»Ein totaler Fuck-up«
KlassikPolitisch denkender Pianist, sehr erfolgreich mit Beethoven: Im SPIEGEL-
BESTSELLER-Fragebogen gibt Igor Levit Antwort auf größere und kleinere Fragen.
SPIEGEL:Ein Lied, das Ihre Eltern Ih-
nen zum Einschlafen gesungen haben?
Levit:Oh, das waren so, so viele! Ich
erinnere mich nicht mehr genau an al-
les, aber ich weiß noch, wie meine Mut-
ter mir eine Arie aus Sergei Rachmani-
nows Oper »Aleko« vorgesungen hat.
Das war wundervoll.
SPIEGEL:Erinnern Sie sich gern an die
Musik, die Sie als Kind in Gorki – heute
Nischni Nowgorod – im Radio gehört
haben?
Levit: Leider nein.
SPIEGEL: Welches Lied haben Sie als
Erstes auf dem Klavier gespielt?
Levit: Das Lied aus dem Zeichentrick-
film »Die Bremer Stadtmusikanten«.
SPIEGEL: Waren die Klavierstunden
Ihrer Kindheit eher eine Qual – oder
haben Sie die Etüden genossen?
Levit: Keine Etüden. Nie Qual.
SPIEGEL: In einem Satz: Wer war Vla-
dimir Horowitz?
Levit: Ein Genie.
SPIEGEL: Sie siedelten mit Ihrer Fa-
milie 1995 nach Hannover um. Ihr ers-
ter Eindruck als Kind von Deutschland?
Levit: Abenteuer. Und meine erste gro-
ße Liebe: die Sprache.
SPIEGEL: 2020 ist Beethovens 250. Ge -
burtstag. Ein Grund zu feiern?
Levit: In meiner Welt ist jedes Jahr
Beethoven-Jahr. Kaum ein Komponist
wird häufiger aufgeführt als er, und das
gilt auch für meine Aufführungspraxis.
Eigentlich müsste es also heißen: »It’s
just another year ...«
SPIEGEL: Sie haben erst kürzlich alle
Beethoven-Sonaten aufgenommen.
Gibt es eine abschließende Erkenntnis?
Levit: Nein. Ich frage mich: What’s
next? Was steht an? Die Arbeit und das
Leben gehen weiter.
SPIEGEL: Was würden Sie Beethoven
nach dem vierten Bier sagen?
Levit: »Ludwig, einige Takte der Ham-
merklaviersonatenfuge sind ein totaler
Fuck-up und absolut unspielbar.« So,
jetzt ist es raus.
SPIEGEL: Was passiert in Ihrem Kopf,
wenn Sie sich vor Publikum verspielen?
Levit: Ich verdrehe die Augen und lache
mich selbst aus.
SPIEGEL: Ist Improvisation in der klas-
sischen Musik erlaubt?
Levit: Ja!
SPIEGEL: Was können wir vom Jazz
lernen?
Levit: Freiheit.
SPIEGEL: Die drei schönsten Platten
von Thelonius Monk?
Levit: »Underground« (1968), »Brillant
Corners« (1956), »Monk in Tokyo«
(1963).
SPIEGEL: Haben Sie schon einmal ei-
nen Geist gesehen oder gespürt?
Levit: Nein.
SPIEGEL: Die drei wichtigsten Pop-
Platten in Ihrem Leben?
Levit: David Bowie: »Blackstar«, Leo-
nard Cohen: »You Want it Darker«,
Eminem: »Slim Shady LP«.
SPIEGEL: Auf was sind Sie im Leben
stolz?
Levit: Auf meine Familie und meine
Freunde.
SPIEGEL: Welche Jahreszeit mögen
Sie am liebsten?
Levit: Winter.
SPIEGEL: Wo möchten Sie im Winter
leben?
Levit: Im Schnee.
SPIEGEL: Welche Journalistenfrage
können Sie nicht mehr ertragen?
Levit: »Fühlen Sie sich als Russe oder
als Deutscher?«
SPIEGEL: Welche Figur sind Sie in
»Winnie Puuh«?
Levit: Winnie!!!
SPIEGEL: Welches Buch lesen Sie
gerade?
Levit: »Catch and Kill« von Ronan Far-
row.
SPIEGEL: Von welchem Autor ver-
schlingen Sie jedes Buch?
Levit: Von James Baldwin.
SPIEGEL: Wie verändert Erfolg den
Menschen?
Levit: Pauschalisieren ist nicht hilfreich.
SPIEGEL: Bei welchen drei Welt -
ereignissen wären Sie gern dabei ge-
wesen?
Levit: 1. beim Mauerfall, 2. bei Anita
Hills Anhörung im US-Kongress, 3. bei
Willy Brandts Kniefall in Warschau.
SPIEGEL: Waren Sie schon einmal auf
einem Rave?
Levit: Leider nein.
SPIEGEL: Mit wem würden Sie gern
einmal zu Abend essen?
Levit: Mit David Remnick. Er ist seit
1998 der Chefredakteur des »New Yor-
ker«. Ich bewundere seine Arbeit gren-
zenlos.
SPIEGEL: Was steht heute auf Ihrem
Einkaufszettel?
Levit: Urlaub.
SPIEGEL: In wessen Haut würden Sie
gern schlüpfen?
Levit: Ich mag meine Haut.
SPIEGEL: In welchem Feld würden Sie
sich gern verbessern?
Levit: Klimmzüge und Handstand.
SPIEGEL: Wie hat sich Ihr Leben ver-
ändert, seit Sie anonyme Morddrohun-
gen erhalten haben?
Levit: Mein Wutpegel ist rasant nach
oben gegangen. Meine Angst um dieses
Land hat sich verstärkt. Mein politi-
sches Pflichtgefühl war noch nie stärker
als heute.
SPIEGEL: Hat Deutschland ein Anti-
semitismus-Problem?
34 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020
Musik
Igor Levit:Beethoven Complete Piano
Sonatas. Sony Classical