Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Parteien gemacht. Dadurch haben CDU
und SPD das Gefühl verloren, wer sie
sind.
Schröder:Wieso soll eine Partei die Orien -
tierung verlieren, wenn man eine vernünf-
tige Politik macht? Sie könnte sich doch
leiten lassen von dieser Politik, die ja nun
erkennbar das Land vorangebracht hat.
Das gilt für meine Regierungszeit, aber
durchaus auch für die von Frau Merkel.
Man kann doch nicht behaupten, dass
Frau Merkel in ihren 15 Jahren als Kanzle-
rin alles falsch gemacht hätte.
SPIEGEL:Sie sehen sich da sozusagen in
einer Schicksalsgemeinschaft mit der
Kanzlerin, zwei Regierungschefs, die in
ihren Parteien Undankbarkeit erfahren?
Schröder:Wer in der Politik Dankbarkeit
erwartet, ist auf dem Holzweg. Ein Fehler
ist es aber, wenn man als Partei in die Ton-
ne tritt, was man in der eigenen Regie-
rungszeit gemacht hat.
SPIEGEL:Genau das machen Norbert Rött-
gen und Friedrich Merz, zwei Kandidaten
für den CDU-Vorsitz.
Schröder:Die werden aber nicht gewinnen.
SPIEGEL:Dabei dürfte Merz doch Ihr
Wunschkandidat sein, weil sich die SPD
am besten an ihm abarbeiten könnte?
Schröder:Das stimmt, das könnte wie -
der eine klare Profilierung ermöglichen.
Die CDU rückt nach rechts und macht
damit Platz in der Mitte für die SPD. Das
wäre das Beste für die Volksparteien, de-
ren Erfolg wir brauchen. Denn die Stabi-
lität der Bundesrepublik hat immer mit
den beiden Volksparteien zu tun gehabt.
Diese Stabilität ist wichtig, gerade in
Krisenzeiten.
SPIEGEL:Merz fordert eine schärfere Mi-
grations- und Sicherheitspolitik. Kann die
Union so AfD-Wähler zurückgewinnen?
Schröder:Vielleicht kann das gelingen.
Aber die CDU kann mit der AfD verbal
niemals konkurrieren. Dann gibt sie ihre
christliche Heimat auf. Man kann doch
auch nicht sagen, dass die SPD nennens-
werten Erfolg damit hatte, grüner zu wer-
den als die Grünen oder linker als die Lin-
ke. Warum sollte es für die CDU auf dem
rechten Flügel anders sein?

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 35


SPIEGEL:Herr Schröder, wir erleben un-
ruhige Zeiten, Corona-Krise, Flüchtlings-
krise, Führungsstreit in der CDU, aber
Kanzlerin Merkel lässt sich nur selten
blicken. Sitzt sie die Probleme aus, oder
ist das die »Politik der ruhigen Hand«, wie
Sie das früher einmal genannt haben?
Schröder:Eine Politik der ruhigen Hand
setzt voraus, präsent zu sein. Nehmen Sie
den Krieg in Syrien: Da müsste die Kanz-
lerin zwischen dem türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan und dem russischen
Präsidenten Wladimir Putin vermitteln,
um die Kämpfe in der Region Idlib zu stop-
pen. Man muss versuchen, das Leid der
Menschen zu beenden. Das wird nur ge-
hen, wenn es eine neutrale Person gibt, die
sowohl zur einen wie zur anderen Seite
einen guten Kontakt hat. Und das ist die
Bundeskanzlerin.
SPIEGEL:Das wird ihr nicht leichtfallen.
Präsident Erdoğan erpresst Deutschland
mit einer neuen Flüchtlingswelle.
Schröder:Ich würde nicht von Erpressung
reden. Die Türkei ist das Land mit den
meisten Flüchtlingen weltweit, dort leben
rund vier Millionen Flüchtlinge. Als der
Deal zwischen der EU und der Türkei be-
schlossen wurde, hat Brüssel Herrn Er-
doğan vereinfachte Beitrittsverhandlun-
gen und Visafreiheit für Geschäftsleute in
Aussicht gestellt. Daran hat sich die EU
nicht gehalten. Dafür gab es Gründe: die
innenpolitische Situation in der Türkei und
das Engagement der Türkei in Libyen.
Aber man muss doch wissen, dass es Kon-
sequenzen hat, wenn die EU einen Teil
des Deals nicht erfüllt. Die Türkei ist ein
stolzes Land und hat eine stolze Führung.
SPIEGEL:Sie sind mit den beiden entschei-
denden Akteuren im Syrienkonflikt be-
freundet, mit Erdoğan wie auch mit Putin;
beim russischen Staatskonzern Rosneft
sind Sie Aufsichtsratschef. Könnten Sie
diese Beziehungen jetzt nutzen, um in der
Syrienfrage zu vermitteln?
Schröder:Das ist eine Nummer zu groß
für jemanden, der nicht mehr im Amt ist.
Ich meine das nicht intellektuell oder was
die Kontakte betrifft. Aber das muss je-
mand machen, der Entscheidungsmacht


hat. Ich versuche zu sagen, was ich für rich-
tig halte. Aber Sie können mich doch nicht
in eine Rolle bringen, in der ich mich als
Vermittler anbiete. Das ist eine Aufgabe
für die heute politisch Handelnden.
SPIEGEL:Ist Merkel dazu in der Endphase
ihrer Kanzlerschaft noch in der Lage?
Schröder:Frau Merkel hat einen entschei-
denden Fehler gemacht. Sie hat ein Vaku-
um geschaffen, indem sie gesagt hat: Ich
bleibe Kanzlerin, aber nicht Parteivorsit-
zende. Das rächt sich jetzt. Sie hat die
CDU in eine Situation gebracht, in der sie
schon wieder einen neuen Parteivorsitzen-
den wählen muss.
SPIEGEL:Sie haben das 2004 doch genau-
so gemacht, als Sie den Parteivorsitz an
Franz Müntefering abgegeben haben.
Schröder:Das war etwas anderes, weil ich
nicht gesagt hatte: Übrigens, ich werde
dann in zwei Jahren auch mal als Kanzler
aufhören. Und Müntefering hatte auch
nicht den Anspruch, Kanzler zu werden.
SPIEGEL:Hat Merkel den richtigen Zeit-
punkt für ihren Rückzug verpasst?
Schröder:Nein. Sie kann ruhig bis zum
Ende der Legislaturperiode Kanzlerin
bleiben. Die SPD hat auch keine Neigung,
jemand anders zum Kanzler oder zur
Kanzlerin zu wählen. Wenn man das weiß,
hätte sie beide Ämter bis zum Ende der
Legislaturperiode behalten müssen. Oder
sie nimmt in Kauf, dass in der CDU Chaos
ausbricht. Und das ist nun passiert.
SPIEGEL:Das haben Sie ja auch in Ihrer
eigenen Partei erlebt, nachdem Sie als
Kanzler abgewählt wurden. Die SPD wuss-
te plötzlich nicht mehr, wofür sie steht.
Schröder:Der größte Fehler der SPD war,
sich nach dem Ende der rot-grünen Koali-
tion von sich selbst zu distanzieren. Wer
den Eindruck erweckt, dass alles schlecht
war, was die Partei über Jahre beschlossen
hat, kann nicht erwarten, dass die Wähler
sagen: Na toll, ihr kritisiert euch selbst, wir
wählen euch. Teile der CDU machen jetzt
das Gleiche und distanzieren sich von der
Politik von Frau Merkel.
SPIEGEL:Das könnte man aber auch
umgekehrt sehen. Merkel und Sie haben
Poli tik gegen die Grundüberzeugung Ihrer

Deutschland

»Frau Merkel hat ein Vakuum


geschaffen, das rächt sich jetzt«


SPIEGEL-GesprächEx-Regierungschef Gerhard Schröder, 75, über die Endphase
seiner Nachfolgerin, über die Frage, wer so alles Kanzler kann, und über die Probleme,
die einem Politiker teure Anzüge oder Kapuzenpullover machen können
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