Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

22 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020


Weitere Bestseller


ROMAN I


Schwäbischer


Albtraum


Bov Bjerg: Serpentinen.
Claassen; 270 Seiten, 22 Euro.


Ein Vater reist mit seinem Sohn in
die Vergangenheit, in die Landschaft
seiner eigenen Kindheit, weich und
hügelig und grün und unheimlich. Der
Vater weiß sich nicht anders zu helfen.
Er will den Fluch, unter dem er aufge-
wachsen ist, nicht an sein Kind weiter-
geben. Aber es steckt tief in ihm drin.
Die Gewalttätigkeit seines Vaters, die
Wut seines Vaters, das spürt er alles in
sich und schließlich auch den Drang,
sich selbst auszulöschen, wie es sein


Vater und sein Großvater taten. Er
hofft, dass eine Reise in die Schwäbi-
sche Alb, zusammen mit seinem
Sohn, die Geister des Gestern bannen
wird. Eine Heimatschocktherapie.
Bov Bjerg, der mit seinem Roman
»Auerhaus« einen großen Erfolg
feierte, hat mit »Serpentinen« einen
so eindringlichen, unheimlichen,
traurigen und Hoffnung spendenden
Heimatroman geschrieben, wie es in
Deutschland lange keinen mehr gab.
Ein Deutschland-Roman über ver-
drängte Traumata dieses Landes, über
Väter von heute und ihre Kinderliebe.
Und über die Schönheit der Alb
und ihre dunkle und helle magische
Kraft. Volker Weidermann

Heimatflüchtling Bjerg

GESCHICHTEN
Von unten betrachtet
Katja Oskamp: Marzahn, mon Amour.
Hanser Berlin; 144 Seiten; 16 Euro.

Allein der Gedanke an Fußpflege
löst bei vielen Menschen ein Ekel -
gefühl aus. Denn wer von Fußpflege
spricht, meint nicht Pediküre, nicht die
Auswahl zwischen den Nagellack -
farben »Fuchsia« oder »Ombra«, son-
dern das Entfernen von Hornhaut, die
Behandlung von Hammerzehen oder
Rollnägeln. In ihrem Buch »Marzahn
Mon Amour« verrät die Schriftstelle-
rin Katja Oskamp nicht, ob sie auch
mit solchen Ekelgefühlen zu kämpfen
hatte. Stattdessen spricht aus der Er-
zählung ein tiefes Verständnis für alles,
was das Leben mit manchen Men-
schen anstellt. Die Icherzählerin – die
der Autorin Oskamp in vielem gleicht,
nicht nur was die Arbeitserfahrung als
Fußpflegerin angeht – ist selbst kräftig
durchgerüttelt worden; ihr letzter
Text, eine Novelle, erhielt Absagen
von 20 Verlagen, sie hat einen krebs-
kranken Mann, und ihre fast erwach-
sene Tochter ist nach England gegan-
gen. Mit Mitte vierzig weiß sie nicht
mehr genau, wohin ihr Leben sie
eigent lich führen soll. Doch statt jam-
mernd herumzudümpeln, entscheidet
sie sich, eine Ausbildung zur Fußpfle-
gerin zu machen und in einem Kosme-
tikstudio in Marzahn ihr Geld zu ver-
dienen. Die Kapitel sind nach den
Menschen benannt, die ihr dort begeg-
nen. Sie sitzt zu Füßen ihrer Kunden,
nimmt mit einer Lupe deren Fußdefor-
mationen in Augenschein und hört
ihnen zu. Dabei begegnet sie allen mit
Zuneigung und Neugier. Das Men-
schenbild dieser fußpflegenden Erzäh-
lerin ist etwas aus der Mode gekom-
men, denn sie weiß um die widerstre-
benden Seiten des menschlichen Cha-
rakters, wie eng sympathische Seiten
und Macken miteinander versponnen
sind; sie weiß auch, dass Momente von
Verbundenheit und Glück meist uner-
wartet kommen. Der Schriftstellerin
Oskamp gelingt es, für die Geschich-
ten aus Marzahn einen schwebeleich-
ten Ton zu finden, der nie ins Dramati-
sche oder Rührselige kippt. »Marzahn
Mon Amour« ist ein schmales, groß -
artiges Buch über den Alltag im Osten
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