
normale und damit ganz besondere
Frau und Mutter. Alarmiert stellt sie
fest: »Wir haben die AfD so groß ge-
macht, wie sie heute ist« – und zwar
durch das Reden über sie.
»Sprache und Sein« entschlüsselt
unsere Gegenwart und macht deutlich,
was uns verbindet, nämlich die Sehn-
sucht danach, so frei sprechen zu
können, wie als wir die ersten Worte
lernten.

Nils Minkmar

20 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020


Bücher

Eine ganz normale,


ganz besondere Frau


SachbuchDer Identitätskampf der Gegenwart findet über Wörter statt – Kübra
Gümüşay liefert mit »Sprache und Sein« einen differenzierten Beitrag zur Debatte.

Kübra Gümüşay:Sprache und Sein.
Hanser Berlin; 208 Seiten; 18 Euro.

»Wir haben die AfD
so groß gemacht,
wie sie heute ist.«
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