Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

Kinder. Er schlug auf ihren Kopf, sagt sie,
eigentlich von Anfang an. Oder auf den
Bauch, so habe sie zwei Babys verloren.
Er schlug sie mit einem Stuhl, er trat zwei
Türen ein, um zu ihr zu gelangen. Sie kann
die Ereignisse nicht mehr trennen, sie sind
zu einem geworden.
Sie macht vor, wie man sich schützt:
Man geht in die Hocke, die Beine vor dem
Bauch, die Unterarme vor die Augen, die
Hände auf den Kopf.
Wenn man ihre Verletzungen sehen
konnte, blutunterlaufene Augen, Platz-
wunden, hörte er auf. Sie blieb in der Zeit
meist zu Hause, sie schämte sich. Wenn
alles verheilt war, ging es wieder los. Sie
sagt: Wenn er heute nicht geschlagen hat,
dann morgen. Wenn diese Woche nicht,
dann halt die nächste. Irgendwann mach-
ten die Pausen keinen Unterschied mehr.
Gründe gab es immer. Wenn er von der
Spätschicht kam, und das Essen war nicht
fertig. Nachts wollte er Wasser auf dem
Nachttisch stehen haben, falls er husten
musste. Einmal wachte er auf, sie hatte das
Wasser vergessen. Er zog sie aus dem Bett.
Sie hat Fotos von ihrem Körper. Verlet-
zungen verheilen, und dann ist es, als wä-
ren sie nie da gewesen. Bilder bleiben. Sie
krempelt die Ärmel hoch und fragt:
Kannst du das sehen?
Sie ist schon seit Wochen hier, man sieht
nichts mehr. Sie sagt, ihre Arme täten im-
mer noch weh.
Will sie irgendwann einmal wieder
einen Mann kennenlernen?
Sie antwortet: Ich will nur Ruhe.


Büro: Die Zimmer sind klein, aber hell.
Das Frauenhaus stellt den Wohnraum, auf-
räumen und putzen müssen die Frauen
selbst, es gibt eine Gemeinschaftsküche,
in der Regel kocht jede für sich.
Sie bringen die Kinder zur Schule oder in
den Kindergarten, sie können jederzeit ge-
hen, sie sind frei. Eine Mitarbeiterin sagt,
das stimme nur halb: Wer vor dem eigenen
Mann flieht, gewinnt nicht nur Freiheit, er
verliert auch ein Zuhause. Es war oft das
Letzte, was die Frauen hatten. Im Frauen-
haus sind sie in einer Zwischenwelt. Ab-
gehauen, aber nicht angekommen.
In Schränken stehen die Akten der
Frauen, darin: Anträge beim Jobcenter,
Bewerbungen um Wohnungen. Die Mit-
arbeiterinnen helfen, viele Frauen sind
überfordert. Manche von ihnen sind nach
Jahren des Ausharrens so plötzlich aus
ihrem Leben geflohen, als konnten sie
es von einer Sekunde auf die andere nicht
mehr ertragen. Und stehen nun in einer
neuen Welt, als wären sie gerade erst
in sie gefallen. Sie kommen oft ohne jedes
Gepäck und ohne Ausweis, dann gehen
die Mitarbeiterinnen mit ihnen zurück
in ihre Wohnung, immer mit Polizei-
schutz.


Zimmer 9: Sie ist unterwegs, um ihre Kin-
der abzuholen. So hat es auch begonnen.
Im Anmeldeformular des Frauenhauses
steht, wie sie herkam: Sie hatte sich im
Kindergarten, beim Abholen, geweigert
zu gehen und gesagt, sie wolle mit ihren
Kindern keinesfalls wieder nach Hause.
Das Jugendamt holte sie ab und brachte
sie hierher.

Zimmer 12: Sie soll nicht rauchen. Sie soll
die Wäsche richtig sortieren, Kurzarm -
oberteile von Langarmoberteilen trennen
und Hosen nicht zu den T-Shirts legen.
Sie wischt den Boden nicht richtig, sie
benutzt zu viel Putzmittel. Die Kinder
schlafen zu spät und lernen nicht genug.
Sie ist nicht streng genug, die Kinder üben
nicht genug auf ihren Instrumenten, nicht
oft genug Diktat, nicht genug Mathe. Sie
soll netter sein zu Fremden, mehr reden,
mehr Freunde finden. Sie soll aufhören,
ihn immer zu blamieren. Soll besser im
Bett sein, am besten wie seine Exfreundin.
Sie wohnte in einem großen Haus, sagt
sie, er verdiente viel Geld. Sie kümmerte
sich um die Kinder. Er sagte: mein Haus,
meine Regeln.
Sie hat schon geraucht, als sie sich
kennenlernten. Anfangs kaufte er ihr Ziga -
retten. Später sagte er: Nikotin kann
Krankheiten übertragen, über die Finger-
nägel. Er sagte: Ich küsse keinen Aschen-
becher. Wenn sie rauchte, zog sie eine
Kapuze über die Haare und schnürte sie
so zu, dass nur Mund, Nase und Augen
rausschauten. Danach putzte sie die Zäh-
ne und schrubbte sich mit einer Bürste die
Hände. Die Kippen verschloss sie in einer
Kaugummidose. Sie sagt: Ich hatte ein
großes Haus mit Garten, aber keinen
Aschenbecher.
Sie steht auf der Straße vor dem Frau-
enhaus und raucht, Kapuze festgezurrt,
Kaugummibox in der Hand, als stünde sie
noch immer in ihrem Garten.
Sie sagt, jedes Mal, bevor er nach Hause
kam, sei sie durch das ganze Haus gelau-
fen, um Fehler zu suchen, sie habe sich al-
les angesehen und sich gefragt: Was habe
ich wohl heute falsch gemacht?
Wenn sie aus seiner Sicht etwas falsch
gemacht hatte, setzten sie sich ins Wohn-
zimmer und redeten drei, vier, fünf Stun-
den, Monologe voller Vorwürfe, bis sie
sagte, er habe recht.
Sie sei schon fünfmal gegangen. Drei-
mal, weil er sagte, sie solle gehen, er nahm
ihr vorher den Schlüssel und die EC-Karte
weg. Zweimal ist sie selbst geflohen. Wenn
sie nach ziellosem Herumirren wiederkam,
gab es keine Versöhnung, er habe sie im-
mer so behandelt, als ob sie nur kurz zum
Einkaufen gewesen sei.
Sie sah zu, wie er die Tochter fragte:
Wie kannst du so dumm sein? Warum
passt du nicht auf in der Schule? Du hast

das doch gerade erst gemacht, wieso
machst du das wieder falsch? Ein kleines
Baby kann das besser als du. Schau mal,
dein kleiner Bruder macht es perfekt.
Das Mädchen kaute den Tintenfüller ka-
putt, brach Bleistifte durch.
Sie sind seit 13 Jahren verheiratet, seit
zwei Wochen ist sie mit ihren Kindern hier.
Die beiden sind ab und an bei ihm, im gro-
ßen Haus, wo alles schöner ist als im Frau-
enhaus, wo sie eigene Zimmer haben.
Wenn sie zurückkommen, sagen sie zu ihr:
Bei Papa ist es besser.
Am Ende sagt sie, es tue ihr leid, dass
sie so lange über sich geredet habe. Die
anderen Frauen hätten bestimmt schlim-
mere Geschichten zu erzählen. Ihr Mann
habe sie schließlich nie geschlagen.

Büro: In den Akten steht nur das Ende
der Geschichten. Fast keine der Frauen
kann sich mehr erinnern, was sie an ihrem
Mann mal geliebt hat.

Zimmer 20:Die Tochter türmt Legos auf,
im Spielzimmer des Hauses, das sie in -
zwischen in- und auswendig kennt. Sie ist
seit anderthalb Jahren hier, sie findet kei-
ne Wohnung. Sie sagt, sie habe das alles
hier so satt. Dass es kein anständiges
WLAN gibt, dass die Frauen kommen
und gehen und keine nach ihrem Ge-
schmack ist.
Als sie neu in der Stadt war, zeigte er
ihr im Vorbeifahren das Frauenhaus, er
kannte es, seine erste Frau war nach nur
wenigen Wochen hierher geflohen.
Sie war schnell schwanger, er in der Dau-
ernachtschicht. Wenn er morgens nach
Hause kam, begann er zu trinken.
Sie sagt, alles habe mit diesem Café an-
gefangen. Er habe immer gesagt, er wolle
da Fußball schauen. Sie habe lange nicht
verstanden, was das ist: Tipico, Sportwet-
ten. Er habe manchmal in einer Woche
4000 Euro verspielt. Sie war schwanger,
als er das erste Mal zuschlug.
Ihre Schwiegermutter habe ihr immer
gesagt: Sei doch leise. Du hast doch alles.
Halt das aus.
Die Locken, sagt sie, habe die Tochter
vom Vater geerbt.

Büro: Besonders die, die wenig Deutsch
sprechen, hätten es schwer. In Frauenhäu-
sern sei der Anteil an Ausländerinnen
hoch, höher als in den Gewaltstatistiken,
sagt eine Mitarbeiterin. Das liege daran,
dass die Frauen, die in Deutschland auf -
gewachsen sind, ein stabileres Netz haben
und auf die allerletzte Möglichkeit, Frau-
enhaus, seltener angewiesen sind.
Sie nehmen die Geschichten und die
Frauen hier, wie sie sind. Das Haus ist ein
Ort, an dem man sich nicht rechtfertigen
muss. Das sei nicht immer leicht. Es gibt
Frauen, die es hier nicht aushalten und zu-

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