Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

46 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020


V


ielleicht muss die Geschichte dieses Wolfs mit seinem
Ende beginnen. Am Ende der Jagd stieß GW924m mit
einem Fahrzeug zusammen, er erlitt schwere innere
Verletzungen, er schleppte sich etwa drei Kilometer weiter,
bis er bei Gifhorn zusammenbrach. Jäger fanden ihn am


  1. Januar, stark verwest, in einem Waldstück im Laub. Er wur-
    de in eine Pathologie nach Berlin gefahren, ihm wurde Gewe-
    be entnommen, welches bewies, dass es sich um GW924m
    handelt, den Wolf, über den man im Norden Deutschlands
    lange gesprochen hatte. GW
    wie Grauer Wolf, 924 als gene-
    tische Kennung, männlich.
    131 Nutztiere hatte GW924m
    in anderthalb Jahren und
    64 Angriffen fast nur in Schles-
    wig-Holstein gerissen. Er galt als
    gefährlicher Wolf, der mehr
    Schafe getötet hatte als wohl je
    ein anderer Wolf im Land.
    37 Tage später erhielt Jens
    Matzen, 63, Wolfsbetreuer in
    Schleswig-Holstein, eine E-
    Mail mit der Nachricht, dass
    GW924m tot sei.
    Matzen sitzt in einem Semi-
    narraum des zuständigen Lan-
    desamts bei Kiel, er hat ein
    vom Wetter gerötetes Gesicht.
    Matzen ist gelernter Forstwirt
    und sagt, dass er ja eigentlich
    Wölfe betreue, aber in letzter
    Zeit vor allem die Menschen.
    Vor 19 Jahren wurden das
    erste Mal wieder Wolfswelpen
    in Deutschland geboren, rund
    tausend Wölfe leben mittler-
    weile hier, aber die Menschen
    hätten sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass der Wolf
    zurück sei. GW924m hat die Sache nicht besser gemacht.
    Wenn man Matzen nach GW924m fragt, nennt er ihn prä-
    zise, schlau, gewieft. In Matzens Stimme liegt Anerkennung.
    Beinahe alles, was er über GW924m sagen kann, weiß er aus
    den Berichten, Protokollen und Bildern der Rissgutachter,
    also der Menschen, die die Verletzungen der Nutztiere doku-
    mentieren. »Man lebt dann praktisch mit dem Wolf«, sagt er.
    Geboren wurde GW924m im Jahr 2017 in Dänemark bei
    Ulfborg, nahe einem Naturschutzgebiet. Er hat mindestens
    sieben Geschwister. Wölfe sind soziale Tiere, das Rudel küm-
    mert sich gut um die Jungen, bis diese mit ein bis zwei Jahren
    davonziehen. Und so lief auch GW924m im Frühjahr 2018
    in Richtung Süden und nahm wahrscheinlich eine Schwester
    und zwei Brüder mit. Die Schwester starb auf der A 23, ein
    Bruder kehrte zurück in die Heimat, der andere Bruder lief
    zur Nordseeküste. GW924m zog es südwärts, bis in die Krei-
    se Steinburg, Pinneberg, Segeberg. Dort blieb er zunächst.
    Matzen, der Wolfsbetreuer, hörte zum ersten Mal von


GW924m nach dem ersten Schafriss des Wolfs im Juli 2018.
Es folgten weitere Schafe, viele Schafe, Schafe hinter elektri-
schen Weidezäunen, die in der Regel 30 bis 40 Zentimeter
hoch sind. Für GW924m waren sie kein Hindernis.
Matzen wurde als Wolfsbetreuer hinzugezogen, er riet
den Schaf- und Ziegenhaltern, ihre Zäune zu erhöhen, für
Material kam das Land auf. Sie bauten stromführende Netze
an Stangen, 1,05 bis 1,08 Meter hoch. Diese Höhe gilt als
wolfssicher. GW924m überwand sie. »Manchmal musste man
den Hut ziehen«, sagt Matzen an diesem Tag im Landesamt,
an dem GW924m schon seit vielen Wochen tot ist.
Ab Januar 2019 begann eine Task Force, nach dem Wolf zu
suchen, eine kleine Gruppe Jäger, die aufbrach, um GW924m
zu erlegen. Wölfe sind eine durch viele rechtliche Regelungen
geschützte Art, es greift das Washingtoner Artenschutzabkom-
men, die Berner Konvention, die Fauna-Flora-Habitat-Richt-
linie 92/43/EWG, das Bundesnaturschutzgesetz. Nur wenn
der Wolf nicht zu bändigen ist, wird er zum Abschuss freige-
geben. Ab Herbst wurde die Zahl der Jäger erhöht.
Die Jäger durften, so war es festgelegt, nur im Revier des
zum Abschuss freigegebenen Tieres jagen, damit sie nicht aus
Versehen den falschen Wolf er-
schießen. Es schien fast, sagt
Matzen, als habe GW924m die
Gefahr gespürt: Er begann, sein
Revier regelmäßig zu verlassen.
Woche um Woche verging,
und Woche um Woche lebte
GW924m weiter. Die Lokal -
zeitungen schrieben »Problem-
wolf wird zum Problem.« Der
Umweltminister des Landes
sagte im Interview: »Wir arbei-
ten intensiv daran, den Abschuss
des Problemwolfs zu errei-
chen.« Das Raubtier hatte eine
Debatte ausgelöst. Wolfsschüt-
zer begannen, im Wald zu wan-
dern, um die Jäger zu stören.
Auf eine gewisse Art jag -
ten sich mittlerweile auch die
Menschen.
»Ein Wolf mag keine Kon-
flikte«, sagt Matzen. Wann
genau sich GW924m aus dem
Staub machte, ist nicht klar.
Am 25. Oktober 2019 riss er
Schafe südlich von Schwerin,
Mecklenburg Vorpommern,
rund 130 Kilometer entfernt von seinem eigentlichen Revier.
Danach blieb es ruhig. Vielleicht war er, glaubt Matzen, für
die Menschen unsichtbar geworden, weil er eine Partnerin
gefunden hatte und verstärkt Rehe jagte. Wie fast immer bei
Wölfen weiß der Mensch es nie genau.
Wenn man mit Matzen über den Wolf spricht, nennt er
ihn 924, als sei es ein Kosename. 924 war in Niedersachsen
gestorben, um dorthin zu gelangen, könnte er durch die Elbe
geschwommen sein, vielleicht bei Amt-Neuhaus, wo der Fluss
einen Knick macht und schmal wird. »Da hast du uns so
lange zum Narren gehalten und bist jetzt so geendet«, dachte
Matzen, als er von dem Tod des Tiers hörte. Matzen findet:
Es war ein guter Tod für einen Wolf, der von so vielen gejagt
wurde. Ein neutraler Tod, ohne Schuld.
Sein Kadaver wurde in der Pathologie in Berlin im Com-
putertomografen gescannt, GW924m wurde gewogen und
vermessen, auf Krankheiten untersucht und dann entsorgt,
verbrannt, in der Tierkörperbeseitigungsanstalt.
Barbara Hardinghaus

Wolfsspur


Ein zum Abschuss freigegebener,
berüchtigter Wolf wurde
in Niedersachsen von einem Fahrzeug
tödlich angefahren. Ein Nachruf.

Eine Meldung und ihre Geschichte

Wolf im November 2018

Aus dem »Hamburger Abendblatt«
Free download pdf