Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

Clemm: Vor allem verschleierte Muslimin-
nen werden überall diskriminiert, der
Gerichtssaal ist keine Ausnahme. Einige
Richter scheinen zu glauben, dass das alles
unterdrückte Frauen sind, die an ihrer
Situation eine Mitschuld tragen. Wenn
eine Frau im Verlauf des Verfahrens ent-
scheidet, kein Kopftuch mehr zu tragen,
bewertet das Gericht das andererseits als
besonders positiv. Die habe sich super ent-
wickelt, heißt es dann, weil es ins rassisti-
sche Klischee passt.
SPIEGEL:Und die muslimischen Täter?
Clemm:Mal wird der prügelnde Mann mil-
der bestraft, weil er das in seinem Kultur-
kreis angeblich so gelernt habe. Ein ande-
res Mal fällt die Strafe besonders hart aus,
weil er eine nicht muslimische Frau ge-
schlagen hat und damit das Gastrecht miss-
braucht habe.
SPIEGEL:Warum kehren einige Frauen zu
ihren schlagenden Partnern zurück?
Clemm: Viele wollen sich nicht trennen.
Immer wieder höre ich: »Das war die Lie-
be meines Lebens. Ich würde gerne mit
ihm zusammenbleiben, wenn er sich nur
ändern würde.« Manchmal, selten, wird
es nach einer Verurteilung tatsächlich bes-
ser. Dafür muss der Täter allerdings viel
tun, sich auf Therapien oder Antigewalt-
trainings einlassen. Andere Frauen flüch-
ten zu Freunden oder in ein Frauenhaus,
finden danach aber oft weder eine neue
Wohnung noch Arbeit oder einen Kita-
platz für das Kind – und müssen deshalb
zurückkehren.
SPIEGEL:2018 wurden in Deutschland
laut Bundeskriminalamt 122 Frauen von
ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet.
Wirkt das Gewaltschutzgesetz nicht?
Clemm:Das Gesetz hilft nur, wenn man
den potenziellen Täter damit erreicht. Es
gibt Männer, die lauern ihren Ex-Partne-
rinnen trotz Kontaktverbot ständig auf,
beim Bäcker oder auf dem Spielplatz, und
zahlen einfach für jeden Verstoß. Auch Ge-
fährderansprachen greifen nicht immer.
Die Justiz erkennt oft nicht, wie gefährlich
die Situation für eine Frau sein kann, die
sich trennt. So kommt es immer wieder
zu Tötungsdelikten.
SPIEGEL:Warum töten Männer ihre Part-
nerinnen oder Ex-Partnerinnen über-
haupt?
Clemm: Weil sie eifersüchtig sind und die
Schmach nicht ertragen, dass die Frau sich
trennt. Es geht dabei um männlichen Be-
sitzanspruch auf die Frau und um Macht-
verlust. Die Zurückweisung durch Frauen
hat aber auch eine weitere gesellschaftliche
Dimension. Sie ist ein wiederkehrender
Bestandteil rechtsextremer Ideologie. Der
Attentäter von Hanau widmete den Frau-
en im Allgemeinen und seiner Beziehungs-
losigkeit im Speziellen ein eigenes Kapitel
in seinem Manifest, Stephan B. aus Halle
machte den Feminismus für den Gebur-


tenrückgang im Westen verantwortlich
und glaubte, er habe keine Chancen bei
Frauen, weil Ausländer sie ihm wegnäh-
men. Auch darüber müssen wir als Gesell-
schaft reden.
SPIEGEL:Unter anderem in Frankreich
und Italien haben im November Zehn -
tausende gegen Femizide demonstriert.
Warum passiert in Deutschland so we -
nig, obwohl die Zahlen hier nicht besser
sind?
Clemm: Die deutsche Kleinfamilie hat of-
fenbar immer noch eine große Wirkmäch-
tigkeit. Außerdem denken wir, wir wären
schon ach so weit. Dabei stimmt das gar
nicht. Ich habe an der Neuregelung des Se-
xualstrafrechts mitgewirkt und war er-
staunt, wie rückständig die deutschen Ge-
setze im europäischen Vergleich waren.
Wenn jemand einer anderen Person plötz-
lich zwischen die Beine griff, war das bei
uns bis zur Neuregelung normalerweise
nicht strafbar.
SPIEGEL:Vertreten Sie auch Männer?
Clemm:Bei sexuellem Missbrauch und ho-
mophoben Delikten vertrete ich viele
Männer und Jungs. Wegen häuslicher Ge-
walt kommen sie selten zu mir.
SPIEGEL:Vertreten Sie auch Männer, de-
nen Partnerschaftsgewalt oder eine Verge-
waltigung vorgeworfen wird?
Clemm:Nein.
SPIEGEL:Aus Prinzip?
Clemm:Manche hätten mich gerne als ihre
Anwältin, weil sie denken, das kommt vor
Gericht gut an. Ich vertrete Beschuldigte
bei solchen Vorwürfen grundsätzlich nicht

und suche mir genau aus, für wen ich ar-
beite, auf welcher Seite ich stehe.
SPIEGEL:Würden Sie eine Frau vertreten,
die beschuldigt wird, ihren Mann umge-
bracht zu haben?
Clemm:Ich würde eine Frau verteidigen,
der vorgeworfen wird, den sogenannten
Haustyrannen getötet zu haben. Wenn
eine Frau ihren Mann jahrelang misshan-
delt und dann umgebracht haben soll, wür-
de ich das Mandat ablehnen.
SPIEGEL:Wie kam es zu Ihrer Spezialisie-
rung als Opferanwältin?
Clemm:Ich war früh politisiert und in der
autonomen Frauenszene und der Antifa
aktiv. Ich möchte auf der Seite derer ste-
hen, die von geschlechtsspezifischer, ras-
sistischer und rechtsextremer Gewalt be-
troffen sind. Diese Menschen möchte ich
möglichst unbeschädigt durch Gerichtsver-
fahren begleiten, damit sie nicht so hilflos
sind, wie sie es während der Taten waren.
Deshalb habe ich Jura studiert.
SPIEGEL: Eine hypothetische Frage:
Nimmt die Gewalt von Frauen gegenüber
Männern zu, wenn unsere Gesellschaft im-
mer gleichberechtiger wird? Frauen sind
ja keine besseren Menschen.
Clemm:Eine solche Entwicklung gäbe
es womöglich, wenn deutlich mehr Frau-
en als Männer an der Macht wären, es
also wieder ein Ungleichgewicht gäbe. Ich
glaube, wirkliche Gleichberechtigung
führt zu weniger Gewalt.
Interview: Laura Backes
Mail: [email protected]

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 53


vorsätzliche einfache
Körperverletzung

davon
Opfer
durch:

Bedrohung,
Stalking,
Nötigung

gefährliche
Körper-
verletzung

sexuelle Übergriffe, sexuelle
Nötigung, Vergewaltigung

Mord und
Totschlag

sonstige
Straftaten:
139

3086 324


68482 28657 12093


1612


Frauen Männer
114393 26362

Opfer von Gewalt in Partnerschaften, 2018


Schutz vor häuslicher Gewalt


Quelle: Bundeskriminalamt

Schutzwohnungen
gibt es in
Deutschland.

350 6500 17400


Plätze stehen
dort zur
Verfügung.

Aufnahmen von Frauen
und 16 900 Aufnahmen
von Kindern gab es 2014.
Quellen: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Gleichstellungs- und Frauenministerkonferenz

Frauenhäuser
und

100


Freiheitsberaubung
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